Knack die Nuss

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Karinina

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Von Freunden wurde ich gefragt, warum ich ausgerechnet eine Novelle über den Hunnenkönig Attila geschrieben habe. Eine plausible Erklärung dafür gibt es nicht, außer der Tatsache, dass dieser Attila schon einmal in meinem Leben eine nicht geringe Rolle gespielt hat:

Ich bin in eine dreistufige Dorfschule gegangen, die erste und zweite Klasse wurden nachmittags im unteren Schulraum unterrichtet, die dritte, vierte und fünfte vormittags ebenfalls unten und die sechste, siebente und achte im oberen Schulraum, neben dem sich die Wohnung unseres Schuldirektors, Herrn Oberlehrer Friedrich, befand.

Als ich in die Schule kam, muss ich, aus erklärbaren Gründen, schon eine gewisse Kraut- und Rübenbildung besessen haben, denn ich lebte ja in einem Dorf, das aus 18 Bauernhöfen bestand und in dem ungefähr 15 Kinder aller Altersgruppen tagsüber sich mehr oder weniger selbst überlassen waren. Die älteren Mädchen spielten mit uns Kleineren Schule, oft auf sehr strenge Art, die größeren Jungen durchstreiften Scheunen, Schuppen und Keller, und dann waren ja noch die Kühe, Schafe und Gänse zu hüten. Also schreiben und lesen konnte ich schon mal und wie viele Gänse es von 15 sein mussten, wenn zu Weihnachten sieben geschlachtet worden waren, kein Problem. Die ersten beiden Schuljahre waren "Herrenjahre" für mich, wie man so sagt, und dann kam ich in die dritte Klasse, und da passierte es.

Während die Fensterreihe, also mein drittes Schuljahr, die Aufgabe erhielt, ein Bild zu malen, ich stellte übrigens schnell fest, dass das nicht meine starke Seite war, wurde in der fünften Klasse, Sitzreihe an der Wand, das "Nibelungenlied" erzählt.

Und jetzt brach sie über mich herein: Die Literatur. Auf einmal wurde ich in "die Welt gesetzt", Himmel, Erde, Flüsse und Meer, Länder und Städte, Schlösser und Kirchen, merkwürdige Tiere, einschließlich Drachen, und Menschen aller Art traten auf die Bühne. Da gab es wunderbare Frauen, stattliche Männer, Könige und Knappen, Waffenschmiede und Priester.
Ich frage mich natürlich heute, was ausgerechnet das "Nibelungenlied" auf dem Lehrplan der fünften Klasse zu suchen hatte. Nun ja, Oberlehrer Friedrich war kein Neulehrer, ich nehme mal an, dass er schon in der Weimarer Republik und auch später unter Hitler Dorfschullehrer gewesen war und das "Nibelungenlied" zu seiner eigenen "humanistischen" Schulbildung gehört hatte. Das heroische Menschenbild mit den starken Recken, Gefolgschaftstreue neben Verrat, der gesühnt werden musste, die edlen Frauen usw. war für ihn die Möglichkeit, der Sittenverwilderung in den Jahren des Krieges und der Nachkriegszeit einen Moralkodex entgegenzustellen. Es gab für ihn noch kein "neues Menschenbild" und noch keine "neuen Leit- und Vorbilder".
Aber das sei mal dahingestellt. Ich jedenfalls begann nun zu begreifen, dass die Welt nicht nur aus unseren 5 Dörfern bestand, deren Kinder in unsere Schule gingen, sondern riesig und sehr vielfältiger Natur sein musste und dass sie darüberhinaus von den merkwürdigsten Lebewesen bevölkert war.
Aber es gab noch etwas viel Interessanteres: Gut und Böse, Liebe und Hass, und so etwas Hinterhältiges wie Verrat, und vor allem Rache.
Ja, und auch längst vergangene Zeiten, und wenn es die gab, dann musste es zwangsläufig auch eine zukünftige Zeit geben, womöglich eine, in der ich nicht mehr existent sein würde, was ja zwar undenkbar war... aber immerhin...
Wenn ich nachts wach lag in dem Bett, in das meine Mutter nach dem letzten Kühemelken auch schlüpfte, denn ein zweites Bett stand ihr als Magd nicht zu, und der Mond gerade mal Wache über mir hielt, dann stellte ich mir diese ganze sagenhafte Szenerie vor, diese wunderbar farbig gekleideten Frauen mit goldenen Kronen, die riesigen Recken in eisernen Rüstungen mit blinkenden Schwertern an der Seite, auch den Drachen natürlich und wie aus seinem Leibe so eine Soße quoll, in der man sich baden konnte. Meine Visionen gingen grausame Wege...

Der Herr Oberlehrer Friedrich muss einen guten Blick für seine Schüler und ihre Gedankenspiele gehabt haben, denn an dem Tag, an dem die fünfte Klasse ihre Aufsätze vorlegen musste, rief er mich auf und verlangte, dass ich den Aufsatz von Brigitte Müller laut lesen solle. Ich stürzte mich wollüstig auf deren Heft. Mitten drin wurde ich ernüchtert: Also was diese Brigitte Müller da geschrieben hatte war einfach lächerlich, und ich begann mich für das, was ich lesen musste, zu schämen. Und so kam es zu meiner Laufbahn als Geschichtenerfinderin: Während ich so tat, als würde ich vorlesen, erzählte ich meine eigene Version zur äußersten Zufriedenheit von Oberlehrer Friedrich.

Aber dann entschlüpfte mir ein merkwürdiger Satz und damit hatte ich der Brigitte Müller einen Schlag versetzt und ihr eine fünf eingebracht:

Der König Etzel ist eine Nuss!

Wieso war Etzel für mich eine Nuss? Ja, hin und wieder sagte meine Mutter zum Knecht Mateo, der für mich der Inbegriff eines akzeptablen Mannes war, "He, du Nuss!". Und das muss es wohl gewesen sein, denn in den Mondnächten hatte sich mir alsbald eine Lichtgestalt zu erkennen gegeben: König Etzel, meine Nuss!

Auch heute noch grüble ich darüber nach, was wohl der Herr Oberlehrer Friedrich für Worte oder Gedanken gebraucht hat, um mich auf Etzels Spur zu bringen. Irgendeinen Anlass muss es doch gegeben haben. Wieso ließ mich der hehre Siegfried kalt? Ich bin noch keinem Mädchen begegnet, das nicht beim Gedanken an Siegfried schwach geworden und vor Trauer dahingeschmolzen wäre.

Also mit Etzel bin ich sozusagen in das Weltgeschehen eingestiegen, er war für mich "der Baum der Erkenntnis", und ich muss reichlich davon genascht haben, sonst wäre ich nicht heute noch davon so fasziniert...

Oder ist es etwas ganz anderes? Ist es vielleicht der uralte Wandertrieb, der die vielen Völkerschaften dieser Zeit kriegerisch und ruhelos durch Europa ziehen ließ, um einen Platz zum Leben zu finden, ist es dieser unbeherrschbare Trieb, der, gefesselt in meinem stillen Kämmerchen, in meinen Fingern zuckt und mich zwingt, die Tasten meines PC zu bewegen?
 



 
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