König Mantus

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zyranikum

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Es war die Nacht vor meinem achten Geburtstag, als ich hellwach, in Decken eingemummt in meinem Bett lag und zum Fenster herausblickte. Auf der Straße stand eine Laterne, deren Licht jede Nacht in mein Zimmer schien, doch das störte mich nicht, hatte ich mich doch über all die Jahre daran gewöhnt. Im Gegenteil, denn stolz war ich auf meine Lampe, da wohl kein anderes Kind sich von so einem großen Nachtlicht erhellt, im Schlafe sicher fühlen konnte. Der eigentliche Grund aber, warum ich jeden Abend so lebhaft auf die Laterne blickte, waren die vielen kleinen Käfer und Motten, wie sie so lustig und frei um den Schein des Lichts herumtanzten. Eines dieser seltsamen Insekten hatte ich besonders ins Herz geschlossen, denn auf ihn war wahrlich immer Verlass. Es war Mantus - der Mottenkönig. Zwar wusste ich, dass er jeden Herbst fortgehen musste, doch sagte mir meine Mutter, dass er nur Winterschlaf hielt und tatsächlich! Er kam jedes Jahr, wenn es warm wurde wieder! Er war wirklich der Meister aller Mottentänzer und niemals hätte ich ihn mit einem anderen Flugobjekt verwechselt, so deutlich hob er sich mit seiner gekürten Akrobatik von all den anderen ab. Jede Nacht, außer während der kalten Wintertage, war es er, der mich mit seinen erstaunlichen Künsten in den Schlaf wog und genau das war auch der Grund, wieso ich diese Nacht nicht schlafen konnte. Ich machte mir ein wenig Sorgen um ihn, denn es war schon später Herbst und mit dem ersten Nachtfrost würde er die heimatliche Laterne verlassen müssen. Dann saß er wahrscheinlich in einer Mauerspalte und schlief, während ich wach lag und mir allerlei Ablenkungen ausdenken musste, dass ich überhaupt einschlafen konnte. War Mantus erst einmal weg, fiel mein Blick viel zu oft auf den Mond, vor dem ich mich maßlos fürchtete, da er stets dazu geneigt war, mich so starr zu beobachten. Riesengroß grinste er mich an, als wollte er sagen: \"Heute Nacht fall ich auf dich drauf!\"
Zum Glück aber waren Mantus und seine Untertanen noch zugegen und es lag wohl eher an der Aufregung vor meinem Geburtstag, dass es mir so schier unmöglich erschien einzuschlafen. Wer nun meint, es sei doch außerordentlich langweilig, die seltsamen Tiere bei ihren Flügen zu beobachten, täuscht sich wirklich ganz gewaltig, denn wahrscheinlich hat er noch nie die Gefahr bemerkt, die mit den heiklen Manövern verbunden ist. In eine Art Rausch schienen meine geflügelten Freunde zu verfallen, während sie die ganze Nacht über versuchten, so nah wie möglich an der heißglühenden Lampe vorbeizusausen. Schon öfters war ich Zeuge gewesen, wenn einer von ihnen seine Fähigkeiten überschätzte und sich folglich die Flügel versengte. Jämmerlich stürzten diese zu Boden - doch das wäre Mantus niemals passiert, denn dazu war er einfach viel zu talentiert! Es war sinnbildlich ein Spiel mit dem Feuer, bei dem allerdings nur die besten überleben konnten. Oft schon hatte ich mich gefragt, was sie überhaupt dazu trieb, sich einer solchen Gefahr auszusetzen, doch kam ich nur zu dem Schluss, dass es wohl eine Art Notwendigkeit in ihrem Leben darstellen musste, denn ganz schön naiv wären sie ja, würden sie dieses Spiel freiwillig oder gar aus Langeweile spielen. Vielleicht sehnten sie sich aber einfach nur nach der Wärme, die das Licht ihnen gab, denn ich würde ja ohne meine Decken genauso bitterlich frieren wie sie ohne ihre Laterne. Trotz dass mir Mantus? Leben fast wichtiger war als das meinige, musste ich jedes Mal, wenn einer seiner Konkurrenten abstürzte bitterlich weinen, denn vielleicht war es ja ein Freund des Königs gewesen und dann wäre auch er sicherlich traurig gewesen. Das wusste ich eben aus meinem eigenen Leben: Allein macht das schönste Spiel der Welt so gut wie garkeinen Spaß!
Manchmal kreisten sie so aufgeregt und lebensmüde um den Lampenschirm, man könnte fast meinen, sie seien so süchtig nach dem Licht, dass sie jede eventuell auftretende Gefahrensituation einfach vergaßen. Ganz egal schien es, ob sie nun im Sturzflug zusammenprallten oder sich an der Hitze die feinen Härchen verbrannten. So lange es nicht die Flügel waren die zu Asche zerfielen, so war es gewiss, dass sie auch in der nächsten Nacht wieder mit dabei waren. Viel mehr gab es ja auch nicht, was ihr kleines Dasein mit Inhalt füllen konnte. Doch denkt nicht, ich würde mich nicht für das Überleben meiner Freunde einsetzen! Seit dem Tage, an dem der schreckliche Vorfall mit der Spinne zu beklagen war, sehe ich jetzt immer genau hin, ob nicht vielleicht wieder so ein hinterhältiger Räuber das endlose Fest der Motten stören wollte. Sah ich also ein Netz in der Nähe der Lampe gespannt, hielt mich nichts und niemand davon ab, unverzögert einen Ball unter der Laterne so lange in die Höhe zu werfen, bis ich das Werk der Spinne zerstört hatte. Leider sah man das Netz bei Nacht nicht sehr gut und so wurde es mir meistens erst gewahr, wenn es sich vom Morgentau durchnässt in den Sonnestrahlen spiegelte. In solchen Fällen musste die Säuberungsaktion aber noch vor der Schule stattfinden, was meine Mutter oft erboste, da es auch schon vorkam, dass ich deswegen zu spät zum Unterricht erschien. Egal, denn ich wusste was mir wichtiger war und so frei die Motten sich jede Nacht ihrem Treiben hingeben durften, so frei durfte auch ich über meine Zeit verfügen! Wie die Spinnen ihre Netze unsichtbar um die Tänzer spannten, so schienen auch die Menschen ihre Fallen um mich herum zu bauen, doch bis jetzt hatte ich immer noch rechtzeitig erkennen können, ob man meine Mutter aus dem Fenster lugte um mich von meiner Arbeit abzuhalten. Sowieso verhielten sich alle denen ich von meinen Freunden erzählte sehr merkwürdig, manche ignorierten es rigoros, während meine Eltern jedesmal in einen furchtbaren Streit verfielen, sagte man auch nur ein Wort über die Motten. So vermied ich es auch folglich darüber zu sprechen und tat meine Arbeit mit dem Spinnennetz nur noch heimlich. Wenigstens hatte ich sie jede Nacht für mich allein! Ganz ungestört konnte ich sie beäugen, ihnen Beifall geben und vor allem meinem König die nötige Ehre erweisen.
Ich träumte oft davon, selbst einmal mit Flügeln versehen an dem wilden Tanz teilzunehmen. Wie rasant ich dabei durch die Lüfte glitt! Ich fühlte mich wie in einer Achterbahn, die man um die Sonne herum gebaut hatte! Auch ich wollte immer näher zum Licht fliegen, doch war es stets mein König, der mich warnend davon abhielt. Ach, wie sorgsam war er nur um mich! Verbrannt wäre ich längst, hätten seine weisen Worte mich nicht fortwährend zur Vernunft ermahnt!
Ähnlich schrecklich wie der Vorfall mit der Spinne, die fast alle der tapferen Flieger gefangen hatte, als ich gezwungen wurde mit meinen Eltern ans Meer zu fahren, war so ein ähnlicher Traum aus dem vergangenen Winter. Ich erinnere mich ganz genau an alles, denn so grausam er mir auch durchs Gemüt fuhr, so lehrreich und wunderschön war er auch. Wieder war ich mit wundervollen Schwingen beschenkt, unterwegs zu der allabendlichen Versammlung im grellen Licht der Laterne. Wie die Vorfreude auf den Tanz in mir brannte, als ich durch die Straßen und Gassen der Stadt flog! Wahrlich ein unbeschreibliches Gefühl! Und erst die ganzen Menschen unter mir! Wie schön war es, unbemerkt an ihnen vorbeizufliegen zu können, da ich ja viel zu klein und nichtig war, um ihren Blick auf mich zu lenken. Höher und höher ging mein Flug, denn viel freier fühlte ich mein Wesen, je näher ich dem Himmel kam. Von ganz oben blickte ich nun auf die Stadt herab, die sich sonst meine Heimat schimpfte und wie sehr wünschte ich mir in diesem Moment einfach nie mehr aufzuwachen. War denn die Traumwelt keine lebenswerte Welt?
Lachen musste ich, wie ich dort oben einen Überblick über den Wahnsinn dieses Ameisenhaufens genießen durfte, denn es sah einfach zu komisch aus, wie sich alles so sinnlos zu bewegen schien. Aber halt! Wollte ich nicht zum Tanzfest der Motten fliegen und mich dort mit meinen Freunden amüsieren? Viel zu lange trieb ich mich schon in den Höhen der Freiheit herum, dabei durfte ich doch gerade meinen König nicht auf derartige Weise in unnötige Sorgschaften bringen! Entsetzlich die Vorstellung, ich könnte ihm seine stets erheiterte Miene rauben! So flog ich so schnell ich konnte wieder in die Stadt hinab und suchte weiter nach der geheiligten Laterne, doch so sehr ich mich auch bemühte, ich fand sie an diesem Abend einfach nicht mehr. Möglich, dass dies meine Strafe für den unangebrachten Höhenflug sein sollte und wirklich schwer war dieses sinnlose Suchen zu ertragen. Vollkommen erschöpft bildete ich mir schon ein, diese oder jene Straße bereits mehrmals durchflogen zu haben, während andere Wege einfach kein Ende nehmen wollten und ich so genötigt war einfach umzudrehen. Auch ich war nun nurnoch ein Teil der sinnlosen Stadtbewegung und sowieso schien der einzige mit Sinn beschenkte Ort die Laterne zu sein, nach deren Auffindung ich mich so kräftezerrend bemühte.
Wer jetzt vielleicht denkt, unser Tanz sei doch im Grunde genauso sinnentfremdet wie der stets fließende Born der Stadt, der täuscht sich auch hier gewaltig, denn im Gegensatz zu den Menschen hatten wir keinerlei Feindschaft, Verpflichtungen oder Strafen in unserer Gemeinschaft. Unsere Welt glich einem riesengroßen Spielplatz, auf dem niemand Neid oder Hass gegen seine Brüder oder Schwestern hegte. Alles schien so harmonievoll in der Ewigkeit zu vergehen und das einzige was zu Trauer führen konnte, war der Absturz eines Kameraden. Doch war die Hitze gleichzeitig Gefahr wie Animation für die waghalsigen Manöver, mit denen man aber keineswegs prahlen wollte. Sie verfolgten einzig und allein den Zweck, sich und die anderen zu noch gefährlicheren Flügen zu bewegen und es war König Mantus allein, der sie zu zügeln vermochte, wenn das Spiel aus seinen Bahnen glitt.
Ich fand das Licht in dieser Nacht nicht mehr und da die Tränen der Verzweiflung schon so schmerzvolle Furchen in mein Gesicht schnitten, beschloss ich einfach dahin zu gehen, wo ich mich an diesem Abend am wohlsten gefühlt hatte: In den hohen Lüften des Wolkenreichs wollte ich mich einfach treiben lassen und die Erde von dort mit meinen Tränen benetzen. Ich drehte mich niemals um, sowie ich in die Höhe empor stieg, denn es kam mir vor als würde der Tod mich auf engstem Schritt verfolgen und schon die Zeit des Umdrehens würde ihm genügen, um eines meiner Beinchen zu umgreifen, um mich schließlich auf den harten Boden der Erde zurückschleudern. Längst schon war ich durch die Wolken geflogen, als mir die Winde der Unendlichkeit unter die Fittiche griffen und mir jegliche Kontrolle über meine Flugbahn entrissen. Nicht lange hielt ich mich bereits im Kosmos auf, als mir die Neugier, mich nicht doch einmal umzudrehen endgültig zu einer unerträglichen Last wurde. So wand ich mich schließlich ruckartig um, doch war niemand hinter mir. Nur der Anblick des kugelrunden Erdballs konnte mein Auge noch rühren, bis ich mich wieder auf mein Ziel besann, doch beim erneuten Rückblick frontal mit der Sonne zusammenstieß und bei lebendigem Leib verbrannte. Sie hatte wohl schon die ganze Nacht auf mich gelauert, diese hinterlistigste aller Laternen!
Ich erwachte und lag wohl noch bis zum Morgen wach - genau wie ich es in dieser Nacht ertragen musste. Wahrscheinlich sollte mir dieser seltsame Traum sagen, dass man, gesetzt man findet sein gewohntes Licht in der Dunkelheit nicht mehr, sich einfach ein größeres und leichter zu findendes sucht. Dass man an diesem aber noch leichter und unvorhersehbarer verglühen kann, fiel mir erst viel später auf, dabei war es mir im Traum doch schon so gut wie vorhergesagt worden.
Ich lag noch immer wach, doch war es nun meine Blase, die so sehr drückte, dass ich in diesem Zustand keinen Schlaf finden konnte. So schlich ich mich aus meinem Zimmer, um die Toilette aufzusuchen, doch kaum stand ich im Gang, zog schon etwas anderes meine Aufmerksamkeit auf sich. Deutlich hörte ich, wie meine Eltern sich lautstark im Wohnzimmer über irgendetwas stritten und so setzte ich mich auf das obere Ende der kleinen Treppe, welche ins Erdgeschoss führte, aus dem die Szene so hämmernd durchs Haus schallte. Erst mein Geschäft zu erledigen, wäre wohl höchst ungünstig gewesen, da man die Spülung unten hören konnte und sie dann wissen würden, dass ich noch wach war und sie vielleicht belauschte.
\"Der kleine Kasperhauser ist doch meschugge!\", brüllte mein Vater, dass die Wände zitterten. Man muss wissen, er hat schon ganz viele Bücher geschrieben und wenn er nicht an seinem Schreibtisch sitzt um noch mehr zu schreiben, sieht man ihn meist lesend auf dem Sofa im Wohnzimmer. Daher kommt es wohl, dass er so viele seltsame Wörter kennt und ich seine Sätze häufig nicht verstehe, doch ist er auch selten dazu geneigt, sie mir zu erklären, dabei würde ich am liebsten auch so reden können wie er.
\"Hättest du mal nicht dein Leben an die Bierflasche verpfändet und ihn ordentlich erzogen! Überhaupt, wie oft soll ich dir noch sagen, dass du in normalen Sätzen sprechen sollst? Es bringt mich zur Weißglut und dabei weißt du selbst, dass du niemals ein erfolgreicher Autor wirst!\"
Mutter klang sehr erbost. Aber sie hatte Recht, denn Vater trank wirklich viel zu viel. Vielleicht war das seine Art, jeden Abend zum Tanz zu gehen - würde ich eines Tages am Licht verglühen, würde Vater sicherlich in seinen Schnäpsen und Bieren ertrinken. So gesehen konnte ich ihm seine Sucht nicht übel nehmen, denn selbst war ich ja nicht besser bedient, konnte ich schließlich nur unter Qualen ohne Mantus und seinem Gefolge einschlafen. Jeder schien irgendein heimliches Spiel zu spielen, bei dem man solange sein eigenes Leben gewinnt, bis man irgendwann ganz unerwartet der Verlierer ist.
\"Wenn das publik wird, kann ich meinen Ruf ohnehin an den Nagel hängen, nicht anders ging\'s dem Schimmelreiter mit seinem närrischen Kind und ich entsinne mich, dass auch dieses stetig vernarrt in irgendwelche Tiere gewesen ist.\"
Nun war das Thema offensichtlich - es ging um mich, und so wurde ich nur noch gespannter auf das was noch gesagt werden sollte. Hätte ich aber die Folgen meiner Neugier auch nur geahnt, so wäre ich wohl ohne Verzögerung zurück in mein Bett gekrochen und hätte mir die Decke über den Kopf gezogen! Da erzähle mir noch einmal ein Lehrer, ich müsse noch so viel lernen. Wozu denn? Damit meine Welt noch unerträglicher wird? Je mehr man lernt, so scheint es, desto unglücklicher wird man, da man sich einem Kern zu nähern scheint, der schon in seiner Substanz aus tiefer Trauer besteht. Nichts mehr wollte ich seit diesem Tag lernen, denn viel wichtiger erschien es mir, meine Phantasie zu behalten und diese war schließlich das Gegenteil von Wahrheit und Wissen.
Wieder sprach meine Mutter: \"Und dein ewiges Zitieren kannst du genausogut unterlassen! Sowieso, du denkst schon wieder nur an dich! Deine Karriere! Pah! Denk doch einmal an deine Familie und wie du sie wieder zur Rekonvaleszenz bewegst anstatt dem Jungen etwas von etruskischen Gottheiten zu erzählen!\"
Das letzte seltsame Wort mit dem \"R\" sprach sie in einem sehr abfälligen Ton - wahrscheinlich wollte sie Vater damit auf den Arm nehmen. Sie war Ärztin und verwendete wohl deshalb auch so oft solch seltsame Wörter, aber noch lange nicht so häufig wie mein Vater! Außerdem war sie, im Gegensatz zu ihm, fast immer bereit mir diese auch zu erklären. Nur in der Praxis, wo ich oft spielte, da niemand zu hause war, schien ich sie damit ganz schön zu nerven. Es scheint, dass auch ihr die Karriere wichtiger war als die Familie, doch warum redet sie dann damit gegen Vater? Dieser erwiderte jedenfalls schlagartig:
\"Das ich nicht lache! Wieso hilft den dieses seltsame Konglomerat deines so toll befreundeten (er betonte dieses Wort sehr ungewöhnlich) Pillendrehers nicht wie es soll? Fast scheint es mir, als würden all seine Hirngespinste davon noch angeheizt, aber wer wundert sich noch über irrationale Halluzinationen bei solch einer Rabenmutter!\"
Ich verstand schon garnichts mehr von seinem Reden, doch blieb auch keine Zeit, um darüber nachzudenken, denn ich hörte ein Glas zerbrechen, während Mutter ihre nun gellende Stimme durchs Haus fahren ließ:
\"Rabenmutter! (wieder zerbrach etwas) Dann sag du ihm doch, dass sein toller Mantus sowieso jeden Winter stirbt, da er nur ein dummes Insekt ist!\"
Ein Handgemenge schien zu entstehen, doch das war mir schon längst egal. Was meinte sie damit - Mantus stirbt? Hatte sie nicht gesagt, er hielte nur Winterschlaf wie so viele andere Tiere auch? Ich war es zwar gewöhnt, dass Menschen mich belogen, aber doch nicht meine eigene Mutter! Und schon garnicht bei diesem Thema! \"Falsch, falsch! Alles falsch!\", dachte ich, während die heißen Tränen der Enttäuschung meine Wangen röteten. Erbost lief ich ins Bad, war dabei mit Absicht besonders laut, verrichtete meine Angelegenheit und stürzte mich schluchzend zurück in mein Bett.
Plötzlich war alles still. Kein Zersplittern oder laute Worte konnte ich vernehmen und im Stillen meiner Seele wünschte ich, dass sie beide tot waren. Sollten sie sich doch gegenseitig die Kehle aufschlitzen! Mich kümmert?s nicht, solange Mantus noch bei mir weilt?
Ich weiß nicht mehr, ob ich noch wach lag oder bereits schlief, als ich sah wie schließlich auch er am Licht seiner Welt verglühte und zu Boden glitt. Wer sollte nun die anderen von ihren Dummheiten abhalten? Wohl niemand, und deswegen war es auch nicht verwunderlich, dass am nächsten Morgen all die tapferen Artisten fort waren. Mein Herz verkrampfte jedesmal, dachte ich auch nur an einen von ihnen, denn fatal: Ich wusste, dass sie niemals wiederkehren würden!
Es war die Nacht vor meinem achten Geburtstag und es war der Tag, an dem ich aufhörte zu sprechen, denn aus Worten konnte Wahrheit werden und Wahrheit tat weh, egal in welcher Form man sie vermittelte. Später nannte man es \"perplexe Introvertiertheit\" - ich nannte es lediglich Rücksicht.
 

sohalt

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Nette Idee.

Dass die Sprache etwas altertümelnd wirkt, etwas salbungsvoll, etwas gestelzt hat man dir vermutlich schon ein paar Mal gesagt, aber das ist eben der Stil, den du gewählt hast; du wirst deine Gründe dafür haben.

Ich denke mir nur, dass es gerade bei dieser Geschichte vielleicht nett gewesen wäre, eine etwas natürlichere, schlichtere, kindlichere Sprache zu nehmen, aber ich werde jetzt sicher nicht behaupten, es gäbe kein Kind, das so spricht wie das in deiner Geschichte. Ich weiß, es gibt unglaublich altkluge Kinder. Teilweise erklärst du es ja, die Akademiker-Eltern verwenden auch dauernd so "schwierige Wörter", das färbt wohl ab. (Wobei ich - Ärtin hin oder her - trotzdem bezweifle, dass es Menschen aus Fleisch und Blut gibt, die im wirklichen Leben Dinge sagen wie "Du hast dein Leben an die Bierflasche verpfändet." Als Ärztin kennt man schon ein paar Wörter, die andere nicht kennen, und verwendet die wohl auch - aber das bezieht sich dann wohl eher auf medizinische Fachausdrücke.)

Inhaltliche Anmerkung:
"...denn ganz schön naiv wären sie ja, würden sie dieses Spiel freiwillig oder gar aus Langeweile spielen."
Sich aus Langeweile in Gefahr begeben, hat wohl weniger mit Naivität zu tun, sondern mehr mit Dekadenz.
Es unterstreicht allerdings sehr hübsch die Altklugheit des Kindes, wenn du es Fremdwörter verwenden lässt, deren Bedeutung es offenbar nicht kennt.

lg
sohalt
 

zyranikum

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danke für deinen kommentar! ja, viele meinen, mein stil sei etwas epochenmässig hintendran, aber ich wehr mich sicher nicht dagegen. genau die dekadenz soll ja zum ausdruck gebracht werden. freut mich, wenn man doch irgendwie darauf kam. die motten (oder das kind) spielen mit dem licht bis sie verbrennen, während der vater trinkt, bis er sich kaputt gemacht hat. manche steigen in ihrem dionysischen rausch sogar so hoch, dass sie an der sonne verbrennen. da wär dann wieder meine klassik im bezug auf die griechische/römische mythologie, also mantus als etruskerkönig und das bild des ikarus (auch ein kind, das zu hoch wollte). daher auch der etwas altertümliche stil. vielleicht neoklassik?
 

sohalt

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Aber findest du wirklich, dass dieses Kind in dieser Geschichte "mit dem Licht spielt, bis es verbrennt"? Also sich bewusst einer Gefahr aussetzt, einfach nur für den Kick? Doch nur in seiner Phantasie!
Denn das Kind selbst ist nämlich wirklich naiv (altklug, aber trotzdem naiv, das muss ja kein Widerspruch sein) und nicht dekadent, das ist ja auch noch ein bisschen schwer für ein Kind, dekadent zu sein. Wenn es sich berauscht, dann an seiner eigenen Phantasie, aber das find ich dann doch ein wenig weit hergeholt - dionysischer Rausch für eine Kinder-Träumerei? Kinder können sich schon sehr hineinsteigern in ihr Herum-Spinntisieren und klar können sie sich dann womöglich etwas darin verlieren. Aber sie tun das ja nicht bewusst, es fehlt dieses Mutwillige, Herausfordernde des Ikarus. Erwachsene steigern sich immer noch in gewisse Sachen hinein, können das reflektieren, und können trotzdem nicht anders, da passt es dann eher.

Abgesehen verbrennt das Kind ja auch nicht, es verstummt. Verbrennen ist doch etwas Dramatisches, Theatralisches, Spektakuläres und irgendwie auch Glamouröses (in Wirklichkeit natürlich nicht, aber so wie es mitunter romantisiert wird - it's better to burn out than to fade away; sex, drugs and rock'n roll) und dieser sanfte Rückzug, dieses resignative Verstummen fällt für mich nicht unter Verbrennen.

Das könnte eine wirklich hübsche, kleine Geschichte sein zum wirklich klassischen Thema : die erste Desillusionierung, der erster Schritt zum Erwachsen-Werden.
Das ist ein gutes, wichtiges Thema.
Aber die Frage ist, ob deine Geschichte das, was du da offenbar alles an Bedeutung darauf laden willst, auch trägt.

Nochwas, wenn die Mutter dem Vater vorwirft, dass er "sein Leben an die Bierflasche verpfändet" (tut mir leid, dass ich das nochmal bringe, die Formulierung haut mich einfach um) und im nächsten Satz von ihm will, dass er in normalen Sätzen sprechen soll, dann wirkt das leicht unfreiwillig komisch, obwohl ich dir ja schon zutraue, dass du dir dieser Ironie bewusst bist.

lg
sohalt
 

zyranikum

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ist es nicht die ewig menschliche tragödie, dass man sich fast genötigt fühlt sich an irgendeinem rausch zu betrinken?klassisch: ein gott zu werden? und sei es der asket, selbst der tut es! wieso die kinder nicht an ihrer phantasie?
ich gebe zu, die story trägt die tiefere, hier ausgeführte interpretation nicht ganz, aber sie reisst viel an, wenn auch ohne weiter darauf einzugehen.

ich denke, es gibt keine sinnlosere erziehungsmethode als sein kind bewusst anzulügen, denn irgendwann wird es sich selbst daran enttäuschen. klassisches beispiel wäre vielleicht der weihnachtsmann. kein wunder, wenn ein kind resigniert, wenn selbst die eigentlich intimsten vertrauenspersonen lügen.

das mit dem verbrennen, hat es ja geträumt. träume verwende ich in meiner prosa bevorzugt als visionelle ereignise. so spürt es, dass das gegenwärtige leben stark dekadent und nihilistisch ausgelegt wird und dass es selbst aus diesem kreis nicht entrinnen kann (kein wunder, bei den eltern). wir brauchen den rausch und die lüge, da wir die wahrheit nicht mehr ertragen können. (und auch die kunst ist immer lüge). gehen wir also nicht an der wahrheit zugrunde, so eben an dem rausch, den wir uns spezifisch aus der auswahl wählen. schlimm, wenn das schon im kindesalter anfängt, ich denke da vorallem an den fernseher - auch ein lügen- und ablenkungsapparat wider die ach so grausame wahrheit.

und nun verstummt das kind, da es den falschen wert der wahrheit erkannt hat!

zur sprache der eltern: auch sie verschmücken die wahrheit durch ihre ungewohnten wortschatz, denn das ihr kind etwas gestört sein muss, ist zwar beiden klar, aber sie wollen es auch nicht so direkt sagen, da es sie natürlicherweise selbst kränkt. wenn der wiederspruch nun bei einem aussenstehenden komisch klingt, halte ich das auch für realistisch. ist es dir nicht auch schon mal passiert, dass wenn du in einen streit eintrittst, dich zunächst einmal fragst, wieso man über solche nichtigkeiten überhaupt derart streiten muss? in diesem fall die wortwahl, wenn es doch im grunde um das eigene kind geht?

hier lief ein ganz klarer fall von fragwürdiger erziehung ab, was sich schließlich in der psyche des kindes äussert. nun kriegt es wie von dir geäussert, den ersten schlag mit dem realitätshammer ins gesicht, aber kann keineswegs damit umgehen, da die weichen für eine kompensierung solcher probleme schon früher gelegt hätten werden müssen.

sicher gebe ich dir recht, wenn man das unmöglich da rauslesen kann, aber vielleicht dafür noch ne menge andere sachen...
 

sohalt

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Wie gesagt: Ich finde es nach wie vor schwer, gleichzeitig dekadent und naiv zu sein. Und dieses Kind ist naiv. Gerade, weil es ja noch alles unhinterfragt glaubt. Die Naivität dieses Kindes ist ja praktisch die Grundprämisse deiner Geschichte.

Erziehungsfehler? Also auf das wär ich jetzt nicht unbedingt gekommen. Wenn du nicht das mit der Bierflasche eingebaut hättest, hätte ich diesen Vater hier durchaus für einem womöglich geradezu mustergültigen gehalten, einer, der sich mit seinem Kind beschäftigt, der ihm Geschichten erzählt, der seine Phantasie beflügelt...

Das mit dem "anlügen" find ich nämlich in der Regel nicht ganz so dramatisch. Mit der Zeit lernt man als Kind eben, dass nicht jede Warheit eine Wortwörtliche ist, dass es auch eine größere Wahrheit gibt, die hinter den Buchstaben steht. Das ist die Wahrheit der Märchen. Und der Weihnachtsmann und das Christkind und auch der Mottenkönig, das sind Märchen. Du willst doch nicht etwa behaupten, Märchen seien Lügen? Natürlich hat es nie einem Prinzessin gegeben, die hinter einer Rosenhecke 1000 Jahre schlief! Und es steckt trotzdem Wahrheit darin. Und natürlich bringt nicht das Christkind die Geschenke! Aber das, wofür es steht, und ich meine jetzt nicht notwendigerweise den christlich/katholischen Hintergrund, mehr so "Liebe+Hoffnung+Friede auf Erden allen die guten Willens sind" - das kann trotzdem wahr sein, denkst du nicht? Natürlich gibt es solche Wahrheiten nie in absolut, man muss sich oft mit einer Nummer kleiner zufrieden geben, aber als Hoffnungschimmer existiert das alles doch, zumindest als Möglichkeit, zumindest als Idee. Liebe+Hoffnung+Friede sind nicht zwangsläufig Lügen, auch wenn man zuweilen nicht viel davon bemerkt hiernieden und ich es niemanden verdenken kann, der sie für Lügen hält. Wirst du deinem Kind nicht von der Liebe erzählen, auf die Gefahr hin, dass es dich später für einen Lügner hält, weil es irgendwann unter dem Einfluss entsprechender Lektüre vorziehen wird, die Liebe auf chemische Reaktionen zurückzuführen?

Ich glaube, die meisten Kinder entwickeln mit der Zeit ein Gefühl für die verschiedenen Arten der Wahrheit und deshalb ist das für sie in der Regel nicht ganz so traumatisch. Für mich zumindest war das mit dem Christkind zB nicht so der große Schock. Ich hielt dieses "Oh-Gott, es gibt ja gar keinen Weihnachtsmann"-Drama eigentlich immer mehr so für eine Klischee aus amerikanischen Familienserien; fast jede hat irgendwann mal diesen Plot.

Was nicht heißt, dass sowas nicht durchaus auch traumatisch sein kann.

Es ist doch so: Wir alle müssen uns nach und nach von diversen Illusionen trennen. Das machen nicht die Eltern, die bösen Erwachsenen, die böse, "dekadente" Gesellschaft - das macht die Zeit.
Manche kommen damit klar. Andere nicht.
Ich las das hier als eine Geschichte über ein Kind, das eben nicht damit klar kommt.

Und nochwas zum Thema Rausch:
Wenn der Vater sich betrinkt, weiß er, was mit ihm geschehen wird. Er betrinkt sich, um sich zu berauschen.
Wenn das Kind in seine Traumwelt eintaucht, wird es nicht wissen, mit welchen Ergebnis. Weil es für Kinder bis zu einem gewissen Grad durchaus natürlich ist, sich alles mögliche zusammen zu spinnen. (ich fand das Kind bis auf die Sprache nämlich gar nicht so besonders gestört, ehrlich gesagt). Wenn das Kind phantasiert, dann macht es das nicht, um sich zu berauschen, sondern weil es einfach in seiner Natur liegt. Denn das Kind ist tatsächlich wie die Motten, die vom Licht angezogen werden, ganz automatisch, ohne Gedanken. Naiv. Aber nicht weil sie es "freiwillig machen oder aus Langeweile", wie du das Kind denken lässt, sondern genau im Gegenteil: weil sie es eben nicht freiwillig machen, sondern automatisch, weil es in ihrer Natur liegt.
Zwischen dem "Rausch" des Kindes und dem Rausch des Vaters besteht ein ziemlicher Unterschied, denkst du nicht?

Und zur Sprache der Eltern: Aber wenn sie die traurige Wahrheit durch die Sprache verschmücken wollen, warum brüllen sie dann so herum? So bald ich schreie, kann ich schlecht den schönen Schein wahren, dann muss ich mir auch nicht mehr die Mühe mit gespreizten Formulierungen machen..
Mir scheint eher, du als Autor willst durch die Sprache was verschmücken...

lg
sohalt
 

zyranikum

Mitglied
ob man sich jetzt über seinen Rauch bewusst ist, ist natürlich was anderes. Ich finde es nur seltsam, dass der Mensch und auch das Kind überhaupt so ein Bedürfnis hat.

"hätte ich diesen Vater hier durchaus für einem womöglich geradezu mustergültigen gehalten, einer, der sich mit seinem Kind beschäftigt, der ihm Geschichten erzählt, der seine Phantasie beflügelt..."

ja, aber dabei erklärt er nicht mal sein Vokabular, beleidigt das Kind als Kasperhauser und schiebt ihm noch die Schuld für sein berufliches Versagen zu...

Trotzdem interessante Gedanken, aber bis ich mich real um Erziehungsmethoden kümmern muss, dauert's wohl eh noch ein paar Jahre. Müsste mal den "Emile" lesen...
 

sohalt

Mitglied
ich würd mich da nicht zu sehr auf Rousseau verlassen, zumindest nicht, falls du was gegen "Wasser-predigen/Wein-trinken" hast. Um seinen eigenen Nachwuchs hat sich der ja nicht so toll gekümmert...

lg
sohalt
 



 
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