Gegen den Wind

Libell

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Gegen den Wind

Es war Nacht und ein Orkan tobte über die Elbmarschen und über das Tausend-Seelen-Dorf, dessen Bürgermeister ich war. Der Sturm riß mich auf dem Deich fast um. Im Licht des Vollmondes spähte ich über das Vorland Richtung Fluß. Aber da war kein Elbvorland mehr zu sehen, das Wasser hatte bereits den Deichfuß überflutet und stand auf halber Deichhöhe. Der Fluß kam in meterhohen schwarzen Wogen mit hellen Schaumkronen unaufhörlich grollend und tosend herangerollt und warf sich gegen den Deich. Der Boden unter meinen Füßen bebte. Der aus gutem schweren Kleiboden bestehende Deich zitterte wie ein Wackelpudding unter der Gewalt des Wassers. Ausgerechnet bei Vollmond kam dieser Nordwest-Orkan. Das bedeutete eine Springtide, extremes Hochwasser, hervorgerufen durch die Anziehungskräfte des Mondes. Wasserstände mehrere Meter über dem mittleren Hochwasser konnten so leicht erreicht werden. Ich mußte an die große Sturmflut 1962 in Hamburg denken, damals starben 312 Menschen. 1976 brach ganz in der Nähe der Deich an neun Stellen und überflutete die gesamte Marsch. Zum Glück mußten keine Menschenleben beklagt werden. Aber Rinder, Schweine und Schafe sowie viele Wildtiere kamen damals in den Fluten um.

Was hatte das "Bundesamt für Seeschiffahrt und Hydrographie" gestern angekündigt? Dreieinhalb Meter über dem mittleren Hochwasser? Ich stemmte mich gegen den Wind und fühlte den mit Wasser vollgesogenen Deich unter meinen Füßen vibrieren. Woher kam es, daß die Hochwasser im vergangenen Jahr jedesmal höher aufgelaufen waren? Ein Zufall? Nein, das war kein Zufall! Das hing damit zusammen, daß die reiche Großstadt Hamburg den Fluß Elbe zum Industriekanal umfunktionierte, ihn ausbaggern ließ, damit Containerschiffe mit sehr großem Tiefgang den Hamburger Hafen anlaufen konnten. Die Folge war eine Erhöhung der Fließgeschwindigkeit der Elbe. Bei Sturmfluten erhöhten größere Wassermassen das Gefahrenpotential. Das Wasser lief viel schneller auf. Die Sturmflutwasserstände stiegen. Die Wahrscheinlichkeit von Deichbrüchen wurde extrem erhöht.

Das einfachste wäre gewesen, die Elbdeiche den gestiegenen Wasserständen anzupassen. Aber wer sollte das bezahlen? Schleswig-Holstein und Hamburg waren hoch verschuldet. Eine Erhöhung der sogenannten Landesschutzdeiche würde Milliarden kosten. Also wurde gar nichts gemacht und der Bevölkerung eine falsche Sicherheit vorgegaukelt. Es würde schon nichts passieren, man habe alles genau berechnet und im Griff. Gar nichts hatte man im Griff. Die Naturgewalten ließen sich nicht exakt berechnen. Eine Orkanboe ließ mich ins Schwanken kommen. Es war zu gefährlich, hier nachts im Sturm herumzutaumeln und über die Elbvertiefung nachzugrübeln. Ich zog die Kapuze meiner Windjacke enger um den Kopf und trat den Rückweg an.

Am nächsten Morgen sagten sie im Radio, daß das Wasser in der Nacht vier Meter über dem mittleren Hochwasser erreicht hatte. Wenn das Wasser nur wenige Zentimeter höher auflief, konnten die Deiche überspült werden oder brechen. Ich warf meinen Computer an und recherchierte die Hochwasserstände der vergangenen zehn Jahre im Internet. Sieben Jahre lang waren die Wasserstände in etwa gleich geblieben. Dann wurde die Elbe ausgebaggert und im Bereich der Elbmarschen stark vertieft. Die Sturmflutwasserstände erhöhten sich dramatisch. Mein Gott. Angst erfaßte mich. Die Deiche mußten sofort gesichert und erhöht werden, sonst waren viele Menschenleben in Gefahr. Was sollte ich machen? Ich war ja nur ein kleiner Dorfbürgermeister aus der Provinz. Was konnte der gegen die Metropole Hamburg ausrichten?

Ich rief alle Zeitungen meines Landkreises an, Lokaljournalisten machten sich auf und fotografierten mich, wie ich mit Gummistiefeln und Windjacke auf dem Landesschutzdeich stand und anklagend mit dem Arm auf den Industriekanal Elbe wies. Aufgrund der Zeitungsartikel erhielt ich viel Zuspruch in der Bevölkerung – allein es änderte sich nichts.

Der Kreistag fiel mit ein. Vor jeder Kreistagssitzung gab es eine Fragestunde. Ich erschien zur Sitzung, stellte mich als Bürgermeister meiner Gemeinde vor und erklärte den Abgeordneten, worum es ging. Die Fraktionsvorsitzenden von SPD, CDU, FDP und Grünen bemühten sich zur Antwort an das Rednerpult und zeigten sich je nach Gewissen- und Interessenlage unterschiedlich betroffen. Es änderte sich nichts.

Ich wandte mich an die zuständigen Landtagsabgeordneten. Man versprach, sich in der Landeshauptstadt Kiel für mein Anliegen stark zu machen. Aber – es geschah nichts.

Eine Eingabe bei den vier Bundestagsabgeordneten meines Landkreises wurde nur vom Abgeordneten der Grünen beantwortet, er sei der absolut gleichen Meinung wie ich, leider habe man jedoch nicht die finanziellen Mittel zur Verfügung, um Abhilfe zu schaffen..

Ich bat den Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg um ein Gespräch. Sein Büro bedeutete mir, mein Hamburger Kollege sei äußerst beschäftigt, einen Termin könne man mir frühestens in einem dreiviertel Jahr in Aussicht stellen. In einem dreiviertel Jahr konnte die Elbmarsch nach einem verheerenden Deichbruch längst unter Wasser stehen!

So kam ich nicht weiter. Ich mußte mir etwas wirkungsvolleres ausdenken. Ich malte ein Plakat: "Deicherhöhung! Nichtstun ist Mord!" Damit erschien ich auf einer Öffentlichkeitsveranstaltung des Hamburger Bürgermeisters. Ich bezog Posten in Nähe der Journalisten. Als der Bürgermeister ans Rednerpult trat, schwenkte ich mein Plakat und brüllte: "Deicherhöhung, nieder mit der Containerlobby!" Die Bodyguards sahen das jedoch nicht gern und drängten mich ziemlich ruppig aus dem Saal.

Schließlich schleppte ich das Plakat und eine Campingliege in die Hamburger Hauptkirche St. Michaelis. Ich legte mich im Trainingsanzug auf die Liege. Dem anrückenden Hauptpastor und erklärte ich, dies sei der Hungerstreik eines verzweifelten Provinzbürgermeisters und erzählte ihm von meinen vergeblichen Bemühungen. Der Pastor schüttelte bekümmert den Kopf und rief über mein Handy im Rathaus an.

Zwei Stunden später erschien Hamburgs Bürgermeister mit 20 Journalisten im Schlepptau vor meiner Campingliege und hielt eine markige Rede. Die Metropolregion Hamburg werde sich nicht ihrer Verantwortung gegenüber den kleinen Elbgemeinden entziehen. Man werde unverzüglich die notwendigen Schritte einleiten.

Ich hatte gesiegt.

Nun sitze ich hier am Fenster und schaue hinaus. Draußen tobt ein böiger Nordwest. Heute Nacht ist Vollmond, Springtide. Im Radio haben sie vor einer sehr schweren Sturmflut gewarnt. Aber hinter diesen schönen vergitterten Fenstern bin ich sicher. Sie hatten wirklich unverzüglich die notwendigen Schritte eingeleitet.. Natürlich wurden die Deiche nicht erhöht. Aber mich brachte ein Krankenwagen in die Psychiatrie, wo ich seither gut umsorgt, angstfrei und glücklich lebe.
 

bassimax

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hallo libell!

zum ersten, ich finde die geschichte ist stilistisch gut geschrieben. Zum anderen gefiel mir die Schilderung, wie
der bürgermeister besorgt in der nacht auf dem damm stand.
es kam atmosphäre rüber.
was dann folgte habe ich als infotainment empfunden.
man hat dinge über deiche, wasserstände, zuständigkeiten,
und die instanzen an welche sich ein bürgermeister wenden
kann erfahren. und man merkt das du in dieser hinsicht
recht gebildet sein musst. aber ich fand das nicht besonders
aufregend.
das ende im irrenhaus fand ich deshalb gut, weil es
die arg sachliche ebene verlassen hat. dennoch ist es
nicht logisch das der bürgermeister eingeliefert wurde.
denn schliesslich hat man ihm recht gegeben, und mass-
nahmen ergriffen. oder wurde er gar nicht wegen seiner
resistenz eingeliefert?
insgesamt ein interessanter ansatz, aber überwiegend
zu sachlich.
grüsse
sebastian
 



 
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