Gräuzberg

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dem deutschen Bundesinnenminister zur Erbauung

… und über ihnen die Sichel des Mondes

Gräuzberg

Suleika schaut gedankenverloren über die Grenze. Von ihrer lauschigen Bank auf der Anhöhe beobachtet sie Touristen, die soeben einem Reisebus entsteigen. Die Reiseleiterin weist mit ausladender Gestik auf eine große Tafel hin. Suleika hatte zufällig miterlebt, wie dieses Schild vor drei Jahren aufgestellt worden war. Symbol eines umwälzenden Ereignisses. Das Schild trägt die Inschrift „Willkommen in der Türkei“.

Pragmatische Politiker hatten eingesehen, dass im Fall „Gräuzberg“ der Zug für weitere Integrationsbemühungen abgefahren war. Sie gaben dem Druck der Einwohner nach und ließen eine Volksabstimmung zu, bei der sich die Gräuzberger im Jahr 2018 mit großer Mehrheit für den Anschluss an die Türkei aussprachen – mit allen damit verbundenen Konsequenzen. Wenige Jahre zuvor hatte die Abwanderung der deutschen Bevölkerung Ausmaße erreicht, die diese Entwicklung vorausahnen ließen. Da die Türkei 2015 der EU beigetreten war, erwiesen sich diesbezüglichen Verhandlungen zwischen Deutschland und der Türkei weniger schwierig, als ursprünglich angenommen.
Gräuzberg erhielt eine eigene Regionalregierung und eine eigene Polizei.

In Ankara waren inzwischen liberal gesinnte Leute ans Ruder gekommen. Trotzdem gab es zunächst Probleme, um deren Lösung zäh gerungen wurde. Die Türkei bestand darauf, dass ein Dauerwohnrecht in Gräuzberg nur bekam, wer türkischer Staatsbürger wurde. Als solcher musste er ausreichende türkische Sprachkenntnisse nachweisen. Außerdem wurden Gräuzberg große Teile des muslimisch unterwanderten Nachbarbezirks Noikölln zugeschlagen. So entstand ein Territorium, das aufgrund seiner Größe voll lebensfähig war. Sonntags flanierten nun türkische Pärchen auch in der Hasenheide. Von einem Ghetto konnte keine Rede mehr sein. Die Grenze war ohnehin offen.
Ein sehr wesentliches Zugeständnis musste die Türkei jedoch machen: Die EU verlangte völlige Gleichberechtigung von Mann und Frau. Die Regierung in Ankara musste sich dafür verbürgen, dass die Gräuzberger Imame auf uneinsichtige Männer einwirkten. Was mancher kaum für möglich hielt – es funktionierte.

Suleika denkt noch mit Abscheu an die Männerherrschaft zurück. Nun ist alles deutlich besser geworden.
Man sah auch nicht mehr so viele Männercliquen herumlungern. Dass die Herren der Schöpfung und die Frauen getrennt beteten, nun, das lag eben am vorgeschriebenen unumstößlichen Ritual. So würden die mehr oder weniger frommen Männer auch weiterhin ihre kollektiven malerischen Kniefallübungen zu Ehren Allahs verrichten.
Suleika kann sich immer wieder darüber amüsieren.

Zweifellos aber war ein deutlicher Wandel eingetreten. Die Imame waren zahm geworden.

Unmittelbar nach der Volksabstimmung gab es allerdings Komplikationen.
Ultrakonservative Kräfte forderten die Einstellung des Deutschunterrichts an den Schulen. Doch die Vernunft setzte sich durch. Auch wenn die Deutschen nicht mehr in Gräuzberg wohnen wollten, verfolgten sie doch mit Interesse die weitere Entwicklung. Vor allem die junge Generation wollte die Kontakte nicht abreißen lassen. Auch die verkehrspolitischen Gegebenheiten ließen eine totale Trennung nicht zu. Die öffentlichen Verkehrsmittel blieben in deutscher Hand, die Türkei beteiligte sich an der Finanzierung.
Vor allem aus Bayern, wo man sich grundsätzlich nicht fremdenfreundlich verhielt, wanderten insbesondere ältere Menschen nach Gräuzberg ein, die sich mit der deutschen Sprache schwer taten. Inzwischen hatte der Druck erheblich nachgelassen. Und auch die Probleme der anderen Bundesländer hatten sich auf natürliche Weise erledigt, indem nicht integrierbare Türken nach Gräuzberg ausgewichen oder eben doch ins Heimatland zurückgekehrt waren.
Sarrazin war Schnee von vorgestern. Gräuzberg, diese eine türkische Enklave, konnte und wollte sich die Bundesrepublik leisten, gewissermaßen als Symbol für Toleranz.
Warum sollte in Berlin nicht funktionieren, was in San Franzisko mit der Chinatown gelang!

Gräuzberg blühte auf. Die EU erhob den Stadtstaat zu einer besonders geförderten Region und machte vor allem großzügig Mittel für die Sanierung der zum Teil maroden Bausubstanz locker. Nach wie vor nahmen die Karlottenburger, die Tümpelhoffer, Trapptower und andere Bahliner aus den Nachbarbezirken die Dienste der vielen kleinen türkischen Handwerksbetriebe in Anspruch, zumal sie auch Reparaturen bereitwilliger, schneller und sauberer ausführten als mancher deutsche Betrieb.
Der Tourismus boomte. Für Skandinavier und Polen lagen die bunten Basare praktisch vor der Haustür, der Orient war zum Greifen nah und in der Sonnenallee würde man demnächst winterharte Palmen anpflanzen. Folkloregruppen taten ein Übriges, um zahlungskräftige Besucher anzulocken. Sogar Kamelrennen standen auf dem Programm. Es erhoben sich bereits Stimmen, die vor einem Überangebot an zweifelhaften Volksbelustigungen, wie etwa aufreizende Bauchtanzvorführungen, warnten. Die Bedenken waren nicht unbegründet, zumal das Alkoholverbot nicht mehr respektiert wurde. Unlängst war man wieder über Anisschnapsleichen gestolpert.
Auch eine Übervölkerung Gräuzbergs war schon befürchtet worden. Aber da konnte man gegensteuern, indem man immer mal wieder Zuzugssperren verhängte oder allzu eifrige Eltern, die mehr als 2 Kinder produzierten, nach chinesischem Exempel hart bestrafte.


Suleika, noch eben ganz versonnen, blickt auf und sieht einen guten alten Bekannten auf sich zu kommen. Schick sieht er aus mit seiner edlen Pelzkappe aus Karakul. Heinz hat heute etwas Zeit und fragt Suleika, ob er sich zu ihr setzen und ein bisschen mit ihr plaudern könne.
„Ja, du Beutetürke, du darfst“, sagt Suleika.
Heinz war einer der wenigen Deutschen, die so viel Gefallen an der türkischen Lebensart gefunden hatten, dass sie geblieben waren und die türkische Staatsangehörigkeit annahmen..
„Wie geht’s deiner Fatima?“, fragte Suleika.
„Danke, danke, ausgezeichnet“.
„Und deiner Zweitfrau?“
„Suleika, du weißt so gut wie ich, Kemal Atatürk hat die Bigamie bereits 1926 abgeschafft. „Und darum hat unsere Frauenbewegung auch durchgedrückt, dass ihm am Mechmetdamm, vormals Mehringdamm, ein imposantes Denkmal errichtet wurde“.
Heinz schaut auf die Uhr. Er hat noch eine geschäftliche Verabredung. Er will sich von Suleika verabschieden, doch sie hält ihn fest.
„Du hast meine Frage noch nicht beantwortet“.
„Du bist ein Biest, Suleika. Ich habe keine Zweitfrau. Salam alaikum“.

Heinz hatte vor zwei Jahren geheiratet. Er und Fatima hatten einen schwierigen Start. Fatimas Eltern waren mit der Wahl der Tochter einverstanden, aber die übrige Sippschaft war nicht gut auf Heinz zu sprechen. Mit seinem Übertritt zum Islam war das Problem aus der Welt geschafft.
Ein paar Tage später läuft ihm Suleika wieder über den Weg. Sie muss schon wieder sticheln.
„Sag mal, Heinz, wie fühlst du dich eigentlich als Moslem?“
„Na ja, ein ganz echter wird nie aus mir werden. Den Ramadan mit all seinen Begleiterscheinungen finde ich ziemlich skurril, doch als Disziplinübung taugt er durchaus“.
„Aber ab und zu mal ein gutes Schweineschnitzel, das vermisst du doch bestimmt?“
„Du irrst. Ein deftiger Lammbraten ist mir inzwischen lieber. Aber wenn du mich fragst, ob ich auch immer den Rufen des Muezzins folge, dann kann ich nur sagen „je nach Lust und Laune“. Allah sei Dank, erwartet man von mir nicht, dass ich mir ständig die Schuhe ausziehe und in die Moschee renne. Immerhin habe ich neulich bei meiner Schwiegermutter einen guten Eindruck hinterlassen, als sie mich beim Koranstudium überraschte“.
Suleika grinst. „Aus dir wird doch noch ein Mustertürke, inschalla!“

Morgen würde der Mustertürke wieder hinüberpendeln nach Deutschland, wo er als Dolmetscher und Übersetzer sehr gefragt ist, nämlich im 2 km entfernten Reichstagsgebäude. Seine Steuern zahlt er natürlich brav an die Türkei

Heinz denkt über Vergangenheit und Zukunft nach. Ende der 50er Jahre waren die ersten Gastarbeiter gekommen. 1977 waren schon fast 4 Millionen (einschließlich ihrer Familienangehörigen) in der Bundesrepublik gemeldet. Nur wenige Jahre später war Gräuzberg eine Türkenhochburg.
Doch um 2030 würde es dort wohl kaum noch einen Türken geben, der nicht auch die deutsche Sprache oder mindestens das gut verständliche Kanakische* beherrschte. Zeit für eine neue Volksabstimmung? Was auch immer dabei herauskam: Kleinasien würde Wurzeln geschlagen haben und lebendig bleiben – vielleicht auch in Gestalt einer hübschen Tochter, die alle Vorzüge von Orient und Okzident in sich vereinigte.

Heinz ist wieder in der Gegenwart angekommen. Morgen wird er sich eine neue Wasserpfeife kaufen. Und Suleika? Die wird morgen gegen den Koran verstoßen und sich ein schönes großes Schweineschnitzel braten. Aber das muss sie ja Heinz nicht auf die Nase binden.

…………………………………………………………………………………
*Ein kleines Beispiel: Ich Türke, ich arbeiten – du deutsch, du ausruhn.
 

petrasmiles

Mitglied
Hallo Eberhard,

das ist eine interessante Utopie mit witzigen 'Unkenntlichmachungen' von real existierenden Orten. Allerdings durchbrichst Du dieses Muster an einer Stelle:

Warum sollte in Berlin nicht funktionieren, was in San Franzisko mit der Chinatown gelang!
Dieser Satz fällt auch durch die Hervorhebung in halbfett aus dem Rahmen. Was bedeutet das? Ob eine solche Enklave auch in politischer Hinsicht in den USA existiert, ist doch für Deine Geschichte unerheblich, oder?

Dein Text gefällt mir sprachlich gut.

Nur irgendwie fehlt mir die Pointe und das liegt vielleicht an dem Untertitel 'dem Bundesinnenministerium zur Erbauung', das hat so etwas nicht wirklich greifbares aber doch 'gschmäcklerisches'.
Ich glaube bei so einer Utopie oder Satire, wie du es auch nennen magst, gehört eine eindeutige Position dazu, wen Du gerade 'satirisch' aufs Korn nimmst. Ich habe aber den Eindruck, dass du eine 'türkische Idylle' zeichnest, nach der fast 'alle' Probleme eines problematischen Viertels und eines schwierigen Miteinanders gelöst sind, aber dann kommt der Untertitel ins Spiel, und die Frage stellt sich: Soll sich das Ministerium Deine 'Satire' zum Vorbild nehmen, in etwa 'wenn sie sich nicht integrieren wollen, dann schmeiß' sie doch raus und lass sie ihre Türkei hier haben, dann soll aber auch jemand anderes dafür aufkommen. Und wer von den Deutschen auf diese Kultur nicht verzichten mag, der kann ja türkisch lernen und die Staatsbürgerschaft wechseln.
Das ist jetzt ein bisschen dick aufgetragen, aber meines Erachtens lässt Deine 'Offenheit' in Sachen Position beziehen Spielraum für solche Einschätzungen - und damit wäre das ein ausländerfeindlicher Text und keine Satire.

Ich bin kein Anhänger des 'political correctness', weil er nur Heuchelei befördert und langfristig jede freie Meinungsäußerung erstarren lässt. Aber es gibt Grenzen für die freie Meinungsäußerung, und die ist bei Ausländerfeindlichkeit überschritten.
Wohlgemerkt: Ich unterstelle Dir keine Ausländerfeindlichkeit, aber ich würde mir wünschen, dass Dein Text klarer herausarbeitet, wer mit wem und über wen oder was lachen soll.

Liebe Grüße
Petra
 
Liebe Petra!

Zunächst meine Bewunderung für Deine schnelle Reaktion. Ich beneide Dich um Deine Routine. Vor wenigen Stunden hatte ich meinen Text erst eingestellt. Der Inhalt hat Dich ja regelrecht beflügelt.
Aber zur Sache:
Du hast mir Mut gemacht, mich offen als Multikulti-Anhänger zu bekennen. Andererseits weiß ich recht genau Bescheid um die großen realen Probleme, die in Kreuzberg und Neukölln herrschen.
Ich würde es für richtig halten, wenn in diesem Gebiet der Zwang zum Deutsch lernen aufgehoben würde. Eine gewisse Autonomie sollte man dieser Zone zugestehen. Defacto besteht
sie ja schon.
Mein Werk werde ich also umgestalten und viele Passagen, die allzu detaillierte Überlegungen enthalten, streichen. Es soll sich also vergnüglich lesen aber zu ernsthaftem Nachdenken anregen.
Meine eigene Position werde ich in einem kursiv geschriebenen
Anhang zum Ausdruck bringen und darin auch meinen Vergleich mit San Franziskos Chinatown unterbringen.
Als Nächstes werde ich mich über die wohl auch in der Chinatown bestehenden Probleme informieren.
Jedenfalls muss ich mir etwas Zeit lassen, denn mir ist dieses mein Werk wirklich wichtig.
Wenn Du weitere Vorschläge hast, nehme ich sie gern entgegen.
Liebe Grüße
Eberhard
 
… und über ihnen die Sichel des Mondes

Gräuzberg


Suleika schaut gedankenverloren über die Grenze. Von ihrer lauschigen Bank auf der Anhöhe beobachtet sie Touristen, die soeben einem Reisebus entsteigen. Die Reiseleiterin weist mit ausladender Gestik auf eine große Tafel hin. Suleika hatte zufällig miterlebt, wie dieses Schild vor drei Jahren aufgestellt worden war. Symbol eines umwälzenden Ereignisses. Das Schild trägt die Inschrift „Willkommen in der Türkei“.
Pragmatische Politiker hatten eingesehen, dass im Fall „Gräuzberg“ der Zug für weitere Integrationsbemühungen abgefahren war. Sie gaben dem Druck der Einwohner nach und ließen eine Volksabstimmung zu, bei der sich die Gräuzberger im Jahr 2018 mit großer Mehrheit für den Anschluss an die Türkei aussprachen. Da die Türkei 2015 der EU beigetreten war, erwiesen sich diesbezüglichen Verhandlungen zwischen Deutschland und der Türkei weniger schwierig, als ursprünglich angenommen.
Gräuzberg erhielt eine eigene Regionalregierung und eine eigene Polizei.

Gräuzberg wurden auch große Teile des stark von Türken besiedelten Nachbarbezirks Noikölln zugeschlagen. So entstand ein Territorium, das aufgrund seiner Größe voll lebensfähig war. Sonntags flanierten nun türkische Pärchen auch in der Hasenheide. Von einem Ghetto konnte keine Rede mehr sein. Die Grenze war ohnehin offen.
Ein sehr wesentliches Zugeständnis musste die Türkei jedoch machen: Die EU verlangte völlige Gleichberechtigung von Mann und Frau. Die Regierung in Ankara musste sich dafür verbürgen, dass die Gräuzberger Imame auf uneinsichtige Männer einwirkten. Was mancher kaum für möglich hielt – es funktionierte.
Suleika denkt noch mit Abscheu an die Männerherrschaft zurück. Nun ist alles deutlich besser geworden.
Man sah auch nicht mehr so viele Männercliquen herumlungern. Dass die Herren der Schöpfung und die Frauen getrennt beteten, nun, das lag eben am vorgeschriebenen unumstößlichen Ritual. So würden die mehr oder weniger frommen Männer auch weiterhin ihre kollektiven malerischen Kniefallübungen zu Ehren Allahs verrichten.
Suleika kann sich immer wieder darüber amüsieren.

Zweifellos aber war ein deutlicher Wandel eingetreten. Die Imame waren zahm geworden.

Unmittelbar nach der Volksabstimmung gab es allerdings Komplikationen.
Ultrakonservative Kräfte forderten die Einstellung des Deutschunterrichts an den Schulen. Doch die Vernunft setzte sich durch. Auch wenn die Deutschen nicht mehr in Gräuzberg wohnen wollten, verfolgten sie doch mit Interesse die weitere Entwicklung. Vor allem die junge Generation wollte die Kontakte nicht abreißen lassen. Auch die verkehrspolitischen Gegebenheiten ließen eine totale Trennung nicht zu. Die öffentlichen Verkehrsmittel blieben in deutscher Hand, die Türkei beteiligte sich an der Finanzierung.
Vor allem aus Bayern, wo man sich grundsätzlich nicht fremdenfreundlich verhielt, wanderten insbesondere ältere Menschen nach Gräuzberg ein, die sich mit der deutschen Sprache schwer taten. Inzwischen hatte der Druck erheblich nachgelassen. Und auch die Probleme der anderen Bundesländer hatten sich auf natürliche Weise erledigt, indem nicht integrierbare Türken nach Gräuzberg ausgewichen oder eben doch ins Heimatland zurückgekehrt waren.
Sarrazin war Schnee von vorgestern. Gräuzberg, diese eine türkische Enklave, konnte und wollte sich die Bundesrepublik leisten, gewissermaßen als Symbol für Toleranz

Gräuzberg blühte auf. Die EU erhob den Stadtstaat zu einer besonders geförderten Region und machte vor allem großzügig Mittel für die Sanierung der zum Teil maroden Bausubstanz locker. Nach wie vor nahmen die Karlottenburger, die Tümpelhoffer, Trapptower und andere Bahliner aus den Nachbarbezirken die Dienste der vielen kleinen türkischen Handwerksbetriebe in Anspruch, zumal sie auch Reparaturen bereitwilliger, schneller und sauberer ausführten als mancher deutsche Betrieb.
Der Tourismus boomte. Für Skandinavier und Polen lagen die bunten Basare praktisch vor der Haustür, der Orient war zum Greifen nah und in der Sonnenallee würde man demnächst winterharte Palmen anpflanzen. Folkloregruppen taten ein Übriges, um zahlungskräftige Besucher anzulocken. Sogar Kamelrennen standen auf dem Programm. Es erhoben sich bereits Stimmen, die vor einem Überangebot an zweifelhaften Volksbelustigungen, wie etwa aufreizende Bauchtanzvorführungen, warnten. Die Bedenken waren nicht unbegründet, zumal das Alkoholverbot nicht mehr respektiert wurde. Unlängst war man wieder über Anisschnapsleichen gestolpert.
Auch eine Übervölkerung Gräuzbergs war schon befürchtet worden. Aber da konnte man gegensteuern, indem man immer mal wieder Zuzugssperren verhängte oder allzu eifrige Eltern, die mehr als 2 Kinder produzierten, nach chinesischem Exempel hart bestrafte.


Suleika, noch eben ganz versonnen, blickt auf und sieht einen guten alten Bekannten auf sich zu kommen. Schick sieht er aus mit seiner edlen Pelzkappe aus Karakul. Heinz hat heute etwas Zeit und fragt Suleika, ob er sich zu ihr setzen und ein bisschen mit ihr plaudern dürfe.
„Ja, du Beutetürke, du darfst“, sagte Suleika.
Heinz war einer der wenigen Deutschen, die so viel Gefallen an der türkischen Lebensart gefunden hatten, dass sie geblieben waren und die türkische Staatsangehörigkeit annahmen.
„Wie geht’s deiner Fatima?“, fragte Suleika.
„Danke, danke, ausgezeichnet“.
„Und deiner Zweitfrau?“
„Suleika, du weißt so gut wie ich, Kemal Atatürk hat die Bigamie bereits 1926 abgeschafft. „Und darum hat unsere Frauenbewegung auch durchgedrückt, dass ihm am Mechmetdamm, vormals Mehringdamm, ein imposantes Denkmal errichtet wurde“.
Heinz schaut auf die Uhr. Er hat noch eine geschäftliche Verabredung. Er will sich von Suleika verabschieden, doch sie hält ihn fest.
„Du hast meine Frage noch nicht beantwortet“.
„Du bist ein Biest, Suleika. Ich habe keine Zweitfrau. Salam aleikum“.

Heinz hatte vor zwei Jahren geheiratet. Er und Fatima hatten einen schwierigen Start. Fatimas Eltern waren mit der Wahl der Tochter einverstanden, aber die übrige Sippschaft war nicht gut auf Heinz zu sprechen. Mit seinem Übertritt zum Islam war das Problem aus der Welt geschafft.
Ein paar Tage später läuft ihm Suleika wieder über den Weg. Sie muss schon wieder sticheln.
„Sag mal, Heinz, wie fühlst du dich eigentlich als Moslem?“
„Na ja, ein ganz echter wird nie aus mir werden. Den Ramadan mit all seinen Begleiterscheinungen finde ich ziemlich skurril, doch als Disziplinübung taugt er durchaus“.
„Aber ab und zu mal ein gutes Schweineschnitzel, das vermisst du doch bestimmt?“
„Du irrst. Ein deftiger Lammbraten ist mir inzwischen lieber. Aber wenn du mich fragst, ob ich auch immer den Rufen des Muezzins folge, dann kann ich nur sagen „je nach Lust und Laune“. Allah sei Dank, erwartet man von mir nicht, dass ich mir ständig die Schuhe ausziehe und in die Moschee renne. Immerhin habe ich neulich bei meiner Schwiegermutter einen guten Eindruck hinterlassen, als sie mich beim Koranstudium überraschte“.
Suleika grinst. „Aus dir wird doch noch ein Mustertürke, inschalla!“

Morgen würde der Mustertürke wieder hinüberpendeln nach Deutschland, wo er als Dolmetscher und Übersetzer sehr gefragt ist, nämlich im 2 km entfernten Reichstagsgebäude. Seine Steuern zahlt er natürlich brav an die Türkei

Heinz denkt über Vergangenheit und Zukunft nach. Ende der 50er Jahre waren die ersten Gastarbeiter gekommen. 1977 waren schon fast 4 Millionen (einschließlich ihrer Familienangehörigen) in der Bundesrepublik gemeldet. Nur wenige Jahre später war Gräuzberg eine Türkenhochburg.
Doch um 2030 würde es dort wohl kaum noch einen Türken geben, der nicht auch die deutsche Sprache oder mindestens das gut verständliche Kanakische* beherrschte. Zeit für eine neue Volksabstimmung? Was auch immer dabei herauskam: Kleinasien würde Wurzeln geschlagen haben und lebendig bleiben – vielleicht auch in Gestalt einer hübschen Tochter, die alle Vorzüge von Orient und Okzident in sich vereinigte.

Heinz ist wieder in der Gegenwart angekommen. Morgen wird er sich eine neue Wasserpfeife kaufen. Und Suleika? Die wird morgen gegen den Koran verstoßen und sich ein schönes großes Schweineschnitzel braten. Aber das muss sie ja Heinz nicht auf die Nase binden.
…………………………………………………………………………………
*Ein kleines Beispiel: Ich Türke, ich arbeiten – du deutsch, du ausruhn.


Eine Utopie? In dieser Form sicher.
Aber:
Eine gewisse Autonomie sollte man der Region Kreuzberg zugestehen, beginnend mit der Aufhebung des Zwangs zum Erlernen der deutschen Sprache. Das würde den Druck aus dem Kessel nehmen und die Aggressivität türkischer Jugendlicher bremsen, Für Deutsche und Türken sollten eigene Schulen geschaffen werden, an denen aber die Sprache des jeweiligen anderen Landes als Lernfach angeboten wird. Gemeinsame Kulturveranstaltungen und Begegnungsstätten wie Sportvereine, Musikschulen, Theatergruppen usw. würden Brücken schlagen. Das setzt allerdings auch eine gewisse Bereitschaft deutscher Bewohner voraus, sich mit der türkischen Sprache auseinanderzusetzen.
So könnte Kreuzberg zu einem Schmelztiegel der Kulturen werden.
Warum sollte in Berlin nicht funktionieren, was in New York und San Franzisko mit den Chinatowns gelang?

Nach wie vor gilt: Wer einen deutschen Pass erwerben will, muss auch die deutsche Sprache einigermaßen beherrschen.

Im Grunde steht hinter allem eine viel größere Problematik, die ein Gotthold Ephraim Lessing heute vielleicht umreißen würde mit den Worten:

„Theisten und Atheisten aller Länder vereinigt Euch – und besinnt Euch auf eine gemeinsame Ethik!“
 
Hallo Petra!

Habe soeben mein korrigiertes Werk eingestellt.
Die Schluss-Sätze werde ich wohl wieder löschen, ich möchte aber vorher gern wissen, wie sie verstanden werden.
Lieben Gruß
Eberhard
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Eberhard,

da ist jetzt keine 'Verständnislücke' mehr vorhanden, die zu Missverständnissen führen könnte. Gefällt mir gut.
Ich glaube, das Zusammenleben funktioniert gut, wenn man sich als Fremder auch zu Hause fühlen kann.
Ich erlebe es immer wieder, dass auch Deutsche im Ausland 'Kolonien' bilden und sich zusammen tun, um gemeinsame Gewohnheiten zu pflegen. Ich habe mich immer gewundert, warum dies bei den 'Gastarbeitern' hier nie als ein menschliches - kulturelles - Grundbedürfnis verstanden wurde.

Eines ist mir beim erneuten Lesen noch aufgefallen: Vielleicht müsstest Du das mögliche Problem einer Überbevölkerung nicht unbedingt lösen wollen; diese 'chinesische Politik' ist nicht nachahmenswert.
Im Gegenteil könnte ich mir vorstellen, dass sich bei einer solchen Enklave eigene Mechanismen herausbilden. Und da die Türkei ja dann in der EU ist, gäbe es ja sowieso Freizügigkeit.
Das regelt sich :)

In diesen Sinne
liebe Grüße
Petra
 
… und über ihnen die Sichel des Mondes

Gräuzberg


Suleika schaut gedankenverloren über die Grenze. Von ihrer lauschigen Bank auf der Anhöhe beobachtet sie Touristen, die soeben einem Reisebus entsteigen. Die Reiseleiterin weist mit ausladender Gestik auf eine große Tafel hin. Suleika hatte zufällig miterlebt, wie dieses Schild vor drei Jahren aufgestellt worden war. Symbol eines umwälzenden Ereignisses. Das Schild trägt die Inschrift „Willkommen in der Türkei“.
Pragmatische Politiker hatten eingesehen, dass im Fall „Gräuzberg“ der Zug für weitere Integrationsbemühungen abgefahren war. Sie gaben dem Druck der Einwohner nach und ließen eine Volksabstimmung zu, bei der sich die Gräuzberger im Jahr 2018 mit großer Mehrheit für den Anschluss an die Türkei aussprachen. Da die Türkei 2015 der EU beigetreten war, erwiesen sich diesbezüglichen Verhandlungen zwischen Deutschland und der Türkei weniger schwierig, als ursprünglich angenommen.
Gräuzberg erhielt eine eigene Regionalregierung und eine eigene Polizei.

Gräuzberg wurden auch große Teile des stark von Türken besiedelten Nachbarbezirks Noikölln zugeschlagen. So entstand ein Territorium, das aufgrund seiner Größe voll lebensfähig war. Sonntags flanierten nun türkische Pärchen auch in der Hasenheide. Von einem Ghetto konnte keine Rede mehr sein. Die Grenze war ohnehin offen.
Ein sehr wesentliches Zugeständnis musste die Türkei jedoch machen: Die EU verlangte völlige Gleichberechtigung von Mann und Frau. Die Regierung in Ankara musste sich dafür verbürgen, dass die Gräuzberger Imame auf uneinsichtige Männer einwirkten. Was mancher kaum für möglich hielt – es funktionierte.
Suleika denkt noch mit Abscheu an die Männerherrschaft zurück. Nun ist alles deutlich besser geworden.
Man sah auch nicht mehr so viele Männercliquen herumlungern. Dass die Herren der Schöpfung und die Frauen getrennt beteten, nun, das lag eben am vorgeschriebenen unumstößlichen Ritual. So würden die mehr oder weniger frommen Männer auch weiterhin ihre kollektiven malerischen Kniefallübungen zu Ehren Allahs verrichten.
Suleika kann sich immer wieder darüber amüsieren.

Zweifellos aber war ein deutlicher Wandel eingetreten. Die Imame waren zahm geworden.

Unmittelbar nach der Volksabstimmung gab es allerdings Komplikationen.
Ultrakonservative Kräfte forderten die Einstellung des Deutschunterrichts an den Schulen. Doch die Vernunft setzte sich durch. Auch wenn die Deutschen nicht mehr in Gräuzberg wohnen wollten, verfolgten sie doch mit Interesse die weitere Entwicklung. Vor allem die junge Generation wollte die Kontakte nicht abreißen lassen. Auch die verkehrspolitischen Gegebenheiten ließen eine totale Trennung nicht zu. Die öffentlichen Verkehrsmittel blieben in deutscher Hand, die Türkei beteiligte sich an der Finanzierung.
Vor allem aus Bayern, wo man sich grundsätzlich nicht fremdenfreundlich verhielt, wanderten insbesondere ältere Menschen nach Gräuzberg ein, die sich mit der deutschen Sprache schwer taten. Inzwischen hatte der Druck erheblich nachgelassen. Und auch die Probleme der anderen Bundesländer hatten sich auf natürliche Weise erledigt, indem nicht integrierbare Türken nach Gräuzberg ausgewichen oder eben doch ins Heimatland zurückgekehrt waren.
Sarrazin war Schnee von vorgestern. Gräuzberg, diese eine türkische Enklave, konnte und wollte sich die Bundesrepublik leisten, gewissermaßen als Symbol für Toleranz

Gräuzberg blühte auf. Die EU erhob den Stadtstaat zu einer besonders geförderten Region und machte vor allem großzügig Mittel für die Sanierung der zum Teil maroden Bausubstanz locker. Nach wie vor nahmen die Karlottenburger, die Tümpelhoffer, Trapptower und andere Bahliner aus den Nachbarbezirken die Dienste der vielen kleinen türkischen Handwerksbetriebe in Anspruch, zumal sie auch Reparaturen bereitwilliger, schneller und sauberer ausführten als mancher deutsche Betrieb.
Der Tourismus boomte. Für Skandinavier und Polen lagen die bunten Basare praktisch vor der Haustür, der Orient war zum Greifen nah und in der Sonnenallee würde man demnächst winterharte Palmen anpflanzen. Folkloregruppen taten ein Übriges, um zahlungskräftige Besucher anzulocken. Sogar Kamelrennen standen auf dem Programm. Es erhoben sich bereits Stimmen, die vor einem Überangebot an zweifelhaften Volksbelustigungen, wie etwa aufreizende Bauchtanzvorführungen, warnten. Die Bedenken waren nicht unbegründet, zumal das Alkoholverbot nicht mehr respektiert wurde. Unlängst war man wieder über Anisschnapsleichen gestolpert.

Suleika, noch eben ganz versonnen, blickt auf und sieht einen guten alten Bekannten auf sich zu kommen. Schick sieht er aus mit seiner edlen Pelzkappe aus Karakul. Heinz hat heute etwas Zeit und fragt Suleika, ob er sich zu ihr setzen und ein bisschen mit ihr plaudern dürfe.
„Ja, du Beutetürke, du darfst“, sagte Suleika.
Heinz war einer der wenigen Deutschen, die so viel Gefallen an der türkischen Lebensart gefunden hatten, dass sie geblieben waren und die türkische Staatsangehörigkeit annahmen.
„Wie geht’s deiner Fatima?“, fragte Suleika.
„Danke, danke, ausgezeichnet“.
„Und deiner Zweitfrau?“
„Suleika, du weißt so gut wie ich, Kemal Atatürk hat die Bigamie bereits 1926 abgeschafft. „Und darum hat unsere Frauenbewegung auch durchgedrückt, dass ihm am Mechmetdamm, vormals Mehringdamm, ein imposantes Denkmal errichtet wurde“.
Heinz schaut auf die Uhr. Er hat noch eine geschäftliche Verabredung. Er will sich von Suleika verabschieden, doch sie hält ihn fest.
„Du hast meine Frage noch nicht beantwortet“.
„Du bist ein Biest, Suleika. Ich habe keine Zweitfrau. Salam aleikum“.

Heinz hatte vor zwei Jahren geheiratet. Er und Fatima hatten einen schwierigen Start. Fatimas Eltern waren mit der Wahl der Tochter einverstanden, aber die übrige Sippschaft war nicht gut auf Heinz zu sprechen. Mit seinem Übertritt zum Islam war das Problem aus der Welt geschafft.
Ein paar Tage später läuft ihm Suleika wieder über den Weg. Sie muss schon wieder sticheln.
„Sag mal, Heinz, wie fühlst du dich eigentlich als Moslem?“
„Na ja, ein ganz echter wird nie aus mir werden. Den Ramadan mit all seinen Begleiterscheinungen finde ich ziemlich skurril, doch als Disziplinübung taugt er durchaus“.
„Aber ab und zu mal ein gutes Schweineschnitzel, das vermisst du doch bestimmt?“
„Du irrst. Ein deftiger Lammbraten ist mir inzwischen lieber. Aber wenn du mich fragst, ob ich auch immer den Rufen des Muezzins folge, dann kann ich nur sagen „je nach Lust und Laune“. Allah sei Dank, erwartet man von mir nicht, dass ich mir ständig die Schuhe ausziehe und in die Moschee renne. Immerhin habe ich neulich bei meiner Schwiegermutter einen guten Eindruck hinterlassen, als sie mich beim Koranstudium überraschte“.
Suleika grinst. „Aus dir wird doch noch ein Mustertürke, inschalla!“

Morgen würde der Mustertürke wieder hinüberpendeln nach Deutschland, wo er als Dolmetscher und Übersetzer sehr gefragt ist, nämlich im 2 km entfernten Reichstagsgebäude. Seine Steuern zahlt er natürlich brav an die Türkei

Heinz denkt über Vergangenheit und Zukunft nach. Ende der 50er Jahre waren die ersten Gastarbeiter gekommen. 1977 waren schon fast 4 Millionen (einschließlich ihrer Familienangehörigen) in der Bundesrepublik gemeldet. Nur wenige Jahre später war Gräuzberg eine Türkenhochburg.
Doch um 2030 würde es dort wohl kaum noch einen Türken geben, der nicht auch die deutsche Sprache oder mindestens das gut verständliche Kanakische* beherrschte. Zeit für eine neue Volksabstimmung? Was auch immer dabei herauskam: Kleinasien würde Wurzeln geschlagen haben und lebendig bleiben – vielleicht auch in Gestalt einer hübschen Tochter, die alle Vorzüge von Orient und Okzident in sich vereinigte.

Heinz ist wieder in der Gegenwart angekommen. Morgen wird er sich eine neue Wasserpfeife kaufen. Und Suleika? Die wird morgen gegen den Koran verstoßen und sich ein schönes großes Schweineschnitzel braten. Aber das muss sie ja Heinz nicht auf die Nase binden.
…………………………………………………………………………………
*Ein kleines Beispiel: Ich Türke, ich arbeiten – du deutsch, du ausruhn.


Eine Utopie? In dieser Form sicher.
Aber:
Eine gewisse Autonomie sollte man der Region Kreuzberg zugestehen, beginnend mit der Aufhebung des Zwangs zum Erlernen der deutschen Sprache. Das würde den Druck aus dem Kessel nehmen und die Aggressivität türkischer Jugendlicher bremsen, Für Deutsche und Türken sollten eigene Schulen geschaffen werden, an denen aber die Sprache des jeweiligen anderen Landes als Lernfach angeboten wird. Gemeinsame Kulturveranstaltungen und Begegnungsstätten wie Sportvereine, Musikschulen, Theatergruppen usw. würden Brücken schlagen. Das setzt allerdings auch eine gewisse Bereitschaft deutscher Bewohner voraus, sich mit der türkischen Sprache auseinanderzusetzen.
So könnte Kreuzberg zu einem Schmelztiegel der Kulturen werden, zumal nach einem durchaus wahrscheinlichen Beitritt der Türkei zur EU mehr Fördergelder zur Verfügung stünden.

Warum sollte in Berlin nicht funktionieren, was in New York und San Franzisko mit den Chinatowns gelang?

Ein durchaus ernst zu nehmender Einwand wäre, dass die Aufnahmekapazität von Kreuzberg zu begrenzt ist, wenn man die hohe Zahl der bei uns lebenden Türken bedenkt. Darum sei hier mal eine zweite autonome Zone, etwa im Raum Duisburg angedacht.

Nach wie vor gilt: Wer einen deutschen Pass erwerben will, muss auch die deutsche Sprache einigermaßen beherrschen.

Im Grunde steht hinter allem eine viel größere Problematik, die ein Gotthold Ephraim Lessing heute vielleicht umreißen würde mit den Worten:

„Theisten und Atheisten aller Länder vereinigt Euch – und besinnt Euch auf eine gemeinsame Ethik!“
 
Liebe Petra!
Ich freue mich über die Übereinstimmung unserer Ansichten. Die Chinesen habe ich entfernt, aber das angesprochene Problem der Übervölkerung mit Hinweis auf eine mögliche 2. Enklave (im kursiv geschriebenen Anhang) kurz angetippt.
Bei einem Freund, der im Ruhrgebiet wohnt, bin ich mit meinem Beitrag bös angeeckt. Sein Kommentar: Tallaken raus!
Ich bin auf dem besten Weg, Atheist zu werden.
Christen, Juden und Moslems sollten sich auf eine gemeinsame Ethik besinnen und diese verdammten obsoleten Rituale über Bord werfen. Ich selbst würde gern an einen Gott glauben, aber ich kann es nicht mehr.
Mein Beitrag wird übrigens eifrig gelsen, aber nur wenige wollen das heiße Eisen anfassen.
Liebe Grüße
Eberhard
 
… und über ihnen die Sichel des Mondes

Gräuzberg


Suleika schaut gedankenverloren über die Grenze. Von ihrer lauschigen Bank auf der Anhöhe beobachtet sie Touristen, die soeben einem Reisebus entsteigen. Die Reiseleiterin weist mit ausladender Gestik auf eine große Tafel hin. Suleika hatte zufällig miterlebt, wie dieses Schild vor drei Jahren aufgestellt worden war. Symbol eines umwälzenden Ereignisses. Das Schild trägt die Inschrift „Willkommen in der Türkei“.
Pragmatische Politiker hatten eingesehen, dass im Fall „Gräuzberg“ der Zug für weitere Integrationsbemühungen abgefahren war. Sie gaben dem Druck der Einwohner nach und ließen eine Volksabstimmung zu, bei der sich die Gräuzberger im Jahr 2018 mit großer Mehrheit für den Anschluss an die Türkei aussprachen. Da die Türkei 2015 der EU beigetreten war, erwiesen sich diesbezüglichen Verhandlungen zwischen Deutschland und der Türkei weniger schwierig, als ursprünglich angenommen.
Gräuzberg erhielt eine eigene Regionalregierung und eine eigene Polizei.

Gräuzberg wurden auch große Teile des stark von Türken besiedelten Nachbarbezirks Noikölln zugeschlagen. So entstand ein Territorium, das aufgrund seiner Größe voll lebensfähig war. Sonntags flanierten nun türkische Pärchen auch in der Hasenheide. Von einem Ghetto konnte keine Rede mehr sein. Die Grenze war ohnehin offen.
Ein sehr wesentliches Zugeständnis musste die Türkei jedoch machen: Die EU verlangte völlige Gleichberechtigung von Mann und Frau. Die Regierung in Ankara musste sich dafür verbürgen, dass die Gräuzberger Imame auf uneinsichtige Männer einwirkten. Was mancher kaum für möglich hielt – es funktionierte.
Suleika denkt noch mit Abscheu an die Männerherrschaft zurück. Nun ist alles deutlich besser geworden.
Man sah auch nicht mehr so viele Männercliquen herumlungern. Dass die Herren der Schöpfung und die Frauen getrennt beteten, nun, das lag eben am vorgeschriebenen unumstößlichen Ritual. So würden die mehr oder weniger frommen Männer auch weiterhin ihre kollektiven malerischen Kniefallübungen zu Ehren Allahs verrichten.
Suleika kann sich immer wieder darüber amüsieren.

Zweifellos aber war ein deutlicher Wandel eingetreten. Die Imame waren zahm geworden.

Unmittelbar nach der Volksabstimmung gab es allerdings Komplikationen.
Ultrakonservative Kräfte forderten die Einstellung des Deutschunterrichts an den Schulen. Doch die Vernunft setzte sich durch. Auch wenn die Deutschen nicht mehr in Gräuzberg wohnen wollten, verfolgten sie doch mit Interesse die weitere Entwicklung. Vor allem die junge Generation wollte die Kontakte nicht abreißen lassen. Auch die verkehrspolitischen Gegebenheiten ließen eine totale Trennung nicht zu. Die öffentlichen Verkehrsmittel blieben in deutscher Hand, die Türkei beteiligte sich an der Finanzierung.
Vor allem aus Bayern, wo man sich grundsätzlich nicht fremdenfreundlich verhielt, wanderten insbesondere ältere Menschen nach Gräuzberg ein, die sich mit der deutschen Sprache schwer taten. Inzwischen hatte der Druck erheblich nachgelassen. Und auch die Probleme der anderen Bundesländer hatten sich auf natürliche Weise erledigt, indem nicht integrierbare Türken nach Gräuzberg ausgewichen oder eben doch ins Heimatland zurückgekehrt waren.
Sarrazin war Schnee von vorgestern. Gräuzberg, diese eine türkische Enklave, konnte und wollte sich die Bundesrepublik leisten, gewissermaßen als Symbol für Toleranz

Gräuzberg blühte auf. Die EU erhob den Stadtstaat zu einer besonders geförderten Region und machte vor allem großzügig Mittel für die Sanierung der zum Teil maroden Bausubstanz locker. Nach wie vor nahmen die Karlottenburger, die Tümpelhoffer, Trapptower und andere Bahliner aus den Nachbarbezirken die Dienste der vielen kleinen türkischen Handwerksbetriebe in Anspruch, zumal sie auch Reparaturen bereitwilliger, schneller und sauberer ausführten als mancher deutsche Betrieb.
Der Tourismus boomte. Für Skandinavier und Polen lagen die bunten Basare praktisch vor der Haustür, der Orient war zum Greifen nah und in der Sonnenallee würde man demnächst winterharte Palmen anpflanzen. Folkloregruppen taten ein Übriges, um zahlungskräftige Besucher anzulocken. Sogar Kamelrennen standen auf dem Programm. Es erhoben sich bereits Stimmen, die vor einem Überangebot an zweifelhaften Volksbelustigungen, wie etwa aufreizende Bauchtanzvorführungen, warnten. Die Bedenken waren nicht unbegründet, zumal das Alkoholverbot nicht mehr respektiert wurde. Unlängst war man wieder über Anisschnapsleichen gestolpert.

Suleika, noch eben ganz versonnen, blickt auf und sieht einen guten alten Bekannten auf sich zu kommen. Schick sieht er aus mit seiner edlen Pelzkappe aus Karakul. Heinz hat heute etwas Zeit und fragt Suleika, ob er sich zu ihr setzen und ein bisschen mit ihr plaudern dürfe.
„Ja, du Beutetürke, du darfst“, sagte Suleika.
Heinz war einer der wenigen Deutschen, die so viel Gefallen an der türkischen Lebensart gefunden hatten, dass sie geblieben waren und die türkische Staatsangehörigkeit annahmen.
„Wie geht’s deiner Fatima?“, fragte Suleika.
„Danke, danke, ausgezeichnet“.
„Und deiner Zweitfrau?“
„Suleika, du weißt so gut wie ich, Kemal Atatürk hat die Bigamie bereits 1926 abgeschafft. „Und darum hat unsere Frauenbewegung auch durchgedrückt, dass ihm am Mechmetdamm, vormals Mehringdamm, ein imposantes Denkmal errichtet wurde“.
Heinz schaut auf die Uhr. Er hat noch eine geschäftliche Verabredung. Er will sich von Suleika verabschieden, doch sie hält ihn fest.
„Du hast meine Frage noch nicht beantwortet“.
„Du bist ein Biest, Suleika. Ich habe keine Zweitfrau. Salam aleikum“.

Heinz hatte vor zwei Jahren geheiratet. Er und Fatima hatten einen schwierigen Start. Fatimas Eltern waren mit der Wahl der Tochter einverstanden, aber die übrige Sippschaft war nicht gut auf Heinz zu sprechen. Mit seinem Übertritt zum Islam war das Problem aus der Welt geschafft.
Ein paar Tage später läuft ihm Suleika wieder über den Weg. Sie muss schon wieder sticheln.
„Sag mal, Heinz, wie fühlst du dich eigentlich als Moslem?“
„Na ja, ein ganz echter wird nie aus mir werden. Den Ramadan mit all seinen Begleiterscheinungen finde ich ziemlich skurril, doch als Disziplinübung taugt er durchaus“.
„Aber ab und zu mal ein gutes Schweineschnitzel, das vermisst du doch bestimmt?“
„Du irrst. Ein deftiger Lammbraten ist mir inzwischen lieber. Aber wenn du mich fragst, ob ich auch immer den Rufen des Muezzins folge, dann kann ich nur sagen „je nach Lust und Laune“. Allah sei Dank, erwartet man von mir nicht, dass ich mir ständig die Schuhe ausziehe und in die Moschee renne. Immerhin habe ich neulich bei meiner Schwiegermutter einen guten Eindruck hinterlassen, als sie mich beim Koranstudium überraschte“.
Suleika grinst. „Aus dir wird doch noch ein Mustertürke, inschalla!“

Morgen würde der Mustertürke wieder hinüberpendeln nach Deutschland, wo er als Dolmetscher und Übersetzer sehr gefragt ist, nämlich im 2 km entfernten Reichstagsgebäude. Seine Steuern zahlt er natürlich brav an die Türkei

Heinz denkt über Vergangenheit und Zukunft nach. Ende der 50er Jahre waren die ersten Gastarbeiter gekommen. 1977 waren schon fast 4 Millionen (einschließlich ihrer Familienangehörigen) in der Bundesrepublik gemeldet. Nur wenige Jahre später war Gräuzberg eine Türkenhochburg.
Doch um 2030 würde es dort wohl kaum noch einen Türken geben, der nicht auch die deutsche Sprache oder mindestens das gut verständliche Kanakische* beherrschte. Zeit für eine neue Volksabstimmung? Was auch immer dabei herauskam: Kleinasien würde Wurzeln geschlagen haben und lebendig bleiben – vielleicht auch in Gestalt einer hübschen Tochter, die alle Vorzüge von Orient und Okzident in sich vereinigte.

Heinz ist wieder in der Gegenwart angekommen. Morgen wird er sich eine neue Wasserpfeife kaufen. Und Suleika? Die wird morgen gegen den Koran verstoßen und sich ein schönes großes Schweineschnitzel braten. Aber das muss sie ja Heinz nicht auf die Nase binden.
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*Ein kleines Beispiel: Ich Türke, ich arbeiten – du deutsch, du ausruhn.
 



 
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