Im Unterholz

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Selbst Hundebesitzer mieden den verwilderten Park und ließen ihre Haustiere lieber auf einer Wiese davor herumlaufen, kacken und pinkeln. Die Wege waren mit wild wucherndem Gestrüpp zugewachsen und mancher Umweltfrevler hinterließ Müll im Unterholz, während mit Papiertaschentüchern garnierte, unterschiedlich geformte kleine braune Haufen eindeutig davon zeugen, es handele sich hier um einen Endlagerungsplatz für menschlichen Mist.
Einst gehörte der Park zu einer herrschaftlichen Villa, von der noch Grundmauern stehen. Doch auch die waren längst von Gestrüpp überwuchert.
Inmitten dieser Wildnis beherrschte mit weit ausladenden Ästen eine alte Blutbuche einen fast kreisrunden, ausschließlich mit Moos und ein wenig hellgrünem Gras bewachsenen Platz, den sie sich nur mit einem großen Granitstein teilte, der gut einen Meter vor ihrem mächtigen Stamm lag.
Da unweit seiner Wohnung, bahnte sich Gerhard P., wenn er gegen Abend Ruhe suchte, nicht selten einen Weg durch jenes dichte Gebüsch, setze sich auf den Stein, den er inzwischen als den seinen betrachtete und wartete. Wartete, ohne eigentlich zu wissen, auf wen oder was. Wartete auf das Warten. Und das Warten enttäuschte ihn nie.
Am Tag da er Ewald das erste und zugleich letzte Mal traf – verließ er gegen zwanzig Uhr das Zehnfamilienhaus, in dessen vierter Etage er sich mit Marga seit ihrem fünfundsechzigsten Lebensjahr eine Wohnung teilte. Die Abendsonne des Spätsommertages wärmte seinen Nacken, bis Gerhard P. in den Schatten des Parks eintauchte. Und als er schließlich unter der Blutbuche ankam, saß er auf seinem Stein.
Er schien Gerhard etwa so alt zu sein wie er selbst, zwirbelte abwechselnd an seinem langen zerzausten Vollbart und an den wirren lockigen grauen Haare, die seinen Kopf umrahmten. Aus seinem faltigen Gesicht starrten Gerhard dunkle Augen an, und plötzlich hob der Vollbärtige die Arme zum Geäst der Buche hinauf und herrschte Gerhard mit heiserer Stimme an: „Gott is sinnlos.“
Da Gerhard keine Lust auf Streit mit einem Verrückten hatte, ging er hastig an ihm vorbei.
„Stehn bleiben! Wer hierher kommt, hat Zeit, sonst käm er nicht.“
Gerhard drehte sich zu ihm um und taxierte ihn langsam vom Kopf bis zu den dreckigen unverschnürten hohen Schuhen. Strümpfe trug er keine.
„Und Sinnlosigkeit is Gott! Verstanden…?“
Um ihn nicht zu beunruhigen, versuchte Gerhard vorsichtig zu lächeln, während der Vollbärige laut zu lachen begann. Kein irres Lachen. Nein, es klang herzlich, aufmunternd, fast ansteckend.
„Mag ja sein, dass Sinnlosigkeit göttlich ist…“ Gerhard lachte kurz mit, wandte sich wieder von ihm ab und ging weiter.
„Nicht so hastig!“ Er rannte hinter Gerhard her, holte ihn ein, stellte sich ihm lachend in den Weg.
Seinem Versuch auszuweichen, kam der Vollbärtige mit einem schnellen Schritt zur Seite zuvor und stand plötzlich so nahe vor Gerhard, dass der seinen fauligen Atem roch. Behutsam wich Gerhard einen halben Schritt zurück.
Wieder lachte der Vollbärtige. „Sie sind ein Zweifler. Stimmts?“
„Wenn Sie sowieso schon alles über mich wissen…!“
„Zweifler sind Gläubige. Die glauben, nix zu glauben.“ Lachend ließ er Gerhard die gelben Zähne eines erstaunlich vollzähligen Gebisses sehen.
„Eigentlich suche ich hier nur ein wenig Ruhe.“ erwiderte Gerhard mit möglichst sanfter Stimme.
Begeistert schlug der Vollbärtige sich auf seine dünnen Oberschenkel, die in einer abgewetzten Kordhose steckten. Als Gerhard sich erneut von ihm abwenden wollte, brach er sein Lachen ab und sah ihm in die Augen. „Zweifler, die suchen, gehn immer in die Wildnis.“
Er winkte Ewald, ihm zu folgen. Unwillig ging der hinter ihm her.
Lächelnd bot er Ewald den Platz auf dem Stein an, hockte sich laut stöhnend vor ihm auf den bemoosten Boden und sah blinzelnd zu ihm hinauf. „Ich heiß übrigens Ewald. Und wahre Zweifler zweifeln selbst daran, Zweifler zu sein.“
Schulter zuckend sah Gerhard über Ewald hinweg auf das undurchdringliche Gebüsch rundherum, das kaum fünf Meter von ihm entfernt begann. Ewald drehte den Kopf und folgte Gerhards Blick.
„Wildnis hat keine Wege. Du musst dir darin schon welche bahnen.“
„Sie wollen hier wohl unbedingt den Philosophen geben!“ Gerahrds Stimme sollte spöttisch klingen, klang aber eher genervt.
„Manchmal…“ Ewald machte eine weit ausholende Armbewegung. „manchmal übernachte ich da im Dickicht. Neulich abends hab ich dich hier aufm Stein sitzen sehn. Sahst weinerlich aus.“
„Ich bin gern allein. Jetzt, zum Beispiel.“
Ewald stand auf. „Wollt heute sowieso früh schlafen gehn.“ Er ging auf das Dickicht zu, schob mit beiden Armen das Gebüsch zur Seite und verschwand darin. Eine Zeit lang hörte Gerhard es noch knacken und rascheln.
Inzwischen war es dunkel geworden. Die Kälte des Steins drang durch den dünnen Stoff von Gerhards Hose. Er begann zu frieren.
Im Gebüsch vor ihm raschelte es. „Nachts wirds ziemlich kalt hier und im Dunkeln wieder raus zu finden, ist schwierig!“ In seiner heiseren Stimme schwang Sorge mit.
„Ich gehe sofort,“ versuchte Gerhard ihn zu beruhigen.
„Wenn du mich brauchst, sag was. Ich hab nen ziemlich leichten Schlaf und kenn mich hier auch im Dunkeln aus.“
Mühsam erhob sich Gerhard, massierte seine kalten Oberschenkel, ging langsam auf das Dickicht zu, tastete sich vorsichtig voran, fühlte Blätter, Äste. Ein Dorn bohrte sich in seinen Daumen. Er fluchte leise.
Aus dem Dickicht vor ihm antwortete ihm leises Kichern. „Jetzt kennst du den Unterschied zwischen nem Zweifler und nem Verzweifelten.“
Hastig versuchte Gerhard nach links auszuweichen. Der Boden war weich. Er hielt sich den Arm vor das Gesicht, um die Augen gegen das Gestrüpp zu schützen. Noch ein Zweig mit Dornen. Gerhard drehte um und war nach wenigen Schritten zurück auf dem Patz unter der Blutbuche.
„Willste warten, bis es hell is. Gute Nacht, dann! Ich hab hier übrigens ne alte Decke. Stinkt was nach Mottenpulver, wärmt aber.“
Es raschelte, Ewald stand hinter ihm und legte ihm die Decke um die Schulter.
Sie war feucht, roch nach Zigarettenrauch, Bier, Mottenpulver und Urin.
„Ich brauche keine Decke. Ich will nach Hause in mein Bett!“
„Ich auch!“ Ewald kicherte. „Komm.“ Mit der rechten Hand hielt Gerhard die Decke vor der Brust zusammen. Ewald suchte seine linke, packte sie und zog ihn hinter sich her auf das Gestrüpp zu. „Bücken!“ befahl er. „Und immer schön langsam.“ Gerhards Hand schmerzte. Ewald quetschte sie. Gerhard wollte sich losreißen. Die Hand packte kräftiger zu.
„Noch gut fünfzig Meter!“
Endlich standen sie auf der Wiese vor dem Park. Ein blasser, nicht sehr hoch stehender Vollmond ließ matt Tautropfen auf dem Gras glitzern. Ewald gab Gerhards Hand frei.
„Von hier findest du ja wohl allein nach Haus?“
Gerhard fühlte sich ihm gegenüber zu Dank verpflichtet. „Sollen wir noch ein Bier zusammen trinken? Hier in der Nähe ist eine Kneipe, die hat bestimmt noch auf.“
Während er Ewald die Decke zurückgeben wollte, überlegte Gerhard.
Schließlich faltete er die Decke zusammen und klemmte sie sich unter den Arm.
Sie gingen quer über die feuchte Wiese, kamen auf eine breite Straße, von dort in eine schmale und standen nach wenigen Schritten vor der Gastwirtschaft „Am Park“, dessen Wirt auch Zimmer vermietete.
Drinnen bestellte Gerhard P. je ein Bier für sie. Der Wirt sah ihn kurz und Ewald eingehender an. Danach schien ihn nur noch die schmuddelige Decke unter Gerhards Arm zu interessieren.
Gerhard zeigte mit dem Daumen auf Ewald. „Gehört ihm!“
Der Wirt nickte. „Gut, für jeden eins! In einer Viertelstunde, um elf ist Feierabend.“
Ewald kicherte. „Wärst du ohne mich gekommen, hätt der noch bis nach zwölf auf. Wetten?“
Wütend sah ihn der Wirt an. „Ich kann auch sofort dicht machen.“
An der Theke setzte Gerhard sich auf einen Barhocker und legte die Decke auf den Hocker daneben. Den Wirt schüttelte es. „Flöhe kann ich hier nun überhaupt gar keine gebrauchen!“ Ewald setzte sich auf die Decke und lachte. Widerwillig begann der Wirt zu zapfen, stellte schließlich zwei nicht ganz volle Gläser besonders sorgfältig auf je einen Bierdeckel, machte ungefragt mit einem dicken Bleistift zwei Striche auf Gerhards Deckel und begann Gläser zu spülen. Schweigend tranken sie und bekamen anschließend noch ein zweites Bier, obwohl es bereits fünf nach elf war. Gegen achtzig Euro wäre er, so der Wirt, bereit, Gerhards Begleiter für die Nacht ein Zimmer mit – wie er in gedehntem Tonfall betonte – Duhusche zu vermieten.
„Ich zahle das!“ sagte Gerhard.
Ewald lachte. „Lass mal, ich schlag mich lieber ins Gebüsch! Aber wenn ich hier morgen mal warm duschen könnte?!“
„Zehn Euro.“ Daumen und Zeigefinger aneinander reibend, hielt der Wirt Gerhard die rechte Hand hin.
Ewald nahm seine Decke und verließ grußlos die Kneipe.
Der Wirt räumte die Gläser ab und sah Gerhard kurz an. „Wo haben Sie den denn aufgegabelt?“
Gerhard P. rutschte vom Barhocker und lächelte. „Auf dem Stein der Weisen.“ Und während er langsam zur Tür ging, sah er sich noch einmal zum Wirt um, der seine Hand mehrfach wie einen Fächer vor seinem Gesicht hin- und herbewegte.
Gerhard winkte ihm lachend.
Als er auf den kleinen Parkplatz vor der Kneipe kam, war Ewald schon verschwunden.

Seit über einem halben Jahr war Gerhard P. nicht mehr zum Stein unter der Blutbuche gegangen. Inzwischen war es Anfang Mai, die Maisonne wärmte ihm den Nacken, als er gestern Morgen an dem Park vorbeiging. Die Mitarbeiter einer Gartenbaufirma hatten bereits mehrere Büsche abgesägt und eine breite Schneise in die Wildnis gebahnt.
Auf seine Frage, was sie denn mit dem Park vorhätten, antwortete der Vorarbeiter, jemand habe das Grundstück gekauft und sie sollten hier jetzt die Wildnis beseitigen. Und ob er wüsste, welcher Penner sich da hinten im Unterholz eine Höhle gegraben hätte.
„Penner war der nicht.“ Doch Gerhard hielt es für müßig, dem Vorarbeiter den Unterschied zwischen einem überzeugten Zweifler und einem Verzweifelten zu erklären.
 
H

HFleiss

Gast
Hallo Karl, so ganz klargeworden ist mir nicht, weshalb Gerhard P. eigentlich ein Zweifler sein soll. Und weshalb Gerhard ausgerechnet ein Gerhard P. sein soll, ebenfalls nicht. Und so verzweifelt kommt mir Ewald auch nicht vor, eher ist doch Gerhard, der Gutsituierte, verzweifelt an diesem Elend. Und weshalb dann die Pointe auf Zweifler - Verzweifelter abhebt, leuchtet mir nach diesem Text auch nicht so recht ein.

Gruß
Hanna
 
Liebe Hanna,
vielen Dank für deine Anfrage. Menschen, die an Gott und der Welt zweifeln, werden oft als Verzweifelte gesehen. Ich sehe sie nicht so. Im übrigen greift der Text in Form einer Metapher die Angst vor dem sozialen Abstieg auf. Zudem ist der eine Protagonist jeweils die andere Seite des einen und die eine Seite des Anderen.

Herzliche Grüße
Karl
 
H

HFleiss

Gast
Schade, ist bei mir nicht so angekommen. Aber der Gedanke, dies zu verknüpfen, ist wirklich gut.

Gruß
Hanna
 
Liebe Hanna,
danke für deine Antwort.
Ich werde in jedem Fall an dem Text noch arbeiten. Beim ersten Wieder-Durchlesen sind mir schon einige Ungenauigkeiten aufgefallen.

Danke für deine Mithilfe
Alles Liebe
Karl
 



 
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