Engel vor Gericht

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Lambertus

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Die violett leuchtende Abendröte verriet es: Das Engel-Gericht tagte. Oberrichter Saturnatos erschien, begleitet von Mona Luna, der Protokollführerin. Ehrfurchtsvoll verneigten sich Staatsanwalt Galaxios und die ganz in Weiß gekleidete Geschworenenschar. Auf der Anklagebank saß mit einem Gesicht ratloser Schuldlosigkeit der Engel Empaticus mit seiner grimmig dreinblickenden, struwweligen Verteidigerin Promethina, welcher der Ruf vorausging, eine besonders engagierte und feurige Anwältin zu sein. „Ich beantrage, das Verfahren gegen meinen Mandanten einzustellen!“ rief sie gleich dem ehrwürdigen Richter Saturnatos entgegen.

„Gemach. Zunächst hat der Staatsanwalt das Wort. Was wird dem Angeklagten Engel Empaticus denn vorgeworfen?“

„Hohes Gericht,“ begann der Anklagevertreter, nahm die schwere Akte zur Hand und rückte seine Brille zurecht. „Dem Engel Empaticus wird vorgeworfen, sich unzulässig in die auf dem Planet Erde hausende Population der Menschen eingemischt zu haben. In grenzenloser Anmaßung hat er mehrmals Schicksal gespielt, statt dem freien Willen der Menschen seinen Lauf zu lassen, wie es unser aller Schöpfer vorschreibt. So hat er eigenmächtig eine Regenwolke umgeleitet, um dem Bauern Knuffel die Getreideernte zu retten und billigend in Kauf genommen, dass beim Ehepaar Müller der Keller voll Wasser lief. In einem anderen Fall suggerierte er der aus Liebeskummer lebensmüden Juanita so viele positiven Gedanken, dass diese schließlich die bereit gelegten Tabletten nicht schluckte und Monate später mit einem anderen Mann den Bund der Ehe schloss, - mit einem Mann, den der Angeklagte für die arme Juanita selber auswählte. Ein klarer Verstoß nach Paragraph 71a. Damit noch nicht genug! Er ließ den Postbediensteten Rippeler über eine Teppichfalte stolpern, als er gerade mit einem Küchenmesser auf seine untreue Frau einstechen wollte. Dadurch konnte der Mann sein Vorhaben nicht ausführen, zumal er sich beim Sturz auch noch den Arm brach.“

Hastig sprang Anwätin Promethina auf, so dass ihr Flatterhaar fast ihr Gesicht verdeckte. „Das alles waren gute Taten zum Segen der Menschheit!“ rief sie wütend. „Und dafür steht hier mein Mandant vor Gericht!? Ein Skandal ist das!“

„Frau Kollegin, ich rufe Sie zur Ordnung!“ erwiderte Richter Saturnatos streng. „Der Begriff ‚Skandal’ gehört nicht zu unserem Sprachgebrauch. Fahren Sie fort, Herr Staatsanwalt.“

„Hohes Gericht! Leider gibt es noch weitere Fälle von unerlaubten Eingriffen in die autonome Welt der Menschen, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte, da sie alle in den Akten vermerkt sind. Ein Mysterium bedarf allerdings noch der Klärung: Warum verbrachte der Angeklagte seit Wochen jede Nacht unter dem Bett der Balletteuse Janine? – Warum suchte er zudem tagsüber ständig ihre Nähe?“

„Mein Gott!“ Die Verteidigerin raufte sich die Haare. „Mein Mandant war verliebt. Ist das ein Verbrechen?!“

Richter Saturnatos verhängte augenblicklich eine Ordnungsstrafe gegen die Anwältin. Ausfälle wie „Mein Gott!“ könne er als grobe Lästerung nicht zulassen. Außerdem gehörten Begriffe wie „verlieben“ und „Verbrechen“ nicht zum Sprachgebrauch im Reich der Engel. Mona Luna. die Schriftführerin, machte fleißig Notizen fürs Protokoll, ließ sich dazu jedoch das Wort „verlieben“ buchstabieren und erklären, wobei ihr engel-blasses Gesicht leicht errötete. „Angeklagter,“ fuhr er dann fort, „was haben Sie zum Sachverhalt vorzubringen?“

Empaticus erhob sich, verschränkte die Hände vor dem Bauch und antwortete leise gesenkten Hauptes: „Ich war neugierig ob des Treibens der Menschen, das ich mir nicht erklären konnte und das mich dennoch faszinierte. Ich sah diese wunderbaren Wesen in ihrer zauberhaften Welt. Sah ihre Intelligenz, spürte ihre Freiheit, hörte ihre Musik, las so viel Hehres von ihren Dichtern und Denkern. Und ich verstand nicht, warum diese Wesen nicht glücklich waren. Warum sie stattdessen logen und betrogen, sich gegenseitig töteten, ihre Welt zerstörten. Warum sie große Häuser bauten, um zu Gott um Vergebung zu beten für Missetaten, die sie selber begingen und weiterhin begehen würden. Ich sah, dass sich Menschenvölker ihren eigenen Gott schufen, um in dessen Namen Andersgläubige zu morden. Ich sah weinende Kinder, die Hunger litten. Ich sah Berge von Lebensmittel, die niemand wollte und die vernichtet wurden. Ich versuchte, über all das nachzudenken und spürte, dass in mir alles durcheinander geriet. Ich begriff, was die Menschen meinten, wenn sie von Wahnsinn sprachen.“

„Dieser Wahnsinn ist offenbar ansteckend,“ knurrte Galaxius, der Ankläger. „Sie fühlten sich veranlasst, aktiv ins Menschenchaos einzugreifen und vergaßen immer mehr, dass Sie nur ein einfacher Engel sind.“

Promethina schlug mit der Faust auf den Tisch. „Herr Staatsanwalt, hätten Sie ein paar Semester länger studiert, dann wüssten Sie, dass Engel für alle Menschen solche Wesen sind, die ihnen in höchster Not beistehen und ihnen helfen. Nichts anderes tat mein Mandant. Er hat sich als wahrer Engel betätigt. Wir sollten stolz auf ihn sein!“

Richter Saturnatos beendete den Streit mit ein paar Hammerschlägen auf sein Pult und bat die Anwälte um ihre Plädoyers. Beide beharrten auf ihren Standpunkten. Während Promethina eindeutig Freispruch forderte, verlangte der Staatsanwalt eine drastische Strafe: „Ich beantrage, den Angeklagten zu verurteilen, nie wieder das Sonnensystem zu besuchen, um ihn von der verführerischen Erde und somit von den Menschen auf immer fern zu halten.“

Das Gericht zog sich zur Beratung zurück.

Dann das Urteil: „Dem Engel Empaticus wird untersagt, sich in Angelegenheiten menschlichen Tun und Lassens einzumischen. Denn es steht Engeln nicht zu, in Bewährungsproben, die unser aller Schöpfer den Menschen auferlegt, einzugreifen. Genau das aber hat der Angeklagte getan und vor Gericht weder Einsicht noch Reue gezeigt. Um ihm die Augen zu öffnen, wird seine Engelsgestalt mit einem Schatten belegt, der sichtbar sein wird für alle Menschen. Die Sitzung ist geschlossen.“

Der Staatsanwalt knurrte unwirsch; ihm war das Urteil zu milde. Protokollführerin Mona Luna warf dem Verurteilten einen mitleidvollen Blick zu. Sie schien zu ahnen, was dieses Urteil bedeutete. Promethina polterte gleich los, dass sie gegen dieses Urteil Revision einlegen werde. Empaticus hingegen verstand die Aufregung nicht: Wenn ihn die Menschen künftig sehen konnten – wenn auch nur seinen Schatten -, dann käme er doch viel leichter und inniger mit ihnen in Kontakt. Also lächelte er verschmitzt und sah den Richterspruch positiv.

Tage später geschah etwas, das ihm Rätsel aufgab. Er besuchte spät am Abend die wunderschöne Balletteuse Janine, wie er es früher immer gern getan hatte. Doch plötzlich schrie Janine in panischem Entsetzen auf. Denn da bewegte sich lautlos der Schatten einer Hexe über die Wand, stieg langsam auf zur Decke und wurde dabei bedrohlich größer und größer. Janine schlug wild um sich, strampelte abwehrend mit den Beinen. Als sie schließlich das Telefon zu fassen bekam, wählte sie die Nummer der Polizei. Staunend bemerkte der Engel Empaticus, wie mit Sirenengeheul Autos vorfuhren und wie nach einiger Zeit weißgekleidete Männer die arme, völlig verstörte Janine wegbrachten.

Am anderen Morgen saß er bekümmert auf einer Bank. Schulkinder kamen vorbei, blieben plötzlich stehen und kicherten. Dann trampelten sie jauchzend auf seinem Schatten herum. „Welch freundliche Kinder,“ dachte Empaticus und erhob sich. Da wurde sein Schatten riesig groß, und die Kinder erschraken. Schreiend liefen sie davon.

Dann war da die alte Frau, die mit ihrem Gehstock vom Einkaufen kam und ihre Geldbörse verlor. Empaticus wollte die Dame darauf aufmerksam machen, ließ klirrend eine Scheibe zerspringen. Die Dame wandte sich um, sah ihre Geldbörse auf dem Pflaster liegen und ... schrie auf, verlor ihren Stock, lief, stolperte und stürzte.

Unzählige Erlebnisse dieser Art machten Empaticus immer trauriger. In seiner Verzweifelung versteckte er sich schließlich vor den Menschen und sann weiter über sie nach. Diese Wesen besaßen offenbar etwas, das ihm und allen Engeln fremd war: das Böse. Sie dachten Böses, sie taten Böses, und wenn sie mal Gutes taten, hatten sie Angst vor dem Bösen. Nein, glücklich mochte er die Menschen nicht mehr schätzen.

Aber auch sein eigenes Schicksal bekümmerte ihn. Der Schatten an ihm ließ ihn freudlos werden, und er dachte schließlich: „Ihr Menschen habt das Glück, eines Tages sterben zu müssen. Ich aber muss meine Bürde auf ewig tragen.“

Zum Glück aber gab es da immer noch die feurige Verteidigerin Promethina. Ihr Revisionsantrag wurde zwar verhandelt, aber dann doch abgelehnt. Nun blieb nur noch eines übrig: ein Gnadengesuch an Petrus. Dessen Briefkasten quoll bekanntlich ständig über. Mit einer Entscheidung war also so bald nicht zu rechnen. Doch was bedeutet schon Zeit im Reich der Engel?

Eines Tages, als niemand mehr damit rechnete, kam in goldener Schrift die weise Verfügung der höchsten Instanz: „Der Engel Empaticus ist mit sofortiger Wirkung von seinem Schatten zu befreien. Denn wer einmal fehlte, dem darf nicht auf ewige Zeit ein Schatten anhängen.“

© Kurt Mühle - 11/2004
 

Ivy

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Hallo Lambertus!

Einfach nur göttlich, Dein "Engelsgericht"!

Humorvoll, flüssig zu lesen und soweit ich nach einem Mal (Der Geschichte wegen) lesen, beurteilen kann, auch fehlerfrei!

Danke für diese gute Unterhaltung am Sonntag-Abend!

lol
IVY
 

Wolkenreiter

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Hallo Lambertus
Da sieht man's wieder: Engel sind auch nur Menschen. Gute Idee, die Du auch noch überzeugend umgesetzt hast.
Wolkenreiter
 
Hallo Lambertus!

Im Großen und Ganzen fand ich die Idee des Schattens als Strafe gut umgesetzt. Das die Idee nicht wirklich neu ist, da ein Schatten oft als Sinnbild der Seele dient und bei vielen Autoren aus der Romantik auftaucht, sei einmal dahingestellt.
Aber die Umsetzung war gut und attraktiv zu lesen. Und nur darauf kommt es an, nicht wahr?
Das einzige, was mir ein wenig gefehlt hat, war die Erklärung, warum sein Schatten ein furchtbares Monster ist. Ist es, weil Engel so schlimm aussehen, oder weil die Menschen nicht mit einem Schatten ohne dazugehörender Gestalt rechnen?
Ansonsten: Ist mir aufgefallen, dass Petrus ja eigentlich nicht die höchste, sondern "nur" die nächsthöchste Instanz ist, oder?

Fazit: Eine nette gut überlegte Geschichte,
Jenni
 



 
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