Henry trifft die Liebe

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Henry trifft die Liebe


Das Wartezimmer war leer an diesem Morgen. Henry war besonders früh aufgestanden, um nicht warten zu müssen, denn er fühlte sich schlecht.
Er litt an Einsamkeit, und es wurde von Tag zu Tag schlimmer.
Mittlerweile hatte er so starke Magenschmerzen, dass er kaum noch aß,und sein rechtes Augenlid zuckte unaufhörlich.
Deshalb hatte er beschlossen, seinen Hausarzt aufzusuchen.
Die Helferin rief ihn auf,und er ging ins Untersuchungs-
zimmer.
Der Doktor hatte gute Laune.
„Guten Morgen! Nehmen sie Platz! Was kann ich für sie tun?“ fragte er.
Henry setzte sich und stöhnte.
„Ach, ich bin einsam!“ antwortete er. „Ich hatte seit Jahren keine Freundin, und langsam tut mir alles weh!“
Der Doktor machte ein besorgtes Gesicht.
„Wissen sie denn nicht, dass es ungesund ist, solange auf Sex zu verzichten?“
Henry schüttelte den Kopf.
„Aber das mach ich gar nicht! Ich habe regelmäßig Verkehr! Es ist nur so, dass ich nicht wirklich verliebt bin dabei. Ich hatte ewig keine Beziehung, verstehen sie? Eine Beziehung, aus der etwas entsteht, eine Bindung,
die Bestand hat!“
Der Arzt änderte seinen Gesichtsausdruck und sah jetzt verständnisvoll aus.
„Sie suchen also die Liebe?“
„Ja, genau!“
„Und sie wollen Kinder?“
„Nicht unbedingt! Wenn ich sage, es soll etwas entstehen, meine ich ein allgemeines Wachstum! So wie eine Pflanze wächst! Nur habe ich den Eindruck, wir schneiden Blumen lieber ab, um ihnen beim Vertrocknen zuzusehen!“
„Das ist sehr poetisch!“ sagte der Arzt. „Was machen sie beruflich?“
„Ich bin arbeitslos!“
„Das tut mir leid, aber lassen sie den Kopf nicht hängen! Ich denke, ich kann ihnen trotzdem helfen!“
Der Doktor blieb zuversichtlich und hielt Henry eine linsengroße,gelbe Tablette hin.
„Nehmen sie dieses Medikament!“
„Aber ich möchte keine Psychopharmaka einnehmen!“
„Dieses hier ist eine Ausnahme! Sie suchen doch die Liebe?“
„Ja!“
„Also nehmen sie dieses Medikament, sonst wird die Liebe nicht mit ihnen reden!“
Henry konnte sich, für einen Moment zu keinem Gesichts-ausdruck entschließen.
„Was haben sie gesagt? Ich verstehe nicht ganz!“ stellte er fest.
Der Arzt wirkte nun ein wenig arrogant, obwohl nur seine
zusammengekniffenen Mundwinkel darauf hinwiesen.
„Junger Mann, nichts ist einfacher, als die Liebe zu finden!
Wussten sie das nicht?“
„Nein!“
„Glauben sie mir, die Liebe kommt jeden Tag um dreizehn Uhr an der evangelischen Kirche vorbei! Sie werden sie leicht erkennen, sie trägt einen blauen Rucksack, aber sie müssen die Tablette nehmen! Es gibt keinerlei Nebenwirkungen! Vertrauen sie mir!“
„Also gut!“
Henry nickte und schluckte das Medikament.
Der Doktor verabschiedete sich.
„Ich wünsche ihnen viel Glück, und kommen sie morgen wieder!“
Henry bedankte sich und verließ die Praxis.

Pünktlich um ein Uhr wartete Henry vor der Kirche auf einer Bank.
Als die Turmuhr schlug, kam tatsächlich eine Frau mit einem Rucksack und setzte sich neben ihn.
„Guten Tag!“ sagte sie, und Henry wäre am liebsten weggelaufen.
Die Liebe war eine Greisin in Lumpen, und sie stank, dass es ihm den Atem nahm.
„Sie sind ja steinalt!“ sagte er enttäuscht.
Die Liebe stand wieder auf.
„Was bilden sie sich eigentlich ein? Ich bin schließlich tausende von Jahren alt! Wie soll ich denn, ihrer Meinung nach, sonst aussehen?“ schrie sie ihn an. „Immerhin bin ich eine schaumgeborene Göttin, und wer sind sie?“
„Ich bin Henry, und es tut mir leid!“
„Schon gut! Wenn sie wüssten, wie oft mir das passiert!“.
Sie setzte sich wieder, aber Henry hatte vergessen, wozu.
„Was wollen sie eigentlich von mir?“ fragte sie.
„Ich bin mir nicht mehr sicher. Ich habe die Liebe gesucht,
aber ich habe sie mir ganz anders vorgestellt!“
„Tja, für ihre Illusionen kann ich nichts! Das hätten sie sich doch denken können!“
„Man sucht die Liebe mit dem Herzen, nicht mit dem Kopf!“
Die alte Frau lachte.
„Wer hat ihnen denn den Quatsch erzählt?“
„Meine Eltern! Jeder sagt das!“
„Nun, ich kann dazu nur eins sagen: Der Mensch besteht aus einer Ansammlung von Organen, die alle gleich wichtig sind!“
„Aber ist das Herz nicht wichtiger als, zum Beispiel, die Milz?“
„Ich sage ihnen, die Götter strafen Missachtung und Überheblichkeit! Haben sie ihren Blinddarm noch?“
„Nein!“
„Ich warne sie, wenn sie so weitermachen, werden sie noch Krebs bekommen!“
„Das habe ich auch schon befürchtet! Außerdem habe ich Magenschmerzen, und mein rechtes Lid zuckt dauernd!“
„Sehen sie? Ich habe recht! Sie sollten meinen Rat annehmen!“
Die Liebe öffnete ihren Rucksack und wühlte darin herum.
„Mal sehen, ob ich etwas für sie finde!“ sagte sie.
Dann schüttete sie den Rucksack aus, und alle möglichen Dinge fielen auf das Pflaster, Lippenstifte, Kondome, Unterwäsche, löslicher Kaffee und vieles mehr.
Die Liebe lächelte.
„Na los, suchen sie sich etwas aus!“
Henry zögerte.
„Wo haben sie all die Sachen her?“ fragte er.
„Ach, von überall! Ich packe ein, was rumsteht und nicht vermisst wird! Kommen sie, es muss doch etwas dabei sein, das ihnen gefällt!“
„Ich kann mich nicht entscheiden. Ich brauche nichts davon!“
„Ich habe Pornomagazine, Socken, Zigaretten, sogar Gewürze!“
„Nein, Nein! Haben sie nichts gegen meine Schmerzen?“
„Aber natürlich!“
Die Liebe gab ihm eine Perle. Sie war durchsichtig, und innen schwamm eine farblose Flüssigkeit.
„Nehmen sie sie aber erst, wenn nichts anderes mehr hilft! Und leben sie wohl! Ich muss jetzt gehen!“
Sie verschnürte ihren Rucksack, schulterte ihn und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Henry sah durch seine Perle in die Sonne.

Am folgenden Tag gab er die Perle seinem Arzt, um ihren Inhalt zu untersuchen.
„Das hat sie mir gegeben. Vermutlich ein Kräuterextrakt gegen meine Schmerzen. Wissen sie, was es ist?“
„Das ist eine Zyankalikapsel!“
„Oh!“ Henry war erstaunt.
Der Doktor zog die Stirn in Falten.
„Soll ich ihnen nicht doch ein Beruhigungsmittel verschreiben?“
„Nein, besser nicht!“
„Dann kann ich ihnen nicht weiterhelfen!“
„Trotzdem, vielen Dank, Herr Doktor!“
Der Arzt war unzufrieden.
„Soll ich die Kapsel für sie entsorgen?“ fragte er.
„Nein, vielleicht brauch ich sie ja noch!“ antwortet Henry und ging.
Gegen Mittag kaufte er einen breitkrempigen Hut, um sein Lidzucken zu verdecken.
 

Willibald

Mitglied
Soso

Dear scriptor!

Hm. DreierAufbau
Pille, kapsel, Hut - gscheit!

Genialer Satz:

„Glauben sie mir, die Liebe kommt jeden Tag um dreizehn Uhr an der evangelischen Kirche vorbei! Sie werden sie leicht erkennen, sie trägt einen blauen Rucksack, aber sie müssen die Tablette nehmen! Es gibt keinerlei Nebenwirkungen! Vertrauen sie mir!“

Schluss-Gag mit dem Hut- Lösung jenseits von Illusionen, ganz pragmatisch, Lage, desolate niedrigerhängend?

Jou, feiner Ansatz.

Salute
 

shiva

Mitglied
Lob Lob Lob

Es wird soviel "Schrott" verzapft; bei manchen Kurzgeschichten oder Gedichten wird mir richtig übel.

Um so schöner, dass man auch mal so ein Juwel lesen darf.
Ganz prima! Toll formuliert und klasse Idee.

Beste Grüsse
shiva
 
Danke für das Lob, shiva! Ich habe es gleich weitergegeben
(Ode an die Mutter)!
Willibald, du hast deinen Titel-Kritiker mit Festanstellung-
zu recht. Ich hoffe, damit verdienst du eine Menge Kohle!
:)

Liebe Grüße

black sparrow
 

Rainer

Mitglied
hallo,

die von mir obligatorische abschlußnörgelei an diesem ansonsten guten text (*mich meinen vorschreibern anschließ*):

zyankali (kaliumcyanid) ist ein weißes pulver.
ausredenverbaumauer: gelöst ist kaliumcyanid nur sehr kurz haltbar, die liebe hätte die kapsel nicht lange bei sich tragen können (so 2 bis 3 stunden).
auswegsuchangebot: digitalis (aus dem fingerhut) - ein, der kreis schließt sich nochmals, herzgift (ewigkeiten haltbar).


(ich lache mich, im gegensatz zu deinem text, immer scheckig, wenn die prots in filmen zyankali nehmen/verabreicht bekommen, und innerhalb kürzester zeit tot umfallen. "leider" dauert das real etwas länger, und ist kurzzeitig recht schmerzhaft.)

viele grüße

rainer (aushilfshobbytoxikologe)
 
D

Daktari

Gast
kicher, grübel

Hi!

Die Geschichte gefällt mir sehr gut. Sie hat tieferen Sinn, Humor und Spannung. Ich kann eigentlich nichts finden, das ich besser machen würde.

Ciao
Tim
 

Traumtod

Mitglied
zyankali (kaliumcyanid) ist ein weißes pulver.
ausredenverbaumauer: gelöst ist kaliumcyanid nur sehr kurz haltbar, die liebe hätte die kapsel nicht lange bei sich tragen können (so 2 bis 3 stunden).
Dat war auch dat erste, wat mir einfiel...

Ernsthaft: kein Mensch weiß spontan genau, was Zyankali ist (außer denen, die beruflich und so..).
Mann weiß nur, dass es weh tut, so kurz vorm Tod. Oder?

Wenn allerdings die hocheilige Liebe höchstpersönlich, von Gott geschickt, diese Pille bei sich trägt, dann fällt das m.E. unter literarische Freiheit.

Mir sagt's zu.

Gruß

traumtod
 

Rainer

Mitglied
hallo traumtod,

ja, eben weil ich den text so gut finde wollte ich den einzigen mir ins auge stechenden fehler beseitigt sehen.

die tatsache, daß außer aushilfshobbytoxikologen kaum jemand etwas über die "gängigsten" gifte weiß, führt ja gerade dazu, daß es immer wieder zu mißverständnissen kommt. ich kenne ein mädchen, welches sich aus einem galvanischen betrieb zyankali besorgt hatte, es mehrere jahre zu hause lagerte, das zeug dann einwarf, und nun halbseitig gelähmt und mit schweren hirnschäden den rest ihrer tage verbringt- weil sich das zeug zu 90 + x % zersetzt hatte.

die dichterische freiheit, zyankali als synonym für ein tödliches gift zu verwenden, will ich aber nicht einschränken; und black sparrow hat es ja auch so stehenlassen - ich habe nichts dagegen.

viele grüße

rainer (*möchtegernklugscheißer*)
 



 
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