Jahreszeiten

Bianka

Mitglied
„Lass uns spielen: Du hast nur ein Auge!“ Das Kind presste seine heiße Stirn gegen die der Mutter. Tief sog sie den süßen Duft ihres verschwitzten Kindes ein. Wie sie es liebte, diesen Geruch von Kinderhaar zu genießen. Das große, blaue Auge ihres Jungen sprühte Sterne vor Vergnügen und wurde zum Halbmond, als es sich von ihrem Gesicht entfernte und schließlich wieder teilte und auf Entdeckungsreise ging. Mit einem Jauchzen wandte sich der blonde Junge wieder seinem orangen Drachen zu, der am Boden lag. Seine Mutter erhob sich und bemerkte die kühle Feuchtigkeit der Erde an ihren Knien. Staunend sah sie ihrem Kind nach, das den Drachen wieder in den Wind gebracht hatte.
Die Diagnose war noch kein halbes Jahr alt. Vieles hatte sich verändert. Der Kontostand war tief in die roten Zahlen geschlittert und der Job wurde ihr gleichgültig.
In Erwartung des lauernden Schmerzes presste sich ihre Brust zusammen. Wie lange noch?
Nächtelange Hilflosigkeit reifte ihre Entscheidung. Sie verkaufte das Haus und das Auto; den Hund nahm die Freundin zu sich.
Die Klinik am Meer war für einen Mutter-Kind-Aufenthalt eingerichtet. Es wurde der schönste Sommer ihres Lebens.

Wie jeden Morgen erwachte sie müde, brühte sich einen Kaffee, zog die abgewetzte Jacke über und öffnete die Fenster ihres Zimmers. Ein kühler Ostwind erzählte vom kommenden Winter.
Als sie später dann auf ihrem alten Herrenfahrrad in die lange Allee einbog, sah sie über dem Feld einen orangen Drachen, den Kinder steigen ließen.
Der Friedhof hatte noch keine Besucher, als sie sich auf die Bank neben dem Grab setzte.
\"Komm, lass uns spielen: Du hast nur ein Auge!\", auf ihrer Stirn spürte sie den vertrauten Druck der Kinderstirn. Tief atmete sie den Geruch ihres schweißnassen Jungen ein, als es zu schneien begann.
 



 
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