Felix und das Piratenmädchen

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zandalee

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Felix und das Piratenmädchen


„Rrrrrrrrrrrrrring“ Der Wecker klingelte. Das tat er an Schultagen immer um sieben Uhr. Trotzdem schreckte Felix so heftig hoch, als kündige das durchdringende Schrillen eine Invasion von Marsianern an und nicht den Beginn eines neuen Tages. Er riss die Augen auf und sah sich gehetzt nach allen Seiten um. Wo war er? Hatte man ihn nachts etwa heimlich verschleppt? Bevor er ernsthaft in Panik ausbrechen konnte, fiel ihm zum Glück wieder ein, dass sie ja umgezogen waren. Vor etwa sechs Wochen hatten seine Eltern und er die laute Stadtwohnung endgültig hinter sich gelassen, um aufs Land zu ziehen. Das Haus war sehr alt und lag inmitten eines großen Gartens, der an weitere große Gärten grenzte, die ebenfalls sehr alte Häuser umschlossen.

„Wie im Paradies!“ hatte seine Mutter entzückt ausgerufen, als sie sich den ehemaligen Bauernhof vor einigen Monaten zum ersten Mal angesehen hatten.

„Schau dir den Garten an Felix! Die schönen alten Bäume, die bunten Blumen und die große Wiese. Die ist doch genau richtig für dich zum Spielen, oder?“

Sie war ganz albern vor Begeisterung gewesen und hatte übermütig sein Haar verwuschelt. In Gedanken hatte er sich mit seinen Freunden über die Wiese rennen sehen und mit glänzenden Augen genickt. Aber genau da war der Haken - seine Freunde. Sie waren weit weg und alleine machte auch der größte Garten keinen Spaß. Zwar war er gleich nach dem Umzug hier im Ort in die neue Klasse gekommen, aber angefreundet hatte er sich bisher mit keinem seiner Klassenkameraden. Die anderen kannten sich meist schon mehrere Jahre und er war nun einmal der Neue aus der Stadt. Außerdem hatte er keine Lust auf den Pausenspaß der anderen Jungen. Sie jagten in jeder freien Minute Mädchen, die dann kreischend davon stoben und sich kichernd versteckten. Felix wollte keine Mädchen fangen. Manche von ihnen traten und kratzten, wenn sie erwischt wurden. Das war ihm zu gefährlich. Viel lieber hätte er Fußball, Ritter oder Pirat gespielt. Aber das war alleine überhaupt nicht lustig. So saß er Pause für Pause alleine in einer Ecke des Schulhofes auf der Bank und verfolgte das bunte Treiben aus der Ferne. Auf der anderen Seite des weitläufigen Geländes waren ebenfalls Bänke aufgestellt. Ein dunkles Mädchen mit schwarzen Locken saß jede Pause auf einer von ihnen und beobachtete wie er die anderen Kinder beim Spielen. Sie war Felix am Anfang gar nicht aufgefallen. Erst nach ungefähr zwei Wochen hatte er sie bemerkt. Seitdem musterte er sie manchmal heimlich und überlegte, warum sie da drüben so alleine saß. War sie auch neu? Vielleicht war ihr Vater ein berühmter Seeräuber in irgendeinem weit entfernten fremden Land gewesen. Vor ein paar Wochen hatten ihn dann königliche Schiffe eingekreist und nach erbittertem Kampf gefangen genommen. Seine Tochter war natürlich wie immer bei ihm gewesen und hatte gekämpft wie eine Löwin. Schließlich war es vier starken Männern gelungen, sie zu überwältigen. Weil es aber in den königlichen Kerkern keine Zellen für Mädchen gab, schickte man sie hierher zu einer entfernten Verwandten ihrer Mutter.

„He, warum starrst du mich die ganze Zeit so an?“

Felix schrak zusammen. Neben ihm stand das dunkle Mädchen und schaute mit düsterem Blick auf ihn herab.

„Ich hab dich überhaupt nicht angestarrt. Ich habe nur nachgedacht.“ antwortete er und kämpfte gegen die Röte in seinem Gesicht an.

„Ich kann´s mir schon denken.“ sagte sie und ihr Gesicht wurde traurig.
„Die anderen haben dir gesagt, ich wäre eine Hexe. Deshalb spielen sie nicht mit mir und deshalb starrst du mich so an.“

„Nein! Die haben gar nichts gesagt. Ich kenne sie doch gar nicht richtig. Außerdem habe ich gedacht, du bist eine mutige Seeräuberin. Die sehen nämlich genau so aus wie du.“

Sie sah ihn verdutzt an.

„Wirklich? Oh, eine Piratin wäre ich gerne! Da hätte ich ein Schiff und könnte ganz weit wegsegeln – wohin ich will!“

„Ich habe ein Piratenschiff. Natürlich kein Richtiges. Aber vielleicht willst du es dir ja trotzdem einmal ansehen?“ Felix lächelte vorsichtig.

Dieses Mädchen schien ganz anders zu sein als die albernen, kreischenden Gänse, mit denen man nichts anfangen konnte.

Sie nickte strahlend uns sagte: „Klar! Ich heiße übrigens Eva.“

Die beiden verabredeten sich gleich für den Nachmittag bei Felix zu Hause. Eva wohnte ohnehin nur eine Straße weiter und kannte das Haus, in dem er wohnte. Beim Mittagessen erzählte er seiner Mutter aufgeregt von dem geheimnisvollen Mädchen, das ihn besuchen wollte. Die Mutter lächelte ihn liebevoll an. Er sah an ihren Augen, wie froh sie war, dass er endlich eine Verabredung hatte. Als es schließlich um drei Uhr klingelte, war die Mutter um Haaresbreite schneller als Felix und öffnete die Tür. Sie schaute ein bisschen erstaunt, als sie das Zigeunermädchen mit den schwarzen Locken und den bunten Kleidern vor sich sah, begrüßte Eva aber herzlich und ließ die beiden dann im Garten alleine. Natürlich hatte Felix schon vorgesorgt und sein Piratenschiff samt Besatzung auf der großen Wiese vor Anker gehen lassen.
Nachdem der mutige Ritter die tapfere Piratin gerettet hatte, holte Eva einen Apfel aus ihrer Rocktasche und hielt ihn Felix hin.

„Der ist für dich. Es ist ein ganz besonderer Apfel!“

Sie erzählte ihm von ihrer Mutter und ihrer Großmutter, die fast ihr ganzes Leben lang mit ihrer Familie in einem bunten Wagen durchs Land gezogen waren. Erst vor acht Jahren, als Eva, die eigentlich Eva-Luna hieß, auf die Welt gekommen war, hatte ihre Mutter beschlossen sesshaft zu werde, damit ihre Tochter ein richtiges Zuhause hatte. Sie war mit ihr in das kleine alte Haus gezogen, in dem sie immer noch wohnten. Die Großmutter hatte damals in dem großen verwilderten Garten einen Apfelbaum gepflanzt, ihn mit allerlei Zaubersprüchen belegt und geheimnisvolle Amulette bei seinen Wurzeln begraben. Der Baum sollte ein Symbol für das Ende ihrer Reise sein und Eva beschützen. So wie er wuchs und gedieh, so sollte ihre Enkelin wachsen und gedeihen. Und je tiefer die Wurzeln in die Erde drangen, desto verbundener sollte sich die Familie mit ihrem Stück Land fühlen. Vor ein paar Jahren war dann auch die Großmutter zu ihnen gezogen. Weil sie es aber nicht in geschlossenen Räumen aushalten konnte, lebte sie nun in einem bunten Wagen im Garten. Dort las sie wie früher Leuten aus der Hand und mischte Kräuter gegen Krankheiten. Das war auch der Grund, warum viele der Dorfbewohner die alte Frau für eine Hexe hielten. Und wie die Mutter, so natürlich auch die Tochter – und die Tochter der Tochter.
Felix hörte mit offenem Mund zu und nahm dann ehrfürchtig den Apfel in beide Hände.
„Das ist das tollste Geschenk, das ich je gekriegt habe! Sind wir jetzt richtige Freunde?“


Eva wurde ein bisschen rot und lächelte: “Ja, wir sind jetzt richtige Freunde.“

Felix lächelte zurück und biss herzhaft in den Apfel. Nie hatte er etwas Besseres gegessen!

Abends lag er müde und glücklich im Bett. Morgen würde er in der Schule Eva wieder sehen und mittags durfte er sich beim Gärtner einen kleinen Apfelbaum aussuchen. Das hatte ihm seine Mutter beim Abendessen versprochen. Felix sah sich ein letztes Mal im Zimmer um und dachte:
„Hier bin ich daheim.“ - dann schlief er ein.
 



 
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