Erdbebenwasser

3,50 Stern(e) 2 Bewertungen
Natasha fürchtet sich vor nichts, außer vor Horrorfilmen, Mäusen, österreichischen Kabarettfilmen, Laufmaschen, Sektkorkenknall, Finanzamt und dem Altwerden. Seit neuestem ist die Furcht vor Erdbeben hinzugekommen. Die Gegend um San Francisco, muß man nämlich wissen, ist eine Erdbebenzone. Alle paar Jahre schüttelt sich der Boden, Häuser stürzen ein, Feuer bricht aus, Autos parken falsch, Gasleitungen explodieren, Eichhörnchen fallen von den Bäumen, Plünderungen beginnen, kurzum: es passiert alles, was zu so einem Erdbeben dazu gehört.

Wir hatten das natürlich längst verdrängt, als sich kürzlich in unserer Post ein Schreiben der örtlichen Gemeindeverwaltung fand, das uns auf die möglichen Gefahren eines Erdbebens hinwies. Natasha verschlang Seite für Seite des liebevoll dramaturgisch und graphisch anschaulich aufbereiteten Heftes mit immer unruhiger werdenden Blicken. An der letzte Seite angekommen rief sie atemlos: „Wir müssen uns auf ein Erdbeben vorbereiten“. Sie hielt mir eine Notfallsliste mit überlebenswichtigen Gegenständen, die man für den Fall der Fälle bereithalten sollte, vor die Augen. Angefangen von Knäckebrot, gefüllten Konservendosen, Soundsoviel Kanister Wasser pro Person und Tag, über Bargeld, Taschenlampen, Batterien, Batterieradio, Kohlengrill bis hin zu Schußwaffen, Kondomen und Wohnwagen reichte die Aufzählung.

Ehe ich mich’s versah, hatte Natasha die hintere Sitzbank ausgebaut, mich ins Auto verfrachtet und den nächsten Supermarkt angesteuert. Es galt keine Zeit zu verlieren, immerhin pflegt sich solch ein Erdbeben nicht einfach telephonisch anzumelden, sondern erscheint so unerwartet wie eine Schwiegermutter. Wobei Erdbeben bekannterweise harmloser sind.

Es schien, als ob die ganze Nachbarschaft das Schreiben der Gemeindeverwaltung erhalten und sich zu Herzen genommen hatte. Der Verkehr in den Strassen um den Supermarkt war bereits zusammengebrochen. An ein Weiterkommen war nicht zu denken. Wir ließen den Wagen stehen und liefen mit einigen anderen Autofahrern zu Fuß zwischen den wild geparkten Autos zum Supermarkt vor. Natasha hatte einen noch freien Einkaufswagen erblickt, als ein untersetzter Glatzkopf mit wildem Blick ebenfalls gierig nach ihm haschte. Gerade rechtzeitig klammerte ich mich an seinen Beinen fest und brachte ihn zu Fall. Natasha nutzte den Überraschungseffekt, um den Einkaufswagen in ihren Besitz zu bringen. Ich ließ den wimmernden Glatzkopf am Boden liegen und folgte Natasha, die sich bereits zielstrebig in das Getümmel gestürzt hatte.

Noch versuchten die Supermarktangestellten Ordnung zu halten, aber schließlich wurden sie von der Übermacht ergriffen und ins Innere gespült. Natasha und ich bahnten uns die Wege zwischen den vollgestopften Regalgängen und luden Konservendosen hier, Wasserkanister dort und Munition am Regalende auf. Während sich Natasha noch einige Säcke mit Grillkohle und ein paar Kaviargläser schnappte, robbte ich zwischen den Einkaufswagen zu den Flammenwerfern.
Einige nicht weiter nennenswerte und mit Hilfe meines Flammenwerfer gütlich geregelte Zwischenfälle später war die Notfallsliste abgearbeitet. Die Fahrt nach Hause verlief ruhig, abgesehen vom Jammern des irrtümlich in den Kofferraum mitverstauten Supermarktkassiers.

Zu Hause stapelten wir die Notfallsausrüstung bis unters Dach. Im Schlafzimmer befanden sich die Wasserkanister und Knäckebrotpackungen, in der Küche die Konserven und Batterien, im Bad die vierzig Packungen Shampoo, Zahnpasta und das Radio, und das Wohnzimmer hatte keinen Platz mehr, wegen der fünf Tonnen Kohlesäcke. Zwar konnte wir nicht mehr ins Haus und mußten im Garten im Zelt schlafen, aber uns beruhigte der Gedanke, daß wir gut auf ein Erdbeben vorbereitet waren. Es würde uns nicht mehr so einfach obdachlos machen.
 

arle

Mitglied
flammarion

Das finde ich gar nicht. Zumal es weniger um dieses wirklich tragische Thema geht als um die Absurdität und Hilflosigkeit, in der der Mensch immer noch glaubt, sich vor Katastrophen jeglicher Art schützen zu können.

Mir fällt kaum eine andere Möglichkeit ein als dieser ausgezeichnet geschriebene Galgenhumor, mit der man sich dieses Themas annehmen könnte.

Liebe Grüße
 

arle

Mitglied
PS:

Und nun lese ich auch noch, dass Marius in San Francisco lebt, ganz dicht am Geschehen, also mehr als jeder andere in der Lage ist, die Ereignisse zu beurteilen.
 
M

Melusine

Gast
Hallo Marius, flammarion und arle:

Ich schließ mich arle an: Ich find's eigentlich nicht zynisch. Zynisch wäre es für mich dann, wenn Marius es als Reaktion auf ein Erdbeben geschrieben hätte, aber ich denke so war es doch wohl nicht gemeint.
Mich erinnert es ein bisschen an Kishon - einer meiner Lieblingsschriftsteller.

Marius, ein wenig weckt der Titel allerdings bei mir die Assoziation an den Zunami vorige Weihnachten. Falls das beabsichtigt war, würde auch ich das für zynisch halten. Ich denke die Geschichte würde mit einem anderen Titel auch funktionieren.

LG Melusine
 
Zum Text: Ich schrieb es als Vorbereitung auf ein Erdbeben, genauso, wie man z.B. in Österreich sich auf Regen oder Muren vorbereitet. Ich hätte es nicht als Antwort auf ein ereignetes Erdbeben geschrieben.
Aussage soll jedenfalls sein, dass übertriebene Panikmache denselben Effekt (oder schlimmer) haben kann, wie eine Naturkatastrophe selbst. In dieser Satire selbst passiert ja nix Schlimmes, ausser dass die beiden Protagonisten ihr Haus selbst unbewohnbar machen.

Zum Titel: Tatsächlich nennen wir hier das als Reserve angelegte Wasser umgangssprachlich "Erdbebenwasser" (also nicht nur eine Übersetzung, sondern von den deutschsprachigen hier in Kalifornien - und da gibt es einige - so benutzt). Insofern will ich den Titel lassen, weil es eine eher ungebräuchliche Wortkreation ist.

Marius
 
M

Melusine

Gast
Tatsächlich nennen wir hier das als Reserve angelegte Wasser umgangssprachlich "Erdbebenwasser" (...) Insofern will ich den Titel lassen, weil es eine eher ungebräuchliche Wortkreation ist.
Ach so. Das wusste ich nicht. Für mich ging es eigentlich auch nicht aus deinem Text hervor, aber vielleicht sitze ich ja auf der Leitung :)
Ja, stimmt, die Wortkreation ist sehr eigenwillig. Ich dachte es wäre deine eigene.


In deiner Satire passiert nichts Schlimmes? Na ich weiß nicht - ich hätte gedacht dass es da im Supermarkt bestimmt zumindest ein paar Verletzte gab, vielleicht sogar jemand totgetrampelt wurde...? Schreibst du nicht, klar. Ich dachte es mir nur, so wie es da zugeht mit Schlägereien und Panik.
Vielleicht hat auch der Flammenwerfer eine starke Gewaltassoziation bei mir ausgelöst. Ich hab da eine Szene aus einem bitterbösen satirischen Roman (Karin Duve: Regenroman) im Kopf, bei der mir fast schlecht wurde.

LGM
 

NewDawnK

Mitglied
Hallo Marius,

mir gefällt vor allem der Spannungsbogen sehr gut.
Besonders zynisch finde ich den Text auch nicht, denn er erinnert mich in weiten Teilen an mein eigenes Y2K Problem.
Ein bisschen irritiert hat mich der Name Natasha, weil er so unamerikanisch klingt - aber vielleicht ist gerade das ja gewollt!?
An der Stelle, wo der Supermarktkassierer im Kofferraum verstaut wird, blitzt sehr schön Dein Humor durch. Nur sein Verbleib ist ein Rätsel, das Du vielleicht noch hättest lösen können... der Text macht auch insofern recht nachdenklich.

Schöne Grüße,
NDK
 
Danke für Deinen Kommentar. Die Bay Area (also die Gegend um San Francisco), wie generell Kalifornien, ist ein grosses Einwanderungsland. 30% der Einwohner wurden nicht in den USA geboren. So ist es also nicht verwunderlich, wenn meine Freundin Natasha aus Moskau stammt und ich aus Wien (in meinen anderen Geschichten erwähne ich ein paar Mal, dass Natasha aus Russland ist).

Genau diese Mischung und Entspanntheit der Kulturen nebeneinander (Inder, Chinesen, Europäer, Amerikaner, Mexikaner,...) macht den gewissen Reiz aus, hier zu leben und bedeutet reiches Material für humoristische Situationen.

Marius
 



 
Oben Unten