Eine Geschichte von Persol

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Kabelkolb

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Eine Geschichte von Persol

Am Dienstag erhielt er einen Anruf. Um an das Telefon zu gelangen, musste er vom Schreibtisch aufstehen und quer durch das längliche Zimmer gehen; das Telefon steht in einer kleinen Wandnische, davor ein Stuhl. Der Mann, der sich am anderen Ende der Leitung meldete, wollte einen gewissen Persol sprechen. Er, der er auf dem Stuhl saß, kannte jedoch niemanden der so hieß; der Anrufer musste sich verwählt haben; musste die falsche Nummer zum richtigen Namen oder die richtige Nummer zum falschen Namen haben; musste sich einfach verwählt haben! Er legte auf, nachdem er dem Fremden gesagt hatte, dass es keinen Persol hier gibt.

Am nächsten Dienstag erhielt er einen Anruf. Da er neben dem Telefon auf dem Boden lag, die Decke anstarrte und vor sich hin träumte, nahm er den Anruf schneller als gewöhnlich entgegen. Am anderen Ende der Leitung war erneut ein Jemand der Persol sprechen wollte.
Wieder ein Anruf für Persol dachte sich der Mann, der sich jetzt auf den Stuhl gesetzt hatte; wieder eine Nachricht, die nicht zugestellt werden kann; wegen Namen und Nummer die nicht stimmen usw. Er sagte: Es gibt hier keinen Persol! und legte auf.
An diesem Abend konnte er nicht einschlafen; immer wieder überlegte er, warum zweimal hintereinander, etwa um die gleiche Zeit; des gleichen Tages, irgendwer bei ihm anruft, um nach jemand anderem zu fragen. Die resultierende Verwirrung war groß und so sah er am nächsten Morgen zermürbt aus, zermürbt vom vielen Nachdenken. Warum er sich überhaupt deswegen Gedanken macht? Er wusste es auch nicht, es war einfach seltsam; es war einfach nicht normal.

Am nächsten Dienstag erhielt er keinen Anruf. Er war enttäuscht. In der Nacht zuvor hatte er sich dazu entschlossen, sich beim nächsten Anruf als Persol auszugeben. Er hätte es getan, ja, ganz sicher; hätte man ihn gefragt, was denn mit seiner Stimme sei, er würde Geschichten von Husten und Schnupfen erzählen, würde dem Fremden schon weiß machen, dass er Persol ist usw. Ja, er hatte beschlossen in die Rolle Persols zu schlüpfen und der Welt etwas vorzuspielen.

Es hatte nicht geklappt.

Kein Anruf.

Am nächsten Dienstag war alles wie gehabt; alles wie vor dem ersten der beiden Anrufe, die ihn seit dem nicht mehr in Ruhe lassen; sie rauben ihm den Schlaf und dadurch die Konzentration, die er bräuchte. Es zieht ihn nicht mehr hinaus. Er wartet zu Hause am Telefon, stets bereit, Persol zu werden; noch in diesem Moment, wenn es sein muss für immer.

Das ist sein Problem: Er ist Persol!

Wenn in Zukunft Fremde anrufen, um nach Persol zu fragen, dann können sie ihn sprechen, können ihn über Dinge ausfragen, die er als persönlich einstuft; ja, vielleicht können sie ihn sogar kennen; kennen lernen, den Persol, der zu Hause auf den Anruf wartet, der bestätigt, dass er lebt.
 
D

Daktari

Gast
nicht schlecht

Dafür daß es keinen wirklichen Zielpunkt in der Geschichte gibt, ist der Text nicht schlecht.

Ciao Tim
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
also

ich empfinde den text als überaus anrührend. habe richtig gänsehaut bekommen. dein armer prot ist sooo einsam! ich möchte ihn direkt an mein herz drücken und zu trösten versuchen.
ganz lieb grüßt
 



 
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