Erstes Kapitel

Jahre hinter Glas

(c) 2007 by Marcel Sommerick



Erstes Kapitel


Es war an einem Spätsommertag im September, als ich meinen ersten Anfall bekam. Ich hatte das Abitur in der Tasche und kam zurück von einer zweimonatigen Fahrradtour durch Frankreich, den Kopf noch voller Reiseerlebnisse. Wie schön war es, durch blühende Felder voller Sonnenblumen und Lavendel zu radeln, an der Côte d'Azur über den Strand zu strolchen und die Burgen und Schlösser der Loire zu besichtigen. In der Jugendherberge von Cassis hatte ich ein Mädchen namens Sabine kennengelernt, das mir in einer Nacht am Kaminfeuer mit ihrem Gitarrenspiel ganz ordentlich den Kopf verdrehte. Ich hatte ihre Telefonnummer abgestaubt und dachte nur noch an sie auf dem ganzen langen Weg zurück nach Deutschland. Vielleicht waren es auch nur die Hitze des Südens und der Blick auf das glitzernde Meer, was ich auf diese Freundschaft projizierte und was in mir eine quälende Sehnsucht auf Liebe und ein kleines bisschen Glück wachrief. Meine Eltern hatten zusammen mit meiner Schwester Iris den Sommer in einem Ferienhaus in Südschweden verbracht. Es hätte viel zu erzählen gegeben, aber ich war verstockt wie nie zuvor. Insgeheim verachtete ich meine Eltern für ihren komfortablen Urlaub mit Auto, Kost und Logis und wünschte mich wieder nach Frankreich zurück.
Eines Abends - ich mochte seit einer Woche wieder zurück in unserer Wohnung in Köln sein - schlich ich heimlich zum Telefon. Meine Eltern schliefen schon und wähnten auch mich längst in der Falle, als ich Sabines Nummer wählte. Sie war gleich am Apparat. "Hallo Philippe, was ist denn los?"
"Ich habe dir diesen Brief geschrieben - du darfst ihn nicht lesen."
"Was für ein Brief?"
"Er kommt morgen mit der Post. Versprich mir, dass du ihn nicht liest!"
"Bitte, wenn dir soviel daran liegt. Was ist denn los mit dir?"
"Ich habe diese Depression - all dieser Beton hier und die Häuser, die Straßen, ich halte das nicht länger aus."
"Ist es das erste Mal, dass zu so etwas hast?"
"Ja, es ist das erste Mal, das erste Mal, dass es so schlimm ist."
Ich keuchte. "Ich habe viel zu viele Bücher gelesen, und ich habe viel zu viele Geschichtsbücher gelesen, und diese Stadt hier macht mich ganz krank."
Sie fing zu weinen an. "Wie kann ich dir denn helfen?"
"Gib mir den Brief zurück. Und komm mich besuchen."
"Das war ja abgemacht. Ich bin nächste Woche in Köln, dann können wir uns sehen."
"Unbedingt. Bitte nimm dir all das nicht zu Herzen."
"Nein, mach ich nicht. Gute Besserung."
"Danke, tschüss."
Ich ging auf mein Zimmer zurück und fand in dieser Nacht tatsächlich etwas Schlaf. Am nächsten Tag schienen mir die Ereignisse wie von Nebel umhüllt. Ich zog meine Eltern ins Vertrauen. "Wisst ihr, ich habe in Südfrankreich dieses Mädchen kennengelernt, ich habe ihr gestern die Ohren vollgejammert. Ich glaube, ich habe eine Depression."
Mein Vater grinste. "Du bist verliebt! Mach dir keine Gedanken, die Eltern werden Sabine sagen, da hast du dir aber einen schrägen Vogel angelacht."
"Ich schäme mich so, wie soll ich mich bloß entschuldigen?"
"Zerbrich dir nicht den Kopf darüber. Denk mal an etwas anderes als an dieses Mädchen. Sieh mal, du bist noch jung und die Welt ist bunt."
Meine Mutter Hanna intervenierte. "Lass ihn doch, das wird sich schon wieder einrenken."
Ich konnte mich schlecht verstellen, und das machte meinen Vater böse. Eine Freundin, das war etwas ganz Neues in meinem Leben, und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Mein Kopf wurde heiß, und ich wickelte mir ein feuchtes Handtuch darum. Mir war, als ob ein Wirbelsturm durch meinen Kopf tobte. Ich hörte den ganzen Tag nur den Beatles-Song "Help" und eine Scheibe von André Heller, befestigte über meiner Tür ein Spruchband: "Es werde Zirkus". Meine Mutter versuchte mir zu helfen. "Fahr doch mal zu Uli und repariere ihr Fahrrad, vielleicht kommst du dann auf andere Gedanken."
Ulrike kannte ich seit meiner Kinderzeit. Sie wohnte in Rodenkirchen, war stark ökologisch orientiert und hatte auf dem zweiten Bildungsweg ein Studium als Grundschullehrerin abgeschlossen. Ich rief sie an und verabredete mich mit ihr für den darauffolgenden Tag. Den Nachmittag verbrachte ich damit, alle Bücher zu zerfleddern, die ich in die Finger kriegen konnte. Überall, wo von Hunden die Rede war, machte ich mir eine Notiz an den Seitenrand. Ich glaubte, etwas Besonderes zu sein, eine Art Seher wie in Christa Wolfs Roman "Kassandra". Die Depression sei die Kehrseite meiner Berufung, das Hundeleben, das sich wie eine Metapher durch Kunst und Literatur zog, von Heine bis hin zu Borchert. Ein Lehrer auf meiner alten Schule hatte ein oder zwei Krimis geschrieben, und ich schickte ihm einen Leserbrief mit wirren Zitaten.
Am nächsten Tag saß ich bei Ulrike und trank mit ihr eine Tasse Tee. Ihr Hund Niko fläzte sich auf seiner Hundedecke und ließ sich streicheln. Ich erörterte Uli meine Theorie. "Ich glaube, ich bin einer von diesen verrückten Typen, die alles mit doppelter Schärfe sehen, und jetzt hat mich die Depression gepackt - ich habe starke Visionen. Alles geht in dieser modernen Zivilisation kaputt, der Wald, das Klima, es werden immer schrecklichere Vernichtungswaffen erfunden, man muss etwas dagegen tun, es ist meine Berufung."
Uli ließ sich nichts anmerken von ihrer Befremdung. "Ich finde es gut, dass du mit deinen neunzehn Jahren schon so weit bist. Aber siehst du, man muss im Kleinen anfangen, ich habe auch nur meinen Garten vor dem Haus und verschicke Protestbriefkarten, wenn mich etwas stört."
Ich halluzinierte. "Jetzt wird wieder alles so hart, ich halte das nicht aus. Bitte hilf mir."
Sie drückte mir die Hand und sagte, "ich fahr dich besser mit dem Auto nach Hause zurück, lass dein Fahrrad doch ein paar Tage lang hier stehen. Ich freu mich für dich wegen deiner Bekanntschaft aus Südfrankreich, vielleicht wird ja doch noch etwas daraus."
Stark angeschlagen setzte ich mich zu ihr in den 2CV, der Hund kam mit und fing an zu bellen, offensichtlich gefiel ihm das nicht. Ich stieg am Hohenzollernring aus und machte mich auf den Weg zurück in die Elternwohnung. Ich phantasierte. "Ich bin ein Seher, es liegt Unheil in der Luft. Wir müssen jetzt alle ganz stark zusammenhalten."
Wir versammelten uns in der Küche, und ich zog ein Gesellschaftsspiel aus dem Schrank. "Lasst uns eine Partie Poch spielen."
Meine Eltern begannen zu rätseln, was wohl geschehen sei. "Ulrike hat ihm etwas in den Tee gekippt", mutmaßte meine Mutter und versuchte sie telefonisch zu erreichen, aber sie war nicht zu Hause.
"Hattest du nicht in Südfrankreich einen Sonnenstich", fragte mein Vater. Er zog das Konversationslexikon aus dem Regal und begann zu blättern.
"Lass das doch", meinte Hanna. Meine Schwester sagte nichts zu allem und zog sich auf ihr Zimmer zurück. Ulrike ging weiterhin nicht ans Telefon. Es war schon dunkel, und meine Eltern legten sich schlafen. Mein Vater drückte mir einen feuchten Kuss auf die Wange. "Wir lieben dich alle, vergiss das nicht, Philippe."
Ich fand keinen Schlaf. Ich hielt mich für Jesus und wollte die Welt retten. Vielleicht könnte ich den Kölner Dom hinaufklettern, um auf mein Schicksal aufmerksam zu machen? Oder könnte ich mich nicht mit einem Protestplakat auf der Domplatte anketten? Ich grübelte die ganze Nacht und redete leise vor mich hin. Als ich am nächsten Morgen immer noch nicht bei klarem Verstand war, entschlossen meine Eltern sich, mit mir zum Arzt zu gehen."
Wir fuhren mit der Straßenbahn nach Rodenkirchen zu einer Homöopathin, meine Eltern wussten nicht genau, an wen man sich wenden könnte. In der Bahn halluzinierte ich weiter. Alle Passagiere schienen mich hasserfüllt anzustarren, ich fühlte mich nicht wohl in meiner Haut. Als wir in der Praxis angekommen waren, steigerte ich mich in meine Ängste hinein. Die Ärztin führte mich in ein Behandlungszimmer, ich begann zu schluchzen. "Ich bin so kaputt, bitte helfen Sie mir aus diesem Tief heraus."
Die Arzthelferin gab mir eine Spritze und legte eine Schallplatte mit klassischer Musik auf. Langsam beruhigte ich mich wieder. Die Ärztin kam herein und untersuchte mich körperlich. Wieder sah ich ihr hassverzerrtes Gesicht, aber Sie beschwichtigte mich. "Sie wissen doch, dass es in Wahrheit nicht so ist, dass ich Sie nur anlächle."
"Ja, ich weiss es."
"Ich überweise Sie jetzt zu einer Kollegin. Und falls Sie möchten, tun Sie sich mit einer der Arzthelferinnen zusammen. Die Ihnen besser gefällt."
Die Arzthelferinnen - die inzwischen ebenfalls ein paar Tränen vergossen hatten, bestellten ein Taxi. Aber meine Mutter, der das ganze Theater schrecklich peinlich war, winkte mich nach draußen, und wir stahlen uns davon. Ich fragte meine Mutter, was nun eigentlich anlag, und sie sagte: "Es war der Sonnenstich."
Ich stellte keine weiteren Fragen. Zu Hause hatte ich Post bekommen. Der Lehrer meiner ehemaligen Schule, dem ich geschrieben hatte, hatte auf meinen Brief geantwortet. Er verstehe nicht richtig, was ich mit den wirren Zitaten meinte, aber eines seiner Bücher werde gerade verfilmt, und wenn ich wollte, sei ich herzlich eingeladen, die Erstausstrahlung bei ihm zu Hause mit anzusehen. Seine Tochter hatte anscheinend ein Wort für mich eingelegt. Aber ich verstand von all dem nur noch die Hälfte, und ich schämte mich fürchterlich für die wirren Briefe. Ich wollte alles wieder rückgängig machen, aber ich wusste nicht wie, und ich schrieb einen weiteren Brief, ich sei nicht ganz bei mir gewesen, bäte vielmals um Entschuldigung. Den Krimi sähe ich mir lieber bei einem Bekannten an - leider hätten wir keinen Fernseher. Zu allem Überfluss lief ich dem Lehrer wenige Tage später noch einmal über den Weg, und er fühlte sich offensichtlich bedroht, rief seine Tochter zurück, die am Schultor meines alten Gymnasiums stand.
Die Homöopathin hatte mich in eine psychiatrische Praxis überwiesen. Leider kam ich mit der zweiten Ärztin auch nicht so recht klar. Sie wollte mir mit einer Lupe in die Augen schauen, aber ich scheute davor zurück. Ein EEG wurde angefertigt, eine Blutprobe entnommen. Körperlich war ich gesund. Aber was war es dann? Erst als ich die Krankmeldung in die Finger bekam, löste sich das Rätsel auf: "Schizophrene Psychose". Zumindest meine Eltern wussten nun, was mir fehlte, denn ich selbst war inzwischen so durchgeknallt, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Ich bekam Psychopharmaka und Schlaftabletten verabreicht. Im Wartezimmer der Ärztin redete ich laut vor mich hin. "Manchmal vergeht die Zeit ganz langsam, und dann geht sie wieder ganz schnell. Ich weiss nicht, wie lange ich jetzt noch warten kann."
Normalerweise wäre eine stationäre Behandlung längst überfällig gewesen, aber bei uns zu Hause wusste niemand, wie man mit Schizophrenie umgehen konnte, und die Psychiaterin war wohl der Ansicht, dass eine ambulante Behandlung ausreichend sei. Als Matthäi am Letzten war, rief endlich Sabine an. Am folgenden Tag sei sie bei ihrer Schwester in Köln, vielleicht hätte sie eine Stunde Zeit für mich. Meine Lebensgeister erwachten ein wenig, aber statt mir einmal ordentlich die Rübe zu waschen, verschwitzte ich dieses Rendezvous völlig. Ich zeigte ihr ein paar Fotos aus Südfrankreich, die ihr ganz gut gefielen, wiewohl sie reichlich verwackelt waren. Ich erzählte von dem Bahnwärterhäuschen in Lacanau, wo mir die Fledermäuse um die Ohren geflattert waren, und sprach von dem Soldatenfriedhof in den Vogesen. Sie verspürte wohl etwas Mitleid und hielt mich für übersensibel, aber sie verstand es nicht ganz, weshalb ich mich so in mein Elend hineinsteigerte. "Komm doch mit zu meiner Schwester, wir feiern heute Abend eine Party!"
"Aber ich kann jetzt nicht."
"Versuch es doch."
"Ich schaffe es nicht. Irgendwann knall ich mir noch mal eine Kugel in den Kopf!"
Ihre Pupillen schrumpften zusammen. "Das darfst du nicht."
"Ich muss es aber tun, ich halte das nicht aus. Bitte spiel mir noch einmal ein Lied vor."
Ich deutete auf die Gitarre, aber sie schreckte zurück, war völlig verstört. "Ich kann jetzt nicht singen."
"Dann eben nicht. Kann ich dich noch einmal anrufen?"
"Meinetwegen, du weißt ja, wo ich bin. Ich glaube, du brauchst einfach ein paar Kontakte. Bald willst du doch deinen Zivildienst anfangen, oder nicht?"
"Ja, in zwei Wochen."
"Dann mach das, vielleicht hilft es dir."
"Ist in Ordnung."
Sie schüttelte mir die Hand. "Auf bald."
Dann verschwand sie aus der Elternwohnung, und ich blickte ihr mit gespaltenen Gefühlen nach. Ich hatte sie ganz anders in Erinnerung, hübscher, freundlicher, vielleicht hatte ich mir die ganze Zeit etwas vorgemacht. Möglicherweise war es nur die Hitze des Südens, der Blick auf das azurblaue Meer, der mein Herz zum Überkochen gebracht hatte. Trotzdem war sie in diesem Moment die einzige Person, der ich halbwegs vertraute, obwohl wir uns kaum kannten. Von meinen Eltern und meiner Schwester fühlte ich mich missverstanden, die Ärzte hatten sich auch gegen mich verschworen, ich litt Höllenqualen. Als ich wieder nicht schlafen konnte, schlich ich ins Wohnzimmer und rief mitten in der Nacht bei Sabines Schwester an. Die Party war in vollem Gange.
"Sabine, da ist so ein Typ für dich am Telefon."
Sie kam an den Apparat. "Hallo?"
"Hallo, hier ist Philippe. Du musst jetzt herkommen."
Meine Worte gingen unter in dem ohrenbetäubenden Lärm. "Was? Moment - könnt ihr nicht mal die Musik abstellen?"
Es wurde still im Hintergrund. "Also, Philippe..."
"Ja?"
"Bitte versteh mich nicht falsch. Aber ich kann jetzt nicht kommen. Ich bin doch kein Hund, nach dem man pfeifen kann, wenn es einem mal schlecht geht."
"So ist es aber nicht. Ich springe gleich aus dem Fenster."
"Mach das nicht!"
"Du hast doch gesagt, du bist auf einer christlichen Schule. Ich bin ein Seher, glaubst du mir?"
"Philippe, das geht jetzt nicht. Wir wollen hier feiern."
"Ich hab mir gleich gesagt, Sabine ist so ein nettes Mädchen, du darfst sie nicht verärgern. Aber ich brauche dich."
"Wir kennen uns doch gar nicht richtig."
"Aber ich vertraue dir."
"Willst du nicht doch noch auf die Fete kommen?"
"Nein. Tschüss."
Am nächsten Tag versuchte meine Mutter, die Wogen zu glätten. "Du kannst das arme Mädchen doch nicht mitten in der Nacht anrufen! Warte erst mal ein paar Tage, bis sie sich etwas beruhigt hat, und wenn du ihr noch mal einen Brief schreibst, schick ihn nicht gleich ab, sondern lies ihn dir erst noch einmal durch."
Ich vermutete, dass Sabine in Ohnmacht gefallen war und meine Mutter heimlich Kontakt zu ihr hatte. Wir saßen in der Küche beim Kuchenessen, und aus Versehen berührte ich die heiße Herdplatte. Ich spürte keinen Schmerz. Ich erklärte meinem Vater, ich hätte Halluzinationen. "Ich schwöre, ich habe keine Drogen genommen."
"Du brauchst eben keine Drogen, um so draufzukommen."
Eine Wespe flog von außen gegen die Fensterscheibe. Ich klopfte gegen das Fenster. "Wollen wir das Insekt nicht hereinlassen, draußen ist es so kalt?"
Mein Vater versuchte auf mich einzugehen. "Vielleicht kann man die Scheibe etwas anwärmen."
Die Temperaturen waren merklich gesunken, es wurde Herbst. Die Medikamente halfen nicht spürbar. Ich ging kaum noch aus der Wohnung, stand manchmal am Fenster und winkte den Leuten auf der Straße zu. Einmal unternahm ich eine Radtour, aber das brachte mich auch nicht weiter. Ich schlief wenig, lag nur manchmal im Bett und wimmerte vor mich hin. Die abstrusesten Gedankenverbindungen kamen mir in den Kopf. Ich glaubte, die Welt werde von den Walen regiert, ich sei gerade an der Schwelle zu einer Bewusstseinserweiterung, könnte in die Zukunft sehen. Endlich hatte meine Mutter die rettende Idee. Sie rief im Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke an und vereinbarte einen Termin. Wir fuhren gemeinsam dorthin. Der Arzt auf der Station Jugendpsychiatrie unterhielt sich mit mir. Ich erklärte, in meinem Leben gäbe es eine Wand, so wie in dem Film "The Wall" von Pink Floyd. "Kennen Sie den Film?"
Der Arzt bejahte. "Aber vielleicht sagen Sie es noch einmal in Ihren eigenen Worten."
"Ich leide unter Isolation, spüre nichts mehr, höre nichts mehr. Ich denke immer, unsere moderne Zivilisation steht vor dem Untergang, und ich habe nichts dagegen getan. Meine Stimme ist zu schwach."
Der Arzt untersuchte mich. Ich musste mit dem Finger an die Nase fassen und mit den Augen rollen. "Haben Sie manchmal das Gefühl, Ihre Körperglieder würden sich verlängern?"
"Nein, nicht dass ich wüsste."
"Haben Sie Suizidgedanken?"
"Ja. Aber ich würde es nie tun."
Er schaute in meinen Mund. "Sie haben aber gute Zähne."
Das tröstete mich ein wenig. Ich fühlte mich verstanden. Eine Katze strolchte über den Flur. "Die lebt auf unserer Station, obwohl das eigentlich nicht erlaubt ist in einem Krankenhaus. Möchten Sie auf der Station aufgenommen werden?"
"Vielleicht hilft es ja. Meinetwegen."
Er rief meine Mutter in das Behandlungszimmer und erklärte den Stand der Dinge. "Er wird einige Wochen hier bleiben, bis es ihm wieder besser geht. Wir haben noch ein Bett frei auf der Station."
Meiner Mutter fiel ein Stein vom Herzen. "Wann können Sie ihn aufnehmen?"
"Nächste Woche Montag."
"In Ordnung, vielen Dank."
Zu Hause wartete ein letzter Brief von Sabine auf mich. Sie schrieb: "Auch wenn ich ein ‚nettes Mädchen' und auf einer ‚christlichen Schule' bin, wächst mir die Geschichte mit deiner Depression über den Kopf. Ich habe oft selber große Probleme und kann nicht tragen für zwei, dafür fehlt mir die Kraft. Gib nicht auf..."
Im Grunde genommen war ich froh, dass sie mir so offen die Meinung sagte. Ich hatte das Gefühl, mir ein Hirngespinst aufgebaut zu haben und konnte eigentlich nicht mehr viel für Sabine empfinden. Das Wochenende zog sich träge dahin, und ich zählte die Stunden bis zu meiner Aufnahme. Ich ließ mir erklären, wie die Waschmaschine funktionierte, damit ich auf der Station meine eigene Wäsche waschen konnte, packte meine Tasche und war froh, als meine Schwester mich nach Herdecke fahren konnte. Als Erstes machte der Arzt mir klar, dass ich eine zweiwöchige Kontaktsperre zu meinen Angehörigen einhalten müsse. "Das dient nur zu Ihrem Besten."
Das Mittagessen wurde serviert. Ich war sehr schüchtern und konnte mich nur schwer an die neue Umgebung gewöhnen. Die Patienten kamen in den Gemeinschaftsraum, wir fassten uns an den Händen und sprachen ein Tischgebet. Nach dem Essen zeigte mir ein Pfleger das Zweibettzimmer, in dem ich bleiben sollte. Er erkundigte sich nach meiner Diagnose, und in einer Mischung aus Naivität und Scham erklärte ich, wie es mir in den letzten Wochen ergangen sei. Eine Patientin klopfte und erklärte: "Das ist eigentlich ein Frauenzimmer. Es kann sein, dass du hier wieder raus musst, wenn Claudia zurück kommt. Sie hat gerade Wochenendurlaub und ist schon seit zwei Jahren hier."
Ich fügte mich in mein Schicksal und war froh, dass ich zunächst ganz alleine war auf dem Zimmer. So konnte ich mich ein wenig zurückziehen und hatte meine Ruhe. Spät abends gab es einen Rückblick. Bei einer Tasse Tee setzten wir uns in zwei Gruppen zusammen, und jeder erzählte, wie der Tag gewesen war. Ich hatte mich noch nicht in die Stationsroutine eingefunden und erzählte sicher zehn Minuten lang, wie mir zumute war, bis der Pfleger ein Einsehen hatte und sagte: "Nun geben Sie schon um Gottes willen weiter."
Ich war erleichtert, dass ich das Wort weitergeben konnte und fühlte mich auf der Station wohl. Es war schön, wieder etwas Gemeinschaft zu haben. In der Gruppe wurden Ängste und Zwänge aufgefangen. Es gab eine gemütliche Couchecke im Gemeinschaftsraum, dort lag auch eine Gitarre herum, auf der jeder einmal spielte. Ein Mitpatient blödelte herum: "Heute ist wieder B&B-Tag, Bernd und Boris heißen die Dienst habenden Pfleger. Kennst du schon den Haldol-Song?"
"Nein."
"Das geht ganz einfach."
Er zupfte ein paar Akkorde. "Mitarbeiter schlucken viel, viel Haldol, viel Haldol..."
"Was ist Haldol?"
"Nimmst du das nicht?"
"Nein, ich kriege Taxilan."
"Sei froh. Ich sehe immer so schemenhaft durch das Haldol."
Ich hatte einen Kassettenrekorder mitgenommen von zu Hause und hörte Jean-Michel Jarre. Eine Mitpatientin klopfte und wunderte sich: "Das ist aber eine seltsame Musik, so etwas habe ich noch nie gehört."
Ich lieh ihr die Kassette aus und war betrübt, als mir am nächsten Tag der Pfleger mitteilte, ich dürfe den Kassettenrekorder nicht benutzen. "Es verstößt gegen die Stationsordnung und dient nur zu Ihrer Gesundung."
Ich wollte mich noch etwas aufs Ohr legen, weil die Medikamente so müde machten, aber eine Krankenschwester scheuchte mich nach draußen. "Vormittags müssen Sie in die Gärtnerei."
Wir stiegen in den VW-Bus und fuhren nach Witten, wo es eine ökologische Gärtnerei gab. Dort zupften wir Unkraut und kehrten das Laub zusammen, denn der Herbst hatte längst begonnen. Die Arbeit war monoton, aber es tat gut, an der frischen Luft zu sein. Um kurz vor zwölf fuhren wir wieder zurück, es gab Mittagessen. Das Essen war frisch zubereitet und schmeckte gut. Am Nachmittag stand die Gestalttherapie auf dem Plan, ich versuchte, eine Figur aus Ton zu formen. Der Therapeut verfolgte interessiert meine Bemühungen und erklärte mir, wo ich noch etwas Ton hinzufügen könnte und etwas wegnehmen könnte, um die Figur zu perfektionieren. Ich kam mit der Gestalt nur langsam voran. Außerdem gab es Sprachtherapie. Der Therapeut - ein Diplom-Pädagoge - gab mir die Achilleis von Goethe zu lesen. Ich musste die Verse laut vortragen und dazu im Kreis gehen. Er gab mir Hinweise, wie ich meine Aussprache verbessern könne. Bald konnte ich den Text auswendig. Die Beschäftigung mit der Literatur half mir sehr, auf andere Gedanken zu kommen. Die Therapie in der Gruppe fing meine Ängste und meine krankhaften Einbildungen auf. Schon nach zwei Wochen ging es mir merklich besser. Claudia, die ursprünglich auf meinem Zimmer untergebracht war, wurde entlassen, und ich bekam einen neuen Zimmernachbarn. Er hieß Michael und kam von der Geschlossenen. Er war sehr umgänglich, hatte aber immer Angst, die anderen könnten hinter seinem Rücken böse über ihn reden. Pausenlos musste ich ihm versichern, das es nicht so war. Einmal krempelte er seine Jeans hoch und zeigte mir sein Bein. "Hier am Unterschenkel habe ich mir die Haut mit dem Feuerzeug auf zwei Zentimeter weggeflämmt."
"Warum hast du das denn gemacht?"
"Das war auf der Geschlossenen. Ich wollte wissen, ob ich noch etwas spüren konnte."
"Und wie lange sollst du noch bleiben?"
"Das kann dauern. Der Arzt meint, ich sei auf dieser Station der schwierigste Fall."
Das Wochenende kam, und wir fuhren mit den Pflegern nach Bochum. Es gab eine Theatervorstellung. Später gingen wir noch einen Kaffee trinken und fuhren am Abend zurück nach Herdecke. Es tat gut, die Nase wieder einmal an die frische Luft zu strecken. Einmal in der Woche stand das Singen im Chor auf dem Programm. Wir übten Volkslieder ein. "Gehe nicht, o Gregor, gehe nicht zum Abendtanz..."
Ein Patient ermunterte mich. "Du hast eine gute Stimme, Philippe. Du solltest dich öfter musikalisch betätigen."
"Findest du?"
"Aber ja."
"Kennst du den?"
Ich schnappte mir die Gitarre und sang ein Lied von Biermann. "Das war in Buckow zur Süßkirschenzeit..."
Das Lied kam gut an. Aber dann wurden wir plötzlich von einer Mitpatientin gestört, die mit einem Kasten Mineralwasser anrückte und damit die Blumen goss. Sie hatte eine Sonde in der Nase und war spindeldürr. Ein Fall von Magersucht. Sie verbreitete Unruhe, und wir verzogen uns auf den Balkon. Mein Mitpatient steckte sich eine Zigarette an.
"Du rauchst?"
"Hab auf der Geschlossenen damit angefangen."
Michael gesellte sich zu uns, und das Gespräch nahm eine Wendung. "Warst du schon einmal verliebt?"
Ich seufzte. "Davon hab ich fürs Erste genug. Und du?"
"Ja, sicher hatte ich schon eine Freundin."
Ein anderer Patient mischte sich ein. "Ich hab schon einmal mit einer Frau geschlafen, aber das war keine Liebe."
Michael grinste. "Träume sind Schäume."
Die Mitpatienten rauchten sich eine, es war merklich kühler geworden. Ich war verblüfft, wie offen die anderen mit ihrer Psychose umgingen. Ich schämte mich nur wegen der ganzen dummen Ideen, die ich den ganzen Tag hatte. Ich war froh, dass ich die Schule hinter mir hatte und einen Platz gefunden hatte, der weit weg von Köln war. An dem darauffolgenden Wochenende bekam ich das erste Mal Besuch. Ulrike hatte sich mit meinem Vater Gerd in Herdecke eingefunden. Wir machten einen Spaziergang im Wald, und mein Vater schoss ein paar Fotos. Ulrike sagte, "wartet, ich zeig euch was." Sie ging zu der ersten besten Buche und umarmte den Baum. "Das hat man uns in einer Umweltgruppe gezeigt."
Mein Vater tat es ihr nach, und ich versuchte es ebenfalls. Ulrike lachte. "Wenn uns jetzt hier jemand so sieht, werden wir auch alle eingewiesen."
Aber es waren sonst keine Spaziergänger unterwegs, und wir machten uns auf den Rückweg zum Krankenhaus. Es gab dort eine Cafeteria, wo man ein Stück Kuchen essen konnte. Ich war traurig, als die beiden wieder fahren mussten. Ich wusste nicht so genau, wie es mit mir weitergehen sollte. Kurz nach der Einweisung hatte das Bundesamt für Zivildienst mich ausgemustert. Die Sozialpädagogin von der Arbeiterwohlfahrt schickte mir eine Postkarte. "Wir haben einen anderen jungen Mann gefunden, der Ihre Stelle übernommen hat. Wenn Sie möchten, kommen Sie doch einmal auf eine Tasse Kaffee vorbei."
Aber ich wagte nicht, mich daheim blicken zu lassen. Studieren wollte ich noch nicht; ich dachte daran, ein Praktikum anzufangen. "Was wollen Sie denn machen", fragte der Arzt.
"Ich möchte mich im Umweltschutz engagieren."
"Sie sollten versuchen, einen Ausgleich zu finden. Warum treten Sie nicht einem Gesangsverein bei, Sie haben doch eine gute Stimme?"
Ich druckste herum. "Ich würde gerne mit der Sprachtherapie weitermachen, das entspricht eher meiner Begabung."
"Ich werde sehen, ob ich Sie vermitteln kann."
Es wurde Dezember, und in der Gärtnerei gab es zunehmend weniger zu tun. Wir hatten das Herbstlaub zusammengefegt, eine monotone Arbeit, die jedoch der Seele ganz gut tat. Mir ging es merklich besser, und der Arzt lenkte ein. "Weihnachten können Sie wieder zu Hause verbringen."
Nur Michael war betrübt. "Dann sehen wir uns ja gar nicht mehr. Und außerdem wollten wir doch ein mehrstimmiges Weihnachtslied einüben."
"Tut mir leid, die Entlassung geht vor."
"Eine Magersüchtige mischte sich ein. "Schreib mir doch mal eine Karte. Und dann musst du einen Kuchen backen für die Station."
"Kein Problem."
Das Medikament half sehr gut, und mein Arzt ordnete an, dass ich es noch ein halbes Jahr so weiter nehmen sollte. "Ich kann Sie leider nicht mehr lange behandeln, da ich bald von hier wegziehe. Aber Sie werden schon Ihren Weg machen, da bin ich mir sicher."
Ich war müde von dem Taxilan und machte öfters ein Nickerchen, wenn der Therapieplan es erlaubte. Sonst hatte ich keine weiteren Nebenwirkungen. In meiner Erinnerung scheinen die Wochen in Herdecke seltsam verzerrt, aber trotz der Schizophrenie fühlte ich mich dort so wohl wie anderswo selten. Meine Schwester kam kurz vor Weihnachten im VW Polo vorbei und fuhr mich zurück in unsere Wohnung in der Friesenstraße. Ich blödelte herum. "Warte, ich muss meine Medikamente nehmen, ich hab einen psychedelischen Schub."
"Einen was?"
"Na, so etwas wie bei John Lennon, als er auf Entzug war."
"Aber du nimmst doch gar keine Drogen."
"War ja nur ein Scherz, du hast recht."
Das Weihnachtsfest ging vorbei, und ich war froh darüber, denn ich hatte mich auf Familienfeiern noch nie wohl gefühlt. Eine Bekannte bot mir an, ich könne ihr ein bisschen bei dem Handel mit Edelsteinen helfen, bezahlen könnte sie mir nicht viel, aber so hätte ich wenigstens eine Beschäftigung. Die Raunächte waren düster und kalt, doch die Gemeinschaft in der Klinik hatte mein krankes Herz gesund gemacht, und ich wagte mich an einen neuen Lebensabschnitt heran.
 



 
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