Eine halbe Stunde Hoffnung

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Fellmuthow

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Eine halbe Stunde Hoffnung
Fellmuthow, im Januar 2002

In einer Imbissstube sitzt sie mir gegenüber - am Nachbartisch. Eine Frau, deren kantiges, zerfurchtes Gesicht auf ein nicht einfaches Leben hindeutet. Weißgraues, wirres, schon gelichtetes Haar umgibt ihr Haupt wie ein Strahlenkranz. Spitz spießt ihre Nase zwischen den Gläsern der Brille hervor, läuft auf ihrer Stirn in zwei tief eingegrabene Furchen aus. Kurzsichtig, die Hornbrille auf der Nasenspitze balancierend, neigt sie sich tief über einen Stapel bunter Blätter. Erst mit ihrem Zeigefinger darauf tippend, sie dann vor sich hin murmelnd, vergleicht sie, ganz in ihr Tun versunken, Bingozahlen mit der Glückszahl, die in der neben ihr liegenden Zeitung stehen muss.
Von ihr geht eine wunderbare Faszination aus, die mich zum Hinschauen zwingt. Vielleicht ist es unabwendbare Armut, die sie dazu gebracht hat, alles Hoffen auf diese, wenn auch nur winzige Chance zu setzen. Wenigstens deutet ihre Kleidung und der kleine Teller Eintopf, den sie sich zu Mittag geleistet hat, darauf hin.
In immer gleich bleibendem Rhythmus gleitet ihr Finger von Zahl zu Zahl, verharrt einen Augenblick, rückt dann zur nächsten, unermüdlich, ohne Pause. Sie muss gespürt haben dass ich sie beobachte, blickt auf, schaut zu mir herüber. Hinter der Hornbrille glimmen dunkelbraune Lichter. Ihr schmaler Mund ist verkniffen, verrät Missmut wegen der Störung, Abwehr. Nur einen Moment dauert das Fixieren, dann verlischt das Glimmen ihrer Augen. Sie wendet sich erneut ihren Zahlen zu.
Wieder, erst mit dem Finger darauf tippend, sie dann leise vor sich hin murmelnd hofft sie wohl irgendwann einmal diejenige zu entdecken, die ihr den ersehnten Gewinn verspricht. Eine halbe Stunde lang gibt sie sich andachtsvoll dieser, ihr noch verbliebenen Hoffnung hin.
Ich wünsche ihr von ganzem Herzen Glück, hoffe darauf, dass sie aufjubelt, warte geradezu darauf - vergebens! Die letzte Zahl ist verglichen, das letzte Blatt beiseite gelegt. Auch diesmal, wie sicher schon oft, ist die kurze Zeit des Hoffens vorüber, ohne ihr das ersehnte Glück gebracht zu haben.
Sie hebt den Blick. Ihr Gesicht scheint noch kantiger geworden zu sein. Sie presst die Lippen, lässt ihre Schultern hängen. Doch die Enttäuschung währt nur kurze Zeit, dann rafft sie sich auf. Sie lächelt, verstaut die Hoffnungsblätter in ihrer Tasche, und geht.
Sinnend blicke ich ihr nach. Wird sie verzagen? Nein, so sieht sie nicht aus. Warum auch? Braucht sie doch nur kurze Zeit zu warten, bis die nächste Ziehung ihr die nächste halbe Stunde Hoffnung schenkt.
 



 
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