Im Tempel von Delphi

Jenno Casali

Mitglied
IM TEMPEL VON DELPHI

In Wassermann Krebs oder Jungfrau geboren -
Divination beschwört Kräfte
Rüttelt sie wach,
Die vernarbten Energien aus dem Unterbewusstsein,
Die sich da bündeln
In Bergkristall/Mondstein/Rosenquarz-Pendeln
Sich der Fügung hörig erweisen
In Tarot-Karten nach Feuer&Wasser&Luft&Erde
Sich da schlängeln
In Lebensringen in Schicksalslinien
Als Botschaft aus eigener Hand

Divination beschwört Kräfte
Das Noch-Ungewisse zu entschleiern,
Das Morgen zu entjungfern,
Als säße die Zukunft höchstselbst
Vor der Pythia, der priesterlichen, hier
Um das Orakel zu befragen
Wer eben was
Wann und wohin


© Jenno Casali​
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Die vernarbten Energien aus dem Unterbewusstsein,
Die sich da bündeln
Es ist eine offen Frage, was als poetisch empfunden werden kann und was nicht. Poetisch sind gewiß: Kürze des Ausdrucks, vor allem die Verdichtung in Bilder; das Gegenteil davon wäre die überflüssige Länge bildarmer Abstraktionen.
Allerdings können szientistische Abstracta eine interessante Schroffheit in die Verse reißen: das entspräche dem klassischen Ideal der "seltenen Wörter" (statt ausgenudelter Langeweilen) und der Exhibition eines "poeta doctus".
"vernarbt" ist noch ein wenig bildhaft (Freudsche Metaphorik), "Energien" aber sind ein unbestimmtes Etwas, ein nichtssagender Statthalter für formlose Kräfte, trotz deren (wieder ein wenig bildhafter) "Bündelung"; die Lokalisierung der "Energien" im "Unterbewusstsein" ist wieder eine überflüssige Erklärung statt eines verknappenden Bildes, Entzauberung der Pythia, Besserwisserei gegen den Orakelgott, ja, so wird alles reizlos, modern, Plaste und Elaste, leider ohne den Pep der kunststofflichen Popart, die sich gern abstrakt gibt (Warhol: "I like boring things"). No, I don't like boring things.
Jeder Spruch der Pythia, von den Priestern in Hexameter gefügt, ist ein magisches Abenteuer, aber dies Ding hier ist kein Spruch der Pythia, weder in Gestalt des ungeformten Wahnsinns, noch in Gestalt der priesterlichen Deutung. Es ist nur Fremdenführergeschwafel. War das so gemeint, als Bloßstellung des entsprechend flach rumleiernden Lyris?
 

Jenno Casali

Mitglied
Ach, hätte die Pythia doch voraussehen können, was noch alles so in Texten über ihre Machenschaften herumgedeutelt wird, sei es auf “szientistische" Art und Weise oder auch nur in "Fremdenführergeschwafel" - sie hätte sich bestimmt gefreut, ob in magischen Hexametern oder in "reizloser Plaste und Elaste" …
Trotzdem Dank für die Auseinandersetzung mit dem Text.
LG
Jenno C.
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Machenschaften ...

wieso hätte sie sich über das szientistische Geschwafel von "gebündelten Energien" usw. freuen sollen?
Nein, keine Chance.
"Machenschaften der Pythia" - es wird immer schlimmer. Von Dichtung nicht die Spur.
 

namibia

Mitglied
Lieber Jenno,

ich habe deinen Text als Beobachtung oder Beschreibung der magischen Dinge verstanden, deren Ausgang wir so wahnsinnig gerne bestimmen und kontrollieren würde ( durch ein Vorhersehen) - es jedoch nicht können. Uns wird begegnen, was uns begegnen wird, wie wir das Geschehene deuten, bleibt uns überlassen.

Bis auf die Tatsache, dass ich es besser finde, vom Unbewussten statt vom Unterbewussten zu reden, gefällt mir der Text, da er sich mit dem Erklärbaren auseinandersetzt.

Liebe Grüße

Anna amalia
 

Jenno Casali

Mitglied
Hallo Anna amalia,
Genau getroffen !
Zwischen Unterbewusstsein und Unbewusstem gibt es wohl eine kleine alltagsprachliche Nuance, aber deine Lesart trifft den Kern.
LG
Jenno C.
 

namibia

Mitglied
na siehst du, Jenno, ich plage mich immer wieder mit der Deutung meiner Texte, an dem deinigen habe ich nun wieder begriffen - es ist wie es ist und jeder nimmt den Text auf seine Weise in sich auf ..

Ich freue mich auf deine nächsten Texte !

Liebe Grüße

Änne
 
C

cellllo

Gast
Hallo Mondnein :

"Entzauberung der Pythia" ???
Im Gegenteil ! Das Gedicht drückt aus :
Über alle anderen Orakeltraditionen
und modernen Orakel-Bemühungen hinweg
entfaltet der Ort "hier" (s. Titel !)
die Magie der priesterlichen Pythia....
aktiviert Vernarbtes = unempfindlich Gewordenes...

Die beklagte "Exhibition des poeta doctus"
wird leider im Kommentar selbst exerziert !

cellllo
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
poeta doctus

Die "Exhibition des poeta doctus" ist ein klassisches Ideal, das ist der selbstgesetzte Maßstab der griechischen (Hesiodos, Sappho, Pindar) und römischen Dichter (Flaccus, Maro, Naso), und als solches ist es auch erwähnt worden. Wer sollte das beklagen? Ich jedenfalls nicht.
Natürlich wäre ich gerne ein gelehrter Sänger, gar keine Frage.
Aber was Dich angeht, da hast Du recht: du bist kein poeta doctus, willst ja auch keiner sein. Ich widerspreche Dir nicht. Suum cuique.
 



 
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