Märchen

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Ysha

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Das weiße Vöglein

Es waren einmal ein König und eine Königin, die wohnten in einem schönen Schlosse an einem See, der war so groß, dass keiner wusste, was am anderen Ufer war. Sie hatten ein einziges Kind, ein wunderschönes Mädchen mit goldenem Haar. Die Prinzessin liebte Blumen über alles und kannte eine jede im Garten des Schlosses mit Namen und es war ihr liebster Zeitvertreib, diesen Garten zu pflegen und immer neue Blumen dort zu pflanzen, bis es schließlich in ihres Vaters Reich keine Blume mehr gab, die nicht im Garten der Prinzessin wuchs. Und doch fühlte sie, dass ihr Garten bei aller Schönheit noch nicht vollkommen war und dass eine Blume darin fehlte.
Eines Tages kam ein steinaltes Mütterchen zum Schloss, das bot vielerlei seltene Kräuter und Blumen feil. Als die Prinzessin davon erfuhr, eilte sie zum Tor und bat die Alte freundlich herein. Sie ließ sich alles zeigen, doch alle Kräuter und Blumen, die die Alte feilhielt, kannte die Prinzessin und sie wuchsen schon in ihrem Garten.
Traurig fragte sie: „Ach, Mütterchen, habt ihr nicht noch eine andere Blume? Ich suche schon lange die eine Blume, die in meinem Garten noch fehlt!“
Da zog die Alte ein irdenes Gefäß hervor, welches sie bisher in ihrer Schürze verborgen hatte, darin wuchs ein junger Rosenspross, und sprach zu der Prinzessin:
“Es wachsen die Triebe der Rose
Lang und lose
Zu binden nur mit härenem Seile
Du musst es flechten in Jahres Weile!“
Nach diesen Worten reichte sie der Prinzessin einen unscheinbaren Kamm und sprach: „Kämme Dich jeden Tag bei Sonnenuntergang mit diesem Kamm und sammle übers Jahr die Haare, die Du Dir dabei auskämmst. Flechte ein Seil daraus, mit dem sollst Du die Rose binden! Es soll Dein Schaden nicht sein.“
Im selbigen Augenblick, da die Prinzessin den Kamm ergriff, ertönte ein leises Klingen und die Alte verschwand vor ihren Augen. Nur ein kleines weißes Vöglein schwang sich trällernd in den Himmel und flog davon.

Fortan tat die Prinzessin wie geheißen und kämmte jeden Abend bei Sonnenuntergang ihr goldenes Haar mit dem Kamm der Alten. Dann kam jedes Mal das kleine weiße Vöglein herbei geflogen, ließ sich auf dem Rosenspross nieder und trällerte die schönsten Melodien, während sie sich kämmte. Da wurde der Prinzessin immer ganz leicht ums Herz und sie wurde so froh, dass sie sich kaum zu lassen wusste. Die ausgekämmten Haare aber verwahrte sie in einem hölzernen Kästchen in ihrer Kammer.
Die Prinzessin pflegte den Rosenspross mit besonderer Hingabe und er wuchs und gedieh, dass es eine Freude war und bald schon reichten die langen Triebe bis ans Fenster der Prinzessin und über den Weg und immer noch wuchsen sie weiter.

Übers Jahr waren genug Haare im Kästchen und die Prinzessin tat, wie ihr geheißen, flocht ein feines goldenes Seil daraus und band die langen Triebe der Rose auf. Am anderen Morgen waren sie über und über bedeckt mit wunderbar duftenden purpurnen Rosenblüten von ungewöhnlicher Größe und Schönheit. Das kleine weiße Vöglein aber flog trällernd von Blüte zu Blüte. Schließlich brach es die schönste mit seinem Schnabel, zupfte eins der goldenen Haare der Prinzessin aus dem Seil und flog mit beidem im Schnabel über den See davon.
Von diesem Tag an kam das Vöglein nicht mehr; und die Prinzessin ward darüber sehr traurig und ward es mehr von Tag zu Tag.
Der Rosenstrauch aber blühte fort und fort den ganzen Sommer und von überall strömten die Menschen herbei, seine Schönheit zu bewundern, und auch die Schönheit der Prinzessin bewunderten sie und gar viele Prinzen und edle Ritter warben um ihre Hand.
Die Prinzessin aber schickte sie alle fort, denn keiner konnte die Traurigkeit aus ihrem Herzen vertreiben, die es seit dem Ausbleiben des Vögleins erfüllte.
Tag um Tag schnitt die Prinzessin eine der Rosenblüten, steckte sie in ihr Haar und ging zum Ufer des Sees. Dort stand sie bis zum Abend und hielt Ausschau nach dem weißen Vöglein, aber es kam nicht mehr.
Eines Tages, als sie so stand und traurig und fast schon ohne Hoffnung über das Wasser blickte, erschien am Horizont ein Segel. Eine seltsame Unruhe ergriff die Prinzessin, als sich ein Schiff näherte, das war ganz weiß und hatte weiße Segel und machte vor ihr fest. Ein schöner junger Mann sprang an Land, trat vor sie hin und kniete vor ihr nieder. Dann streckte er ihr eine gläserne Phiole entgegen, darin waren ein goldenes Haar und eine Rosenblüte und sprach: „Oh holdselige Jungfrau, ihr seid die, die ich suche! Ich bin der Königssohn vom Land hinter dem See. Ein kleines weißes Vöglein brachte mir dieses Haar und die Rose, und seither findet mein Herz keine Ruhe mehr. Denn ein altes Weib hat mir vor langer Zeit geweissagt, dass einst ein Vogel über den See kommen und mir Kunde bringen würde von der, die meine Braut sein soll!“ Der Prinzessin aber war die Traurigkeit aus dem Herzen gewichen, kaum dass sie den Jüngling erblickt hatte. Sie ergriff seine Hand und hieß ihn aufstehen und führte ihn zu ihren Eltern und sprach: „Dieser soll mein lieber Gemahl sein!“ Da freuten sich der König und die Königin und mit großer Pracht wurde die Hochzeit gefeiert.
Als der Königssohn vom Land hinter dem See und die Prinzessin nun aus der Kirche traten, da flog vor ihnen fröhlich jubilierend das weiße Vöglein, umkreiste sie dreimal und schwang sich dann hinauf in den Himmel und ward nicht mehr gesehen.
Der Königssohn und die Prinzessin aber herrschten in Weisheit und Güte über ihr großes Reich diesseits und jenseits des Sees und lebten froh und glücklich. Und solange sie lebten, erblühte der Rosenstrauch in jedem Jahr schön wie keiner sonst.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
zu

erst einmal herzlich willkommen auf der leselupe.
ein schönes märchen im klassischen stil hast du hier gepostet. weiter so.
lg
 

Odilo Plank

Mitglied
Liebe Ysha,
auch ich begrüße Dich hier ganz herzlich und schließe mich der Wertung der Forenredakteurin an.
Denk dran, es gibt hier noch andere reizvolle Textsorten!
Hoffentlich bis bald! Odilo
 

Tante Oma

Mitglied
Hallo Ysha!

Auch von mir ein herzliches Willkommen auf der Leselupe!
Ein wunderschönes Märchen hast Du geschrieben!
Es gefällt mir sehr gut!

Liebe Grüße
Tante Oma
 



 
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