Erinnerungen eines Kriegers

HerrK

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Es ist so weit! Die letzte Schlacht naht und ich setze mich nieder, um meiner Nachwelt zu erzählen, welche Kämpfe ich zu fechten hatte, bevor ich noch ein Mal alle Kraft, die ich in mir trage gegen den Feind einsetzen werde. Seit jetzt schon einem geschlagenen Monat werde ich in meiner eigenen Wohnung bekämpft und auch wenn der Feind schwach erscheinen mag, Überzahl und Ausdauer drohten mehr als einmal mich in die Knie zu zwingen. Tag ein Tag aus, egal, ob ich schlafe, lese, esse oder meinen Morgengang ins Bad antrete, immer ist es, als würde ich von einem Schwadron von Kamikaze-Fliegern umzingelt sein, die nur auf den passenden unachtsamen Augenblick warten, um sich mir ins Fleisch zu bohren.
In Anbetracht dieser verheerenden Umstände scheint es schwer vorstellbar, dass alles eigentlich vollkommen harmlos begann, ja, ich mich nicht einmal mehr wirklich daran erinnern kann, wie ich zum Feind im eigenen Heim wurde. Ich glaube alles nahm seinen Anfang in einer Mandarine, die ich in einem Korb auf dem Regal vergessen hatte, vielleicht war es auch ein Apfel, egal, wichtig sind allein die Folgen, die dieser winzige Fehler hatte. Eines Abends, kurz bevor ich das Licht ausmachen wollte, um mich schlafen zu legen und Kraft für den nächsten Tag zu sammeln erblickte ich sie das erste Mal. Es war ein winziges Geschöpf, ich hätte es vermutlich gar nicht bemerkt, wäre es nicht im Gegenlicht der Deckenlampe geflogen, auf die ich ja gerade mein Augenmerk richtete, ein kleines Wesen, kleiner als ein Stecknadelkopf, mit Flügeln und einem kaum auszumachenden Körper. „Eine Fliege, na und?“, werden sich die meisten denken und genau das tat auch ich. Ich knipste das Licht aus, legte mich ins Bett und schenkte dem Tierchen keine Beachtung mehr. Wie konnte ich nur so naiv sein! Was würde ich nicht geben, um zu diesem Augenblick zurück zu kehren, nach einer Zeitung zu greifen und der Fliege den Garaus zu machen! Jedes Mal, wenn ich zurückdenke, an diese Unbedachtheit und falsche Gutmütigkeit mit der ich damals den Grundstein meines eigenen Untergangs legte, erfasst mich ein frostiger Schauer.


Als ich am nächsten Tag vom Büro nach Hause kam war die Fliege vollkommen aus meinem Kopf verschwunden und als ich, wie an jedem Arbeitstag die Wohnungstür aufsperrte und mich auf einen ruhigen Abend freute, war ich gut gelaunt. Auch als ich dann sah, dass nunmehr nicht nur eine Fliege in der Luft war, sondern plötzlich drei, dachte ich mir nichts dabei, öffnete das Fenster, setzte mich vor den Fernseher und wartete darauf, dass die Fliegen ihren Weg nach außen finden würden. Dieses Verdrängen der Veränderung, die sich in meinem Leben einzustellen begann ging noch einige Tage weiter, es wurden mehr Fliegen, ich öffnete das Fenster und gelegentlich flog eines der Insekten hinaus. Doch auch bei einem gutmütigen Menschen wie mir erschöpft sich die Geduld nach einer Weile und als die Zahl der Tiere, die durch meine Wohnung schwirrten, eine zweistellige Zahl erreichte, begann ich zu begreifen, dass ich aktiv werden musste, wenn ich verhindern wollte, dass sich die Fliegen bei mir einnisteten.
Ich sah ein, dass das Ende meiner Appeasement-Politik gekommen war und zerschlug das erste Mal eines der Insekten zwischen meinen Händen. Als ich nach dem Klatschgeräusch deren Innenseiten betrachtete, sah ich den kleinen Körper auf einer Länge von zwei Zentimetern zerrieben und von einer winzigen Blutspur verfolgt. Beim Anblick meines Erfolges wurde mir schlagartig bewusst, dass ich den richtigen Weg eingeschlagen hatte, doch noch immer unterschätzte ich die Biester. Nachdem ich einige Tage die Insekten, die vor mir durch die Luft schwirrten erschlagen hatte, war deren Zahl nicht gesunken, nein, ich hatte eher das Gefühl, dass für jedes Tier, das ich erschlug zwei neue aus irgendwelchen finsteren Löchern krochen. Es war kaum noch möglich die Wohnung zu durchqueren ohne auf eines der Biester zu stoßen, überall hatten sie sich eingenistet, egal, ob im Bad, in der Küche, im Wohnzimmer oder auf dem Dachboden, die Fliegen gewannen immer stärker an Einfluss in meinem Territorium.
Eines Tages, als mir nach der Arbeit gleich zehn der Biester hinter der Tür auflauerten, entschloss ich mich dazu nach neuen Mitteln zu greifen, raste ins Bad und ging mit der Haarspraydose auf Jagd. Meine neue Methode war wesentlich effektiver als das altmodische Erschlagen und nach und nach stürzten immer mehr der Bestien mit verklebten Flügeln zu Boden, wo bereits mein Fuß angespannt darauf wartete, sie mit einem Tritt endgültig aus der Welt zu schaffen. Zunächst war ich sehr zufrieden mit den Erfolgen, die Zahl der Insekten nahm ab und ich ging meinem ganz normalen Leben nach.

Aber dann, eines Tages, als ich nach der Arbeit noch in eine Bar gegangen war, um ein Bier zu trinken, erwartete mich daheim eine böse Überraschung. Die Biester, die ich im Griff zu haben dachte, waren schlagartig mehr geworden, regelrechte Geschwader stürzten sich auf mich. Es war als ob sie ihre Kraft gesammelt hätten, um sich für die Haarsprayangriffe zu rächen. Ich rettete mich in mein Arbeitszimmer, schnappte mir unterwegs eine Deodose und ein Feuerzeug und begann im verriegelten Zimmer alle Bestien, die es zuvor schon hinein geschafft hatten auszurotten. Es war ein köstliches Gefühl der Befriedigung, zu sehen wie die kleinen Körper als Aschekörnchen auf den Teppichboden rieselten!
Doch ich hatte aus vergangenen Fehlern gelernt, dass vermeintliche Erfolge sich binnen kurzer Zeit als schöne Täuschung herausstellen konnten und so begann ich – statt mich vom Kampf auszuruhen – mehr über den Feind heraus zu finden. Ich setzte mich an meinen PC und las alles, was ich im Internet zum Thema Fliegenbekämpfung finden konnte. Als erster logischer Schritt erschien mir zusätzlich zum offenen Kampf Fallen in der Wohnung aufzustellen, die sich aus einfach Hausmitteln herstellen ließen. Nachdem ich mir den Weg zur Küche frei gesprüht hatte, machte ich mich sofort an die Arbeit. Ich wollte die unersättliche Gier der Tiere zu meinem Vorteil umkehren und stellte an strategisch günstigen Stellen Becken mit Apfelsaft oder anderen süßen Verlockungen auf. Doch gleich dem süßen Gesang der Sirenen steckte hinter meinen Schalen voller Obstsaft mehr, als der Genuss, den man im ersten blinden Moment wahrnimmt. Um die Feindesscharen einzudämmen gab ich noch Essig und etwas Spülmittel in meine Fallen. So würden die Viecher vom Saft angezogen werden, sich voller Geilheit in die Schüssel stürzen, das Spülmittel würde dafür sorgen, dass sie in die Tiefe gezogen werden und dort wartete der Essig bereits darauf das Übrige zu erledigen. Während der nächsten Tage ließ ich meine Fallen ihre Arbeit machen, während ich weiter, mal mit Haarspray, mal mit Deo und Feuerzeug, die Infanteriearbeit erledigte. Immer abends leerte ich die mit Leichen gefüllten Gefäße aus und setzte neue Fallen an. Ich erzielte beachtliche Erfolge, zumindest schien es so, denn feindliche Übergriffe wurden immer seltener und auch meine Fallen, zu denen sich inziwschen noch von der Decke hängende Klebestreifen gesellt hatten, hatten bald nicht mehr viel Arbeit. Doch wer jetzt denkt, dass der Sieg nahte, ist ein verblendeter Narr. Mit der Zeit hatte nicht nur ich dazu gelernt, nein, natürlich hatte auch der Feind an seiner Strategie gefeilt! Es war mir klar, dass er sich nur kurz zurückgezogen hatte, um bald brutal zuzuschlagen.
Zu dieser Zeit hatte ich kaum noch ruhige Augenblicke, ich lebte in ständiger Angst vor dem Angriff. Immer wieder sah ich im Augenwinkel eines der Biester, dass voller Hass auf mich zustürzte und dann im letzten Moment abdrehte, gerade so, als hätte es den Befehl, nicht im Alleingang anzugreifen. Mit diesem mulmigen Gefühl im Bauch schleppte ich mich weiter jeden Tag zur Arbeit und hatte beim Öffnen meiner Türe stets das Gefühl, eines Verurteilten, der nicht wusste ob sein Weg gleich aufs Schafott führt oder noch zum nächsten Verhör, das seinen unvermeidlichen Tod doch nur weiter herauszögern wird. Die Fliegen trieben mich fast in den Wahnsinn! Beinahe sehnte ich schon die Attacke herbei, nur um endlich Klarheit zu haben.

Als es dann tatsächlich so weit war, traf mich der Überfall dennoch völlig unvorbereitet. Ich schlief ausnahmsweise ruhig und fest, als ich spürte, wie sich fremde Wesen an meiner Haut zu schaffen machten. Es war wie das Hämmern von Millionen Tropfen, die als einzelne harmlos erscheinen und von denen man doch weiß, dass sie ganze Höhlen und Täler schaffen können. Als ich - plötzlich hellwach – die Augen aufriss, erblickte ich das pure Grauen. Tausende von Fliegen tosten durch mein Zimmer, tausende erbarmungslose Wesen, die nichts mehr wollten, als mich in meinem eigenen Haus zugrunde zu richten, tausende Bestien, die an Größe und Kraft gewonnen hatten, die nichts mehr gemein hatten, mit dem einen kleinen Tier, das voller einiger Zeit im Licht meiner Deckenlampe geflogen war. Hätte ich auch nur eine Minute länger geschlafen, wäre keine Hoffnung mehr gewesen! Voller Panik stürzte ich mich aus dem Zimmer in den Flur und schaffte es in meinem Schlafanzug durch die Haustür zu fliehen. Es war noch frühmorgens und ich sah keine Möglichkeit für mich, als in meinem Auto zu warten, dass die Zeit vergeht. Ich versuchte zunächst mich vom Schrecken des nächtlichen Überfalls zu erholen, schaltete sogar kurz das Radio an, wartete ob der Moderator etwas mitbekommen hatte von dem Krieg, der sich hier abspielte. Doch ich war natürlich alleine in meinem Kampf, im Radio kam nichts, nur alberner Gesang, der mich noch zu verspotten schien. Voller Erleichterung nahm ich wahr, wie die Uhr auf neun umsprang und ich mein Schicksal wieder in die Hand nehmen konnte. Noch war ich nicht bereit aufzugeben, die Feinde sollten meinen Zorn zu spüren bekommen! Ich fuhr zum nahegelegenen Baumarkt und begann mich für den Kampf zu rüsten. Nachdem die Bestien meinem Kampf Mann gegen Mann und auch meinen Fallen scheinbar erfolgreich ausgewichen waren, wehte der Wind nun aus einer anderen Richtung.
Die Zeit der chemischen Kampfmittel war gekommen! Nach und nach sammelten sich in meinem Wagen eine Atemmaske, eine Sprühvorrichtung und zwanzig Kanister mit Insektengift. Kaum gezahlt, hetzte ich zum Auto und fuhr zurück zum Schlachtfeld, wo der Feind in der Zwischenzeit mit seiner Zerstörung fortfuhr. Voller Heldenmut riss ich dort die Türe auf, die Atemmaske in meinem Gesicht, bereit, die widerlichen Viecher meinen mit Giftgas getränkten Zorn spüren zu lassen. Ich stürzte mich in die schwarze Flut, um mich sprühend und schreiend. Schon bald war der erste Kanister leer und ich eilte zum Wagen, um mich mit neuer Munition auszustatten. Das Gift leerte sich und die Feinde fielen. Zunächst. Vier Kanister später begann sich zwar langsam eine Schicht von eliminierten Truppen abzuzeichnen, aber noch immer war die Wohnung fest in Feindeshand. Alles wimmelte von flügelbesetzten, hässlichen Monstern. Ich legte eine kurze Pause im Auto ein, dann versprühte ich weiter mein Gift. Ich sprühte wie ein Besessener, mir vollkommen klar darüber, dass sich hier und jetzt mein Leben entschied.
Doch nichts half, mein Zuhause war fest in feindlicher Hand, es schien vollkommen egal, wie sehr ich mich anstrengte, die Monster wurden nicht weniger. Es war unmöglich mich auf die Couch zu setzen, mich in der Küche zu stärken oder sonst einer normalen Tätigkeit nachzugehen, überall hinderte mich eine brummende schwarze Wand. Wie blutete mir das Herz mein eigenes Reich auf solche Weise geschändet zu sehen und nichts ausrichten zu können! Mit Tränen in den Augen wandte ich der Zerstörung den Rücken zu. Vor der Türe stehend blickte ich über meine Schulter und erinnerte mich noch ein letztes Mal der guten Zeiten, die ich hier verbracht hatte, all der schönen Tage, zu denen ich nie würde zurückkehren können. Mein Leben lag mir als Scherben vor den Füßen, Scherben für die eine Heerschar von widerlichen Ungeheuern verantwortlich war, Scherben der Skulptur, die ich seit dreißig Jahren voller Hingabe gestaltet hatte.
Doch es war so weit, ich musste einsehen, dass ich nichts gegen die Bestien ausrichten konnte. Egal was ich versucht hatte und wie erfolgversprechend es im ersten Moment ausgesehen hatte, immer wieder gewann der Feind die Oberhand, trotze jetzt sogar meinem Giftgas. Es erschien mir geradezu lächerlich, dass ich geglaubt hatte, ich könnte mit bloßen Händen oder harmlosen Hilfsmittel wie Haarspray etwas gegen so erbarmungslose Mörder ausrichten. Nun hatte ich erkennen müssen, dass nicht ein Mal Gift noch etwas für mich tun konnte, dass der Tag meiner Niederlage gekommen war. Was war ich für ein Narr gewesen!


Diese Zeilen hinterlasse ich meiner Nachwelt, um zu erklären, was mich zu meinem letzten Schritt bewegt. Ich sitze hier wieder in meinem Auto, auf der Rückbank liegen meine Waffen, denen der Feind so spöttisch widerstand und die sich nun seit bald vierundzwanzig Stunden ungebraucht hinter mir befinden. Ich hatte mich, nachdem mir bewusst geworden war, dass ich nichts mehr ausrichten kann, zurückgezogen, um mir über meine Lage klar zu werden. Dass es unmöglich war noch an einen Sieg zu glauben stand außer Frage und langsam machte sich in mir ein Gedanke breit, der schon länger in meinem Kopf gespukt hatte. Es ist ein Gedanke solcher Kraft und Klarheit, dass es außer Frage steht, dass er der richtige ist: Wenn ich dazu verurteilt bin im Kampf unterzugehen, dann geht der Feind mit mir!

Neben mir stehen jetzt drei Kanister mit Benzin, die ich von der Tankstelle geholt habe und in meiner rechten Hand fühle ich die angenehme Schwere eines metallenen Feuerzeugs. Den Rest des Kampfes kann ich nur noch erahnen, da niemand in der Lage sein wird davon zu erzählen. Wenn ich diesen Bericht beendet habe werde ich aussteigen, um das Auto herum gehen, die Beifahrertür öffnen. Ich werde mein Feuerzeug auf dem Wagendach ablegen, werde einen der Kanister heraus nehmen, langsam aufschrauben und mich dann mit seinem Inhalt übergießen. Mit nun Benzin ausdünstenden Klamotten werde ich wieder nach meinem Feuerzeug greifen, es zwischen Zeigefinger und Daumen der rechten Hand einklemmen, dann mit den restlichen Fingern den einen und mit der linken Hand den anderen Kanister nehmen. Diese Fracht werde ich erhobenen Hauptes meinem Haus entgegentragen. Ich werde ohne Furcht durch die schwarzen Massen hindurchschreiten, werde den Inhalt der Kanister entleeren und dann mit einer letzten entscheidenden Geste das Ende dieser Schlacht bestimmen. Ich werde in Rauch und Flammen enden und um mich werden all die Biester, die mein Leben zerstört haben mit mir diese Welt verlassen. Die Fliegen werden ersticken, ihre Flügel werden Feuer fangen und ihre Leichen werden den Boden mit einer dicken dunklen Schicht bedecken.

Wenn ich dazu verurteilt bin im Kampf unterzugehen, dann geht der Feind mit mir!

Es ist an der Zeit…
 



 
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