Guantanamera

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ulivs

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Guantanamera

Ich muss zugeben, dass ich mich durch den Namen hatte anziehen lassen. Buena Vista Social Club klang gut. Eine Nacht mit kubanischer Musik der fünfziger Jahre. Dass das Publikum ausschließlich aus Touristen bestehen würde, war mir klar. Man saß am Tisch, aß und vorne spielte die kubanische Band, tatsächlich überwiegend ältere Herren, dazu ein paar Sängerinnen. Ein großartiger Saxophonist, wie alt mochte der sein? Vielleicht siebzig? Manche der Musiker seien recht bekannt gewesen, früher, sagte Daniel.
Daniel saß links neben mir, Mexikaner, Mitte Zwanzig, netter Typ, eine Spur zu tuntig. Seine Großeltern seien aus Deutschland gekommen, betonte er mehrfach, er toure gerade drei Wochen durch Kuba. Rechts neben mir saß Robert, der seine grauen Haare in einem Pferdeschwanz trug. Dreiundsechzig sei er und eigentlich aus Pennsylvania, lebe aber seit über dreißig Jahren in Nordkalifornien.
Ob das keine Probleme gebe, als Amerikaner in Kuba?
"Ich muss sie natürlich belügen!" antwortete Robert. "Wenn ich zurückkomme. Ich fliege sowieso über Mexiko, es gibt keine Direktflüge. Ich sage dann, ich war in Mexiko und passe auf, dass ich keine Souvenirs aus Kuba mitbringe. Damit dürfen sie mich nicht erwischen. Das Gesetz heißt "Trading with the Enemy Act". Wenn ich als US-Bürger in einem kubanischen Geschäft Souvenirs kaufe, verstoße ich gegen das Verbot mit unseren Feinden Handel zu treiben. Feind der Vereinigten Staaten ist aber nur ein einziges Land: Kuba. Ist das nicht absurd?"
Ich hörte einen Moment lang nicht richtig hin, denn am Nachbartisch hatte ich drei Che Guevaras entdeckt. Offenbar Japaner. Alle mit Baskenmütze, vorne angesteckt wie es sich gehört ein roter Stern, und Che-Bärtchen, das bei einem von ihnen allerdings höchstens ein eher lächerlich wirkender Flaum war. Sie saßen nebeneinander, löffelten die Touristensuppe und schauten zur Band. Gab es irgendwo in der Stadt einen Che-Guevara-Ähnlichkeitswettbewerb?
Ich hatte in Havanna schon zwei Ches gesehen. Einer war dem echten sogar ziemlich ähnlich gewesen, wahrscheinlich ein Italiener, er hatte auf einer Treppe gesessen und in einem Reiseführer "L'Avana" gelesen. Wäre ein schönes Foto gewesen. Der andere Che, der mit seiner Freundin an der Hand und einem Eis in der anderen durch Havannas Altstadt geschlendert war, schien vom Aussehen her auch eher Südeuropäer zu sein, vielleicht Lateinamerikaner. Deutsche Ches hatte ich leider nicht gesehen. Dafür hatten auffallend viele Deutsche ein T-Shirt mit dem Korda-Foto an. Zwei trugen dazu eine arabische Kufiya um den Hals, was, fand ich, auf Kuba irgendwie seltsam wirkte.
"Land der Freien!" Robert lachte laut und hatte damit meine Aufmerksamkeit zurück. "Und wir glauben daran. Ich habe selbst daran geglaubt. Habe mich sogar freiwillig gemeldet. Ich war achtundsechzig in Quang Ngai. Da habe ich viel gelernt, glaubt es mir. Ich habe Dinge mitbekommen, die sind nie rausgekommen. Ich sage Euch, keiner würde glauben, dass sein Land so etwas tut. Heute weiss man, dass von vornherein alles Lüge war, die Tonkin-Sache und überhaupt alles. Sie haben einfach gelogen! Und ich habe mich freiwillig in den Krieg gemeldet, weil ich an die Lügen geglaubt habe. Könnt Ihr Euch vorstellen, was das heißt?"
Während Robert begann auszuholen und uns von Flugzeugträgern erzählte, die alle rechtzeitig aus Pearl Harbor ausgelaufenen seien, übersetzte Daniel mir die Texte der Lieder, die er praktisch alle mitsingen konnte. Musik aus der Jugend seiner Eltern, sagte er, viele kubanische Stücke aus den Fünfzigern seien in Mexiko bis heute beliebt.
"Ich weiss nicht, was Ihr über den elften September denkt...." Wieder Robert, aber ich war inzwischen gedanklich vollständig bei den Japanern, die eben noch am Nebentisch gesessen hatten. Kubanische Tänzer hatten angefangen, die Touristen zur Polonaise aufzufordern und die drei Ches hatten sich begeistert eingereiht. Sie fotografierten sich und die sich bewegende Polonaise unablässig und waren offensichtlich sehr glücklich. Vielleicht war der Sozialismus noch schöner als sie gedacht hatten?
Wir hatten die Aufforderung mitzutanzen abgelehnt, aber Daniel sang jetzt laut mit: "Mi verso es un ciervo herido, que busca en el monte amparo." Er hörte Robert nicht mehr zu. "Habt Ihr gesehen, wie WTC 7 eingestürzt ist? Geradeaus nach unten in sich zusammengesackt, in Sekunden. Ein Gebäude, das nur von Trümmerteilen getroffen wurde. Wer sehen will, wie eine kontrollierte Sprengung aussieht, kann sich die Bilder von WTC 7 ansehen".
Die Japaner kamen jetzt genau an uns vorbei. Einer juchzte vor Freude. Wir könnten davon ausgehen, sagte Robert, dass vieles, was in unseren Geschichtsbüchern stehe, ebenso falsch sei wie die Geschichten über Massenvernichtungswaffen im Irak. Mag sein. Die drei japanischen Che Guevaras allerdings, die vor uns zu "Guantanamera" Polonaise tanzten, die waren echt.
 



 
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