Fremdhypochondrie - geh doch ins Krankenhaus.

pleistoneun

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Wulm wachte nach einer Zechtour auf und fand sich am frisch gedeckten Frühstückstisch wieder. Er war adrett gekleidet, vom Erbrochenen befreit und frisch geduscht. Der grauenhafte Geschmack von frischer Zahnpasta machte sich noch an seinem Gaumen ein Fest.

Schuld daran war seine Mutter. Sie war außerordentlich fürsorglich, reinlich und leicht fremdhypochondrisch. Sie war immer darauf bedacht, ihrer Familie das Beste angedeihen zu lassen.

Wulm wurde wegen des aufgebrachten Parfums, der frischen Haarpomade und der reinen Kleider sofort wieder übel. Doch noch bevor das Erbrochene den Tisch zieren konnte, war Muttern schon mit der Leibschüssel zur Stelle und hat Wulm auch schon die Reste aus dem Mundwinkel entfernt.

Ja, so war sie, immer schnell und fürsorglich.

Plötzlich, ein Schrei, der Griff zum Telefonhörer und mit der Lupe genauer auf Wulms Stirn gezielt. Seine Mutter war sehr fit in Sachen Multitasking. Der Feind tat sich eindeutig als kleiner roter Fleck auf Wulms Stirn hervor und war sogleich dem Rettungsdienst in all seinen schrecklichen Ausmaßen beschrieben.

Der reagierte schon lange nicht mehr auf Wulms Mutters Anrufe.

„Bitte“, flehte sie deshalb ihren Sohn an, „bitte geh sofort ins Karnkenhaus“. Doch Wulm ignorierte ihr Flehen wie immer hartherzig und ging zur Arbeit. Er wusste schon, was er tat. Davon heimgekehrt hatte sich der rote Fleck zu einem Mittesser mit dem Format 0,23 mal 0,245 mm, wie ihn die Mutter sofort vermaß, entwickelt. „Hm, das schaut nicht gut aus, bei deinem Vater hat das genauso angefangen, bitte geh jetzt, bevor...“

„Bevor was“, unterbrach sie Wulm jäh. „... du qualvoll verendest “, stammelte die Gekränkte.

Wulm ging ins Bad, zerstörte den Grund der Aufregung und legte sich wie jeden Tag nach der Arbeit zum Mittagschlaf hin.

Die Mutter ging der Hausarbeit nach. Vom Mittagschlaf aufgestanden, nahm Wulm das frisch bereitete Abendessen zu sich und hatte plötzlich Beschwerden beim Schlucken. Er räusperte sich kurz, wischte den grünen, übelriechenden Schleim aus dem Mundwinkel, welcher dabei hervortrat und dann aß weiter.

Die Mutter versuchte es bei dieser Beobachtung dieser Unsauberkeit wieder kleinlaut: “du solltest vielleicht doch besser ins Krankenhaus...“

„Halt die Fresse“, wurde es Wulm zu bunt. Er verließ das Haus leicht hinkend, um seine Freunde zu treffen. Auf halbem Weg verlor er ein Ohr und ein Bein. Dem zum Trotz und vor allem, weil er es seiner Mutter beweisen wollte, dass ein kleiner roter Fleck niemanden umbringt hüpfte er fröhlich und verbissen weiter.

Etwas unangenehm fiel beim Trinkgelage auf, dass stets beim Ansetzen des Trinkglases ein Zahn Wulms das Weite suchte und die Haare minütlich ihre Farbe änderten. War das noch im Grenzbereich, oder doch ein Fall fürs Krankenhaus. Seine Freunde waren nicht sicher, Wulm schon. Die Schmerzen waren nach drei Schnäpsen schnell vergessen und auch der Verlust seines linken Armes und des gesamten Darmes beim Gang zur Toilette verunsicherten ihn kein bisschen. „Ich lasse mir doch nicht einreden, dass so ein roter Minifleck mich ums Leben bringt“, schrieb er noch an die Toilettentür, bevor er sich zurück an den Stammtisch machte. Das allerdings nur mehr kriechend, weil er irgendwo unterwegs noch so das eine oder andere Körperteil verlor.

Kaum am Tisch angekommen tat sich ein kleiner Spalt in Wulms Bauchraum auf und dieser breitete sich in Sekunden bis zum Hals aus. Die Freunde meinten, dass es jetzt doch schon Zeit sein könnte, ins Krankenhaus zu fahren. Wulm äußerte sich erst gar nicht dazu, weil gerade seine Zunge und Stimmbänder im Auflösen begriffen waren.

Im Leichenschauhaus konnte nur noch sein Tod durch Fremdhypochondrie festgestellt werden. Da sieht man, was übertriebene Mutterliebe anrichten kann, vor allem, wenn auch noch die eigenen Freunde in das gleiche Horn blasen.

Wulm könnte noch unter uns weilen, wenn sein Umfeld nicht so gnadenlos seinen Gang ins Krankenhaus gefordert hätte.
 



 
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