Forst

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hieronimus

Mitglied
Ein Nachbar der besonderen Art wohnte unmittelbar neben ihm. Rein äußerlich sah er aus wie typischer Mann vom Land mit groben Knochen, dicken Armen und Fingern und einem Gesicht, das nur zum Holz hacken geeignet schien. Er arbeitete tatsächlich in einem Forstbetrieb und schon des öfteren hatte ihn Paul beim Spazieren gehen im Wald mit der Kettensäge beim Bäume zerteilen gesichtet. Abends aber, nachdem er sich geduscht und eingecremt hatte, hörte Paul ihn häufig mit Freunden Sinone de Beauveaur diskutieren, warum es wichtig war, sich bewusst zu machen, dass sie nur aufgrund ihrer Erziehung zu Männern gemacht wurden, hauptsächlich ihre Erziehung für ihren eingeschränkten Wortschatz verantwortlich sei, der sie nun ins grob handwerkliche Gewerbe dränge, obwohl viele von ihnen viel lieber anderen Leuten die Haare unter Austausch der aktuellen Begebenheiten des britischen Königshauses schnitten, einer Vielzahl unbekannter Menschen die Füße massierten, in Kindergärten Kindern Lieder auf der Flöte beibrächten, am Telefon Bettzeug verkauften oder Madame Bovary völlig neu übersetzten. Dass es ziemlich aussichtslos sei, als erwachsener Mann die einmal erworbenen Prägungen so umzuformen, dass sie dem Wald ins städtische Gewerbe entkommen könnten, sie aber zumindest ihren Kindern die Chance dazu nicht verwehren wollten und deshalb eine gemeinsame Anstrengung vonnöten sei, mit den Buben vor allem viel mehr zu sprechen und ihre Kriegsspiele, wenn sie sich aufgrund des kollektiven, archetypischen Gedächtnises schon nicht verhindern ließen, zumindest nachzubesprechen.
Wenn man sie dann mit vierzehn zufällig beim Holz hacken erwische, sollten sie sie ernsthaft befragen, ob sie wirklich wollten, bei Wind und Wetter einer Natur ausgesetzt zu sein, die auf das eigene Befinden keine Rücksicht nahm, häufig tage- und wochenlang unter hohen, das Sonnenlicht verstellenden, klebriges, nur schwer zu reinigendes Harz produzierenden Bäumen zuzubringen, oder ob ihnen nicht vorkomme, dass ihre Hände nicht vielleicht auch zu etwas anderem geschaffen sein könnten.
Zudem könnten sie Seminare organisieren, in denen männliche Fußmasseure, Kindergärntner, Dolmetscher, Friseure und Telefonisten von ihrem Leben erzählten und man die jungen probeweise Füße massieren, Texte übersetzen, Haare schneiden, Telefonanrufe entgegennehmen und Kinder beaufsichtigen ließen. Wenn sie dann immer noch der Überzeugung wären, sie hackten doch lieber Bäume, so könnte man sie ja immer noch in den Wald lassen.
Ganz besonders haderten sie mit ihrem geringen Wortschatz, mit dem es aber dennoch möglich sein sollte, sich zu bemühen, ihren Frauen gegenüber vermehrt Auskunft über ihr Innenleben zu geben, um Wohlbefinden, Wertschätzung und Harmonie zu erzeugen, die über ihre eigene Familie hinaus die Keimzelle der lang ersehnten neuen, friedlicheren Erde bergen könnte. Angesichts weltweiter Krisenherde hätten geradezu eine Äußerungsverpflichtung und dürften sich nicht mehr hinter ihrem anerzogenen Stillschweige-Programm verstecken. In langen Abenden konnte P durch die Wände hören, wie sie einander in Rollenspielen oder in Echt, die Grenzen waren nicht immer erkennbar, ihre Gefühle offenbarten, versuchten zu weinen oder sich überschwänglich zu freuen, immer wieder reumütig auf die Zeit zurückblickten, als sie noch einfache Forstarbeiter waren und irrtümlicherweise alles in seiner rechten Ordnung meinten und sie gelobten, dass in Zukunft kein Tag vergehen sollte, an dem sie nicht zumindest einmal ihrer Frau über ihr Gesicht strichen. Außerdem sollten sie sich nach so vielen Jahren der Gemeinsamkeit endlich einmal gewissenhaft mit der weiblichen Anatomie auseinandersetzen, sie so ernst nehmen wie ihre Fichtenwälder, auch wenn es ihnen anfangs Überwindung kostete und sie unfreiwillig eher an Nacktschnecken als an Hummer denken mussten. Echte Liebe dürfe vor nicht zurückschrecken.
 
A

aligaga

Gast
Hallo @hieronimus,

dieses Stückerl scheint mir nicht nur sprachlich, sondern auch zeitlich im neunzehnten Jahrhundert verortet.

Die Zeiten, wo hierzulande die Bauernkinder ihren Müttern und Vätern automatisch nachwuchsen, sind längst vorbei. Auch ohne großzügige Hilfen von Onkeln und Tanten erkennen die Heranwachsenden, dass es außer Bäumesägen im Winter, Heumachen im Sommer, Säue füttern und Kühe melken das ganze Jahr über noch allerlei anderes Tagwerk gibt. Ganz im Gegenteil - es ist eine der schwierigsten Übungen geworden, einen Nachgeborenen zu finden, der sich der Ökonomie willig weiter widmete.

Auch den typischen groben Lackel, den du uns hier vorstellst, gibt's in unseren Breiten schon längst nicht mehr. Die Kiddies werden inzwischen ziemlich gleich geboren, und sie wissen später oft besser Bescheid, wie man sich mit dem significant other vergnügt, als ihre Vorfahren. Einer besonderen Betriebsanleitung bräuchten sie auch da nicht!

Die Jungs holen sich ihre Kraft längst nicht mehr draußen auf dem Feld oder im Wald an der frischen Luft, sondern in den klimatisierten Grüften der Fitnessstudios, wo sie ihre Leiber mit allerlei nutzlosen Übungen, unterstützt durch zahlreiche "Nahrungsergänzungen", solange formen, bis sie so vierschrötig sind wie einst der von dir beschriebene "Landadel". Ihre gesellschaftskundlichen Kenntnisse erwerben sie nicht im sozialen Dialog oder in Rollenspielen,, wie du irrig annimmst, sondern im Studium der von den so genannten "Privatsendern" angebotenen Serienprogramme und im Übrigen bei Facebook. Praktisch erproben sie sich sodann nicht mehr in der Bundeswehr, die ja abgerschafft wurde, sondern in den Fankurven der Fußballstadien und nächtens auf den Straßen Suburbiens.

Die jungen Mädchen kommen in deinem Stück nicht vor, darum spare ich sie mir bei meiner Gegendarstellung ebenfalls. Nur so viel vielleicht: Sie heiraten schon lang keine Bauern mehr, fallen viel weniger oft durch in der Schule und machen viel öfter Abitur als die Jungs, werden nicht sofort schwanger wie früher und belegen die besten Studienplätze. Dass sie noch nicht alle in den Aufsichtsräten und in den Vorständen sitzen, liegt hauptsächlich daran, dass sie nicht soviel kriminelle Energie haben wie die Männer. Man sollte eine Frauenquote auch für die Knäste verlangen, @hieronimus. Da sind noch mehr als 90 Prozent aller Insassen männlich! Muss man der Schwesig mal sagen!

Tipp: Deinen Text sprachlich und inhaltlich auf die Höhe der Zeit bringen. Dann wird's, denn ich sehe gute Ansätze!

Gruß

aligaga
 



 
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