Mein sonnigster Morgen

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FloFeder

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Der Saal war voller Menschen, was die absolute Stille umso befremdlicher machte. Das Ticken der Wanduhr übertönte die Randgeräusche wie sporadisches Räuspern oder das Herunterfallen von Schreibgeräten, was mich immer wieder erschrecken ließ. Die Zeit spielte gegen mich. Immer wieder hielt ich mir beide Ohren zu, um dem quälenden Lärm des Countdowns zu entkommen. Schonwieder sah ich, wie Schweißtropfen auf das Blatt vor mir fielen. Außer meinem Namen und dem Datum hatten es bisher weder eine Zahl noch ein Buchstabe durch meinen Füller auf das Papier geschafft, obwohl die Prüfung schon gefühlte Stunden läuft. Ständig ließ ich meine Blicke durch den kahlen Saal kreisen und schaute an den anderen Prüflingen vorbei aus dem Fenster, wo die dichten grauen Wolken sich wie eine Mauer vor der Sonne aufgebaut hatten und dem Tag, jede Chance auf Licht und Farbe verweigerten. Mein Kopf senkte sich wieder auf die Prüfungsbögen. Ich überflog verzweifelt die Aufgaben, während die Schritte wieder näher kamen. Ich hielt still, bis der Schatten auf meiner Tischplatte zu sehen war und blickte kurz auf. Wie bei jedem seiner bisherigen Kontrollgänge blieb der Aufsichtsführende neben meinem Tisch stehen und schüttelte mit dem Kopf. „Jetzt noch zehn Minuten“, sagte er zu allen im Saal. Die Lautstärke des Uhrzeigers schien sich zu verdreifachen und meine Verzweiflung in eine Panikattacke verwandeln. Während ich aggressiv auf meinem Bleistift kaute und fest erwartete, dass dieser zeitgleich mit meinem Zahn zerbricht, stellte ich mir immer nur eine Frage. Warum? Seit Wochen hatte ich meine Freunde und meine Familie kaum noch gesehen und pro Nacht nur wenige Stunden geschlafen. Zwischen Kaffeemaschine und Schreibtisch hatte ich Skripte, Bücher und eigene Notizen verschlungen. Ich hatte alles bis ins kleinste Detail verstanden und verinnerlicht. Bis zum Abend vor der Prüfung hätte man mich alles fragen können. Doch an diesem Tag war nichts mehr abrufbar. Es darf doch nicht alles umsonst gewesen sein. Obwohl Selbstmitleid definitiv fehl am Platz war, ließ mich diese Frage nicht mehr los, bis es zu spät war. „Die Zeit ist um, geben jetzt bitte auch die letzten Teilnehmer die Prüfung ab“! Mit diesen Worten kam der Prüfer direkt auf mich zu. Fest hielt ich die Bögen, die nicht eine Lösung beinhalteten, in meinen Händen. Diese Prüfung werde ich so nicht abgeben, nicht nachdem ich Tag und Nacht dafür gelernt habe. Jetzt streckte der Prüfer mir seine Hand entgegen, während ich das Blatt weiter fest hielt. Nach mehrfacher freundlicher Aufforderung griff er nach dem Blatt, woraufhin ich laut schrie: „Nein“. Er zog weiter an dem Papier, und ich hielt es mit beiden Händen an der anderen Seite, während ich noch immer den Bleistift zwischen meinen fletschenden Zähnen hielt, hängten wir uns beide mit vollem Körpergewicht an den Prüfungsbogen. Weder wir beide, noch das Papier gab nach.
Da war sie plötzlich wieder, die absolute Stille und nur das ohrenbetäubende Ticken der Uhr direkt neben mir. Nur ein paar winzige Sonnenstrahlen drangen zwischen geschlossenen Rollläden durch das Zimmerfenster und verrieten mit dem Klang der singenden Vögel, dass der Tag schon angebrochen war. Schweratmend und mein klopfendem Herzen lag ich in meinem schweiß getränkten Bett und starrte an die Decke. Das Ticken meines Weckers, das mich sogar im Traum verfolgte, setzte sich im gleichen Takt fort, während sich mein Puls und mein Atem langsam beruhigten. Nacht für Nacht der gleiche Alptraum, und immer lag ich im Anschluss regungslos da. Es war so realistisch, denn es war der Prüfungsraum, in dem ich meine letzte Abschlussprüfung geschrieben hatte; es war dieser Prüfer, bei dem sie im Anschluss abgegeben hatte und vor allem, hatte ich mich Tag und Nacht vorbereitet. Ich hatte auch alle Fragen bearbeitet, aber was hieß das schon? Ich wusste nur, dass mein Alptraum wahr werden würde, wenn ich wiederholen müsste. Genau deshalb zitterten mir die Beine auch an diesem Tag noch nach dem Aufstehen. Wie jeden Morgen zu dieser Zeit ging ich am Badezimmer vorbei direkt zum Briefkasten und wie jeden Morgen stolperte ich im Wohnzimmer über meine Ordner, die ich nach der Prüfung noch immer nicht weggeräumt hatte. Vor Schmerzen und Wut hatte ich sie dann an diesem Morgen noch einmal und alles, was damit zu tun hatte, verflucht. Mit jedem Morgen, den ich zum Briefkasten ging ließ meine Hoffnung nach, dass gerade heute der Tag der Tage ist. Ich schloss den Kasten auf und sah hinter den obligatorischen Massen an Werbung den Umschlag, der über Fluch oder Segen entscheidet. Wie ferngesteuert öffnete ich den Umschlag und bewunderte den Beleg für meine bestandene Prüfung und feierte meinen sonnigsten Morgen.
 



 
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