Walther
Mitglied
Mauersplitter
I - 1989
Als die Mauer zusammenbrach, brachen viele auf. Es ging in die damalige Übergangs-DDR mit dem Auftrag, Interessenten zum Thema „Wie mache ich mich selbständig“ zu schulen. Es gab so etwas wie einen nationalen Impetus, mit anzupacken. Erleichtert wurde das dadurch, dass man die Reisekosten konfinanziert bekam. Sonst gab’s nichts, und nicht nur ich fuhr trotzdem.
In Dessau haben wir damals in einem Wohnheim gehaust, in dem die Heizung durch das Öffnen von Fenstern geregelt wurde. Das Klo konnte man nur mit geschlossenen Augen und Nase betreten. An Duschen war nicht zu denken.
Beim Schnäuzen der Nase war das Taschentuch nach der ersten Nacht schwarz. Der Horizont war geldgrün und der Schwefelgeruch ungefilterter Braunkohleverbrennung allgegenwärtig.
II – 1990
Ich fahre im Auftrag der sächsischen Wirtschaftsförderung nach Riesa ins Stahlwerk. Die Straßen fordern den Ford Mondeo bis an die Grenzen seiner Stoßdämpfer. Einschlafen am Steuer ist nicht.
Trabbis all überall: Der Gestank der Zweitakter ist der klare Hinweis, wo man sich befindet, ebenso die anderen Verkehrszeichen. An einer Ampel biegt man rechts ab, auch wenn die Ampel rot ist. Der grüne Pfeil nachts rechts macht wenigstens da Hoffnung auf Besserung.
Die Besichtigung des Betriebs ist niederschmetternd. Mehr als 70% der Arbeitsplätze würden wegfallen, wenn es überhaupt eine Überlebenschance gab. Den Leitern der Werks PHG habe ich geraten, sich möglichst schnell mit einem Geschäftsplan und einer Ausgründung zu beschäftigen. So können sie wenigstens am beginnenden Bauboom teilhaben. Ihr Betrieb wird sie bald nicht mehr benötigen.
III – 1991
Ich fahre wieder einmal über Plauen nach Dresden. Der Flug ist zu teuer. Außerdem brauche ich das Auto, um nach Schwarzenberg zu fahren, der Vorlage für den Roman gleichen Namens von Stefan Heym. Den kennt heute keiner mehr, Schwarzenberg liegt im Windschatten des Erzgebirges, ohne Zukunft und Perspektive.
Ich fahre über Landstraßen durch das Vogtland, weil sich die einzig fertiggestellte Brücke der Hitlerautobahn nach Berln gerade im Neubau befindet. Stuttgart – Dresden dauert zwischen acht und neun Stunden. Wieviele der schwäbischen Leihbeamten und –manager in der Aufbauzeit ihr Leben auf diesen Straßen gelassen haben, weiß keiner. Auch ich habe ein halbes Dutzend Verkehrstote im direkten Umfeld. Der Aufbau ist auch eine blutige Angelegenheit, es fahren sich nach vorsichtigen Schätzungen einige Tausend in den Tod.
IV – 1993
In Dresden gewinnt die Hoffnung Oberhand: die Renovierung der Frauenkirche geht auf die Baustelle. Welch ein Wunder, welche weltweite Solidarität! Mit diesem einzigartigen Bauwerk bekommt der Aufbau Gestalt.
In einem wahnwitzigen Projekt werden zuerst die Reste, die noch stehen, gesichert, und dann werden die Schutthaufen sortiert und geordnet. Ich bin jedes Mal, wenn ich in Dresden war, hingegangen, um Kraft zu schöpfen. Hier wächst das, was möglich hätte sein können. Hier ist das Wunder der Wiedervereinigung fassbar.
V – 1995
Berlin, Marienburgerstraße: eine Rückkehr. Wer nach dem Krieg in Berlin geboren ist und wegzog, nach Frankfurt, nach Hamburg, in die verbliebenen großen Städte, der trug zeitlebens ein schlechtes Gewissen mit sich. Geradewegs wie die Eltern und Großeltern, die gingen, weil die Existenzangst sie trieb.
Die Häuser sind im Hochpatterre so feucht, dass man in diesen Wohnungen oft nicht mehr leben kann. Der Vater hatsich in das zweite und dritte OG eingekauft. Die Renovierung ist eine Pusselarbeit, die Kosten exorbitant, die Straßen eine Zumutung.
Aber Berlin, ja, das ist es. Da sieht man die Veränderung. Der Potsdamer Platz: die Baustelle Deutschland ist selten so fassbar. Und an ihm kann man heute noch Erfolg, Scheitern und Chuzpe nachfühlen.
VI – 1999
Mit Kollegen nach Dresden in einer geführten Reise, die Liebste will endlich wissen, was geschieht. Die Frauenkirche ist halbfertig. Wir besuchen die Orte, die man gesehen haben muss. Es ist viel geschehen.
Es fällt richtig auf, dass am Flughafen einiges vorangekommen ist. Der Verkehr ist verheerend, aber die Trabbis sind in der Unterzahl. Die Luft ist viel besser, die Hotels sind auf Weststandard.
Wer die Hauptstraßen verlässt, sieht jedoch, was alles noch gemacht werden muss, wieviel 40 Jahre DDR gekostet haben. Meißen ist beeindruckend und niederschmetternd zugleich.
VII – 2002
Die Fahrt geht wieder über Plauen, die Autobahnen sind neu gemacht, und das Fahren ist wie im Paradies. Ich will die alten Wege fahren, will selbst sehen und spüren, wo der Soli hingekommen ist,
Jetzt sind die Straßen besser als zwischen Karlsruhe und München. Wenigstens das haben wir hinbekommen.
Als ich bei Cottbus Richtung Berlin weiterfahre, spüre ich wieder das bekannte Klackedieklack der alten Betonplatten. Wie alt dieser Belag ist? Nicht überall ist der Fortschritt angekommen.
Als ich in Treptow ankomme, fahre ich durch eine Stadt, in der schon die Zeit nach der Renovierung angebrochen ist. Der Leerstand in der Innenstadt ist erschreckend, das aus einer Klinikfehlinvestition entstandene Altenheim der größte Arbeitgeber neben der Stadtverwaltung.
Auch wir haben einen Mezzogiorno. Und es wird noch schlimmer kommen, man kann es regelrecht riechen.
VIII – 2006
Einig Fußballvaterland – ganz Deutschland in Schwarzrotgold. Jedes Tor ist ein nationales Erlebnis, das ganze Land ist im Freudentaumel.
Als ob sich 1954 wiederholte: ein Volk findet einen historischen Augenblick zusammen, es entsteht so etwas wie die Leichtigkeit des Seins. Alle Probleme verschwinden hinter dem friedlichen und freundlichen Fußballfest.
Dass wir den Titel nicht gewinnen, ist eine Nebensache. Weltmeister der Herzen sind wir. Und in Berlin, da schlägt unser aller Pulsschlag. Welch eine Abschiedsfeier für die Fußballhelden!
IX – 2008
Nach dem Sommermärchen 2007 folgt das Sommermärchen 2008. Und immer geht es voran.
Als ich 2008 nach Berlin fliege, sehe ich nichts mehr von der Mauer, aber den Lehrstand. Die Lesung findet in der Nähe des Alex statt, in einer Ladenzeile, die – mangels anderer Verwendung – Atelier and Atelier aneinanderreiht.
Irgendwie trostlos: Die Baustelle Deutschland ist inzwischen hinter schönen Fassaden versteckt, hinter denen das Land munter weiterbröckelt. Der kalte Hauch der Globalisierung dringt durch die Ritzen, der Wohlstand steht auf dem Prüfstand.
Die Lesung sit schön und befreiend. Aber wir sind froh, wieder im schönen Hotel im Westen der Stadt zu übernachten. Noch kann man sich, wenn man Geld hat, die Hülle Sicherheit kaufen. Was aber, wenn die Krise doch noch kommt?
X – 2009
Der Geier kreist. Was wird aus uns? Keiner weiß es. In der Not kommen die Realitäten wieder auf den Tisch. Berlin im Februar ist kalt, die Tagung merkwürdig unwirklich. Die Lähmung hat auch die IT-Branche erfaßt.
Die Mauer ist weg, wenigstens die, die wir sehen. Aber sonst geht sie nach wie vor durch dieses Land. Sie ist in uns. Wir fühlen es. Wir können es sehen.
Aufgeben gilt nicht. Es muß weitergehen. Und es geht weiter, auch wenn man es nicht glauben will.
In weiteren zehn Jahren werden wir erneut Bilanz ziehen. Vielleicht sind die Mauersplitter aus unseren Herzen und Köpfen verschwunden. Vielleicht haben sie sich auch nur verwachsen.
I - 1989
Als die Mauer zusammenbrach, brachen viele auf. Es ging in die damalige Übergangs-DDR mit dem Auftrag, Interessenten zum Thema „Wie mache ich mich selbständig“ zu schulen. Es gab so etwas wie einen nationalen Impetus, mit anzupacken. Erleichtert wurde das dadurch, dass man die Reisekosten konfinanziert bekam. Sonst gab’s nichts, und nicht nur ich fuhr trotzdem.
In Dessau haben wir damals in einem Wohnheim gehaust, in dem die Heizung durch das Öffnen von Fenstern geregelt wurde. Das Klo konnte man nur mit geschlossenen Augen und Nase betreten. An Duschen war nicht zu denken.
Beim Schnäuzen der Nase war das Taschentuch nach der ersten Nacht schwarz. Der Horizont war geldgrün und der Schwefelgeruch ungefilterter Braunkohleverbrennung allgegenwärtig.
II – 1990
Ich fahre im Auftrag der sächsischen Wirtschaftsförderung nach Riesa ins Stahlwerk. Die Straßen fordern den Ford Mondeo bis an die Grenzen seiner Stoßdämpfer. Einschlafen am Steuer ist nicht.
Trabbis all überall: Der Gestank der Zweitakter ist der klare Hinweis, wo man sich befindet, ebenso die anderen Verkehrszeichen. An einer Ampel biegt man rechts ab, auch wenn die Ampel rot ist. Der grüne Pfeil nachts rechts macht wenigstens da Hoffnung auf Besserung.
Die Besichtigung des Betriebs ist niederschmetternd. Mehr als 70% der Arbeitsplätze würden wegfallen, wenn es überhaupt eine Überlebenschance gab. Den Leitern der Werks PHG habe ich geraten, sich möglichst schnell mit einem Geschäftsplan und einer Ausgründung zu beschäftigen. So können sie wenigstens am beginnenden Bauboom teilhaben. Ihr Betrieb wird sie bald nicht mehr benötigen.
III – 1991
Ich fahre wieder einmal über Plauen nach Dresden. Der Flug ist zu teuer. Außerdem brauche ich das Auto, um nach Schwarzenberg zu fahren, der Vorlage für den Roman gleichen Namens von Stefan Heym. Den kennt heute keiner mehr, Schwarzenberg liegt im Windschatten des Erzgebirges, ohne Zukunft und Perspektive.
Ich fahre über Landstraßen durch das Vogtland, weil sich die einzig fertiggestellte Brücke der Hitlerautobahn nach Berln gerade im Neubau befindet. Stuttgart – Dresden dauert zwischen acht und neun Stunden. Wieviele der schwäbischen Leihbeamten und –manager in der Aufbauzeit ihr Leben auf diesen Straßen gelassen haben, weiß keiner. Auch ich habe ein halbes Dutzend Verkehrstote im direkten Umfeld. Der Aufbau ist auch eine blutige Angelegenheit, es fahren sich nach vorsichtigen Schätzungen einige Tausend in den Tod.
IV – 1993
In Dresden gewinnt die Hoffnung Oberhand: die Renovierung der Frauenkirche geht auf die Baustelle. Welch ein Wunder, welche weltweite Solidarität! Mit diesem einzigartigen Bauwerk bekommt der Aufbau Gestalt.
In einem wahnwitzigen Projekt werden zuerst die Reste, die noch stehen, gesichert, und dann werden die Schutthaufen sortiert und geordnet. Ich bin jedes Mal, wenn ich in Dresden war, hingegangen, um Kraft zu schöpfen. Hier wächst das, was möglich hätte sein können. Hier ist das Wunder der Wiedervereinigung fassbar.
V – 1995
Berlin, Marienburgerstraße: eine Rückkehr. Wer nach dem Krieg in Berlin geboren ist und wegzog, nach Frankfurt, nach Hamburg, in die verbliebenen großen Städte, der trug zeitlebens ein schlechtes Gewissen mit sich. Geradewegs wie die Eltern und Großeltern, die gingen, weil die Existenzangst sie trieb.
Die Häuser sind im Hochpatterre so feucht, dass man in diesen Wohnungen oft nicht mehr leben kann. Der Vater hatsich in das zweite und dritte OG eingekauft. Die Renovierung ist eine Pusselarbeit, die Kosten exorbitant, die Straßen eine Zumutung.
Aber Berlin, ja, das ist es. Da sieht man die Veränderung. Der Potsdamer Platz: die Baustelle Deutschland ist selten so fassbar. Und an ihm kann man heute noch Erfolg, Scheitern und Chuzpe nachfühlen.
VI – 1999
Mit Kollegen nach Dresden in einer geführten Reise, die Liebste will endlich wissen, was geschieht. Die Frauenkirche ist halbfertig. Wir besuchen die Orte, die man gesehen haben muss. Es ist viel geschehen.
Es fällt richtig auf, dass am Flughafen einiges vorangekommen ist. Der Verkehr ist verheerend, aber die Trabbis sind in der Unterzahl. Die Luft ist viel besser, die Hotels sind auf Weststandard.
Wer die Hauptstraßen verlässt, sieht jedoch, was alles noch gemacht werden muss, wieviel 40 Jahre DDR gekostet haben. Meißen ist beeindruckend und niederschmetternd zugleich.
VII – 2002
Die Fahrt geht wieder über Plauen, die Autobahnen sind neu gemacht, und das Fahren ist wie im Paradies. Ich will die alten Wege fahren, will selbst sehen und spüren, wo der Soli hingekommen ist,
Jetzt sind die Straßen besser als zwischen Karlsruhe und München. Wenigstens das haben wir hinbekommen.
Als ich bei Cottbus Richtung Berlin weiterfahre, spüre ich wieder das bekannte Klackedieklack der alten Betonplatten. Wie alt dieser Belag ist? Nicht überall ist der Fortschritt angekommen.
Als ich in Treptow ankomme, fahre ich durch eine Stadt, in der schon die Zeit nach der Renovierung angebrochen ist. Der Leerstand in der Innenstadt ist erschreckend, das aus einer Klinikfehlinvestition entstandene Altenheim der größte Arbeitgeber neben der Stadtverwaltung.
Auch wir haben einen Mezzogiorno. Und es wird noch schlimmer kommen, man kann es regelrecht riechen.
VIII – 2006
Einig Fußballvaterland – ganz Deutschland in Schwarzrotgold. Jedes Tor ist ein nationales Erlebnis, das ganze Land ist im Freudentaumel.
Als ob sich 1954 wiederholte: ein Volk findet einen historischen Augenblick zusammen, es entsteht so etwas wie die Leichtigkeit des Seins. Alle Probleme verschwinden hinter dem friedlichen und freundlichen Fußballfest.
Dass wir den Titel nicht gewinnen, ist eine Nebensache. Weltmeister der Herzen sind wir. Und in Berlin, da schlägt unser aller Pulsschlag. Welch eine Abschiedsfeier für die Fußballhelden!
IX – 2008
Nach dem Sommermärchen 2007 folgt das Sommermärchen 2008. Und immer geht es voran.
Als ich 2008 nach Berlin fliege, sehe ich nichts mehr von der Mauer, aber den Lehrstand. Die Lesung findet in der Nähe des Alex statt, in einer Ladenzeile, die – mangels anderer Verwendung – Atelier and Atelier aneinanderreiht.
Irgendwie trostlos: Die Baustelle Deutschland ist inzwischen hinter schönen Fassaden versteckt, hinter denen das Land munter weiterbröckelt. Der kalte Hauch der Globalisierung dringt durch die Ritzen, der Wohlstand steht auf dem Prüfstand.
Die Lesung sit schön und befreiend. Aber wir sind froh, wieder im schönen Hotel im Westen der Stadt zu übernachten. Noch kann man sich, wenn man Geld hat, die Hülle Sicherheit kaufen. Was aber, wenn die Krise doch noch kommt?
X – 2009
Der Geier kreist. Was wird aus uns? Keiner weiß es. In der Not kommen die Realitäten wieder auf den Tisch. Berlin im Februar ist kalt, die Tagung merkwürdig unwirklich. Die Lähmung hat auch die IT-Branche erfaßt.
Die Mauer ist weg, wenigstens die, die wir sehen. Aber sonst geht sie nach wie vor durch dieses Land. Sie ist in uns. Wir fühlen es. Wir können es sehen.
Aufgeben gilt nicht. Es muß weitergehen. Und es geht weiter, auch wenn man es nicht glauben will.
In weiteren zehn Jahren werden wir erneut Bilanz ziehen. Vielleicht sind die Mauersplitter aus unseren Herzen und Köpfen verschwunden. Vielleicht haben sie sich auch nur verwachsen.