Märchen für Erwachsene

3,00 Stern(e) 3 Bewertungen

liebermann

Mitglied
Das Wunder der Visualisierung

DAS WUNDER DER VISUALISIERUNG

Johannes Pinsel hatte sein ganzes Leben lang Angst. Er hatte Angst vor Achselschweiß, Angst vor Mundgeruch, Angst vor Kühen, Angst vor seinem Chef; und eine richtige Lähmung überfiel ihn, wenn er die süße Heidi Sauer sah, die er nur zu gerne einmal zum Essen eingeladen hätte. Heidi traf er jeden Morgen an der Bushaltestelle Goetheplatz auf dem Weg zu seiner langweiligen Arbeit. Den Namen von Heidi hatte er aufgeschnappt, als sie einmal im Bus einen Anruf von einem Meinungsforschungsinstitut bekam, sich mit Namen meldete und dann erklärte, welche Politiker sie alle nicht kannte und warum sie Wattestäbchen besser als Umweltzerstörung fand. Still bewunderte er sie, während sie nicht einmal seine Existenz erahnte. Doch an einem Donnerstag kam seine grosse Chance. Der Bus kam nicht und sie standen nur zu zweit an der Haltestelle.

„Wissen Sie, warum der Bus nicht kommt?“ fragte ihn die blondgelockte Heidi. Johannes konnte vor Freude kaum das Wasser halten. Sie sprach ihn an! Blitzschnell überlegte er sich eine kluge Antwort. Sagen wollte er, dass sie gemeinsam ein Taxi in die Stadt nehmen sollten, als Kavalier bezahle natürlich er. Der Rest würde sich dann schon ergeben. Schliesslich gäbe es auf der Taxifahrt genügend Möglichkeiten ins Gespräch zu kommen. Tatsächlich brachte er aber nur ein: „Ähhhh, nein, ähh…“ heraus, während sein Kopf trotz der winterlichen Kälte rot zu glühen begann. Die süße Heidi Sauer lief davon und Johannes Pinsel war wieder einmal deprimiert, weil er seine Chance nicht genutzt hatte.

Nach diesem traumatischen Erlebnis beschloss er etwas an seinem Leben zu ändern. So konnte es nicht weiter gehen. Als er durch die Zeitung blätterte, fand er die Lösung seines Problems. Das Institut für Persönlichkeitsentwicklung bot eine Vielzahl von Seminaren an. Über eine kostenpflichtige 190er-Nummer bestellte sich Johannes Pinsel Seminarunterlagen. Sofort fand er was, er suchte. „Wollen Sie mehr Geld, mehr Sex, mehr Erfolg?“ stand da geschrieben. Ja, das wollte Johannes. Und weiter las er: „Dann besuchen Sie unser Seminar zur Persönlichkeitsentwicklung. Für nur 1.800 Euro (ohne Hotelunterbringung) werden Sie in drei Tagen ein neuer Mensch. Buchen Sie unser Seminar - Ich, Ich und noch mal Ich! Erfolg durch Visualisierung.“

Johannes dachte schon Tage vorher daran, was er nach dem Seminar für ein toller Typ sein würde. Mit leichtem Herzen überwies er die Seminargebühr, buchte ein Hotel in dem Allgäuer Bergdorf, in dem das Seminar stattfinden würde, und nahm sich eine Woche frei, damit er nach dem Seminar das gelernte sofort in der Praxis erproben konnte.

Es war ein tolles Seminar. In zahlreichen Übungen lernte Johannes die Kunst der Visualisierung. Die erste Aufgabe bestand darin, dass er sich neu erfinden sollte. Aussehen, Eigenschaften und Fähigkeiten, die er sich schon immer wünschte, sollte er sich vorstellen. Das war nicht sonderlich schwer. In seiner Visualisierung stellte sich Johannes als Mischung aus Brad Pitt, Albert Schweizer, Bill Gates und Sabine Christiansen vor. Die Letztere deshalb, weil er wusste, dass jeder Mensch auch eine weibliche Seite benötigt, wenn er langfristig Erfolg haben will. Schritt für Schritt visualisierte Johannes die verschiedenen Personen, analysierte, was ihre Stärken ausmachte und stellte sich vor, wie er sich immer mehr diesen Menschen anglich. Schritt für Schritt lernte Johannes neue Visualisierungstechniken. Als sich die Seminarteilnehmer schlimme Demütigungen einfallen lassen mussten, denen sie persönlich ausgesetzt waren, wusste Johannes eine besonders Schlimme. Er musste daran denken, wie ihn sein Abteilungsleiter zum Gespött machte, als er ihm Befahl Schwarz-Weiß-Schaubilder mit Buntstiften anzumalen, weil der Farbdrucker kaputt sei. Zum Dank beschimpfte der Abteilungsleiter Johannes, weil er bei einem Bild über die Ränder malte. Mit Hilfe der Visualisierung reduzierte er ihn auf Schlumpfgröße, bevor er ihn in die dreckige Mülltonne trat, die Sekunden später ein städtisches Reinigungsunternehmen ausleerte. Johannes fühlte sich mit jeder Minute besser.

Auch mit seinen eigenen negativen Gefühlen lernte er umzugehen. Alle Ängste und Unsicherheiten verwandelte er in einen grossen Feuerball, den er in das Weltall schleuderte, wobei er nebenbei eine Ufoflotte zerstörte, die zur Erde flog um die Menschheit zu vernichten. Johannes visualisierte immer besser. Nach den drei Tagen Seminar hatte er sich komplett verwandelt.

Als er nach Hause kam, wusste er was zu tun ist. Er würde am nächsten Tag die süße Heidi ansprechen. Bevor er in sein Bett ging, startete er seine Visualisierungsübung. Er hatte noch die Worte seines Trainers im Mund: „Ein Karatekämpfer, der ein Brett durchschlägt, führt seinen Schlag erst unzählige Mal im Geist durch. Erst wenn alles perfekt ist, vollzieht er die Bewegung in der Realität!“ Genauso würde es Johannes machen. Vor dem Schlafen gehen visualisierte er die Kontaktaufnahme mit der flotten Heidi. Mit einem flotten Spruch „Na, wartest Du auch auf den Bus“ würde er ins Gespräch kommen. Dann sollte eine Einladung zum neuen Italiener mit dem Satz „Du magst doch sicher Spaghetti“ folgen. Zum Abschluss plante er Cocktails in einer angesagten Szenebar, wobei er vorher dem Barkeeper einen großen Schein zustecken wollte mit dem Hinweis, ja nicht mit dem Schnaps bei der Dame zu sparen. Anschliessend wollte er Heidi die Vorzüge seiner neuen Stereoanlage präsentieren, die sogar eine Fernsteuerung mit bunten Tasten hatte und im Dunkeln leuchtete, so dass sie ihn anbettelte, mit ihm nach Hause kommen zu dürfen. Das alles visualisierte Johannes Pinsel bis in das kleinste Detail. Dann übte er den tollen Satz, mit dem er sie bei sich zu Hause rumkriegen würde: „Warm hier, zieh dich doch aus“. Zuletzt visualisierte er, wie er sie nach allen Regeln der Kunst durchbürsten würde, stundenlang. Hören und Sehen sollte ihr vergehen! Jeden Satz, jede Bewegung und jede mögliche Reaktion spielte er unzählige Male durch. Erschöpft vom vielen Visualisieren schlief Johannes ein.

Wie gross seine Visualisierungskraft tatsächlich war, stellte Johannes dann am nächsten Morgen direkt nach dem Aufwachen fest. Als er eine ausgiebige Dusche nahm und sich sein Gemächt wusch, stellte er darauf Spuren von rotem Lippenstift fest. Das war also das Wunder der Visualisierung!

Frank Liebermann
 

xrotbartx

Mitglied
Hallo,
hättest du den Text nochmal durchgelesen, wäre dir auch aufgefallen, dass hier etwas fehlt:

"Still bewunderte er sie, während sie nicht einmal seine Existenz."

Ich finde, der Text ist stark bearbeitungsbedürftig.
 

liebermann

Mitglied
Danke für den Tipp!

Hallo Harald,

habe den Fehler korrigiert. Was ist denn so stark überarbeitungswürdig?

Viele Grüsse
Frank
 



 
Oben Unten