Mit der Vergangenheit brechen

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Owly

Mitglied
Ich schaue in den Spiegel. Weiße Pünktchen tauchen in meinem Sichtfeld auf, lassen sich nicht stellen, wie Kakerlaken bei Nacht. Ich stütze mich auf den Rand des Waschbeckens, schließe die Augen und atme in tiefen, kontrollierten Zügen. Mein Kreislauf stabilisiert sich. Die weißen Pünktchen verschwinden. Mein Spiegelbild ist jetzt ganz klar.
Der Rotz hängt mir in Fäden runter, meine Haut ist gerötet und heiß. Mein rechtes Auge tut weh - es sind mehr Äderchen als sonst geplatzt. Man könnte meinen Zustand bemittleiden, wenn man nicht wüsste, wie ich mich fühle: Erhaben, absolut erhaben.

Ich spüle meinen Mund aus und gurgle. Danach wasche ich mir durchs Gesicht und schnäuze die Nase. Zähneputzen kommt erst in einer halben Stunde infrage, wenn die Säure einigermaßen neutralisiert ist. Ich will meinen Zahnschmelz nämlich nicht stärker angreifen, als sowieso schon geschehen.
Den Geruch von Erbrochenem, der sich tief im Nasenrachenraum festgesetzt hat, bekomme ich nicht weg. Er und die ständige Trockenheit meiner Kehle, bleiben normalerweise als einziger Tribut zurück. "Normalerweise", weil das Auge nach wie vor schmerzt. Sicher ist es nichts Ernstes - das ist es nie -, aber es ärgert mich trotzdem, denn jetzt muss ich pausieren. Vielleicht müsste ich auch nicht, aber ich habe Angst, die Schmerzen könnten schlimmer werden und sich doch noch zu etwas Ernstem entwickeln.
Frisch gemacht, betrachte ich mich ein letztes mal für heute im Spiegel. Da zeigt sich, was ich an diesem Moment so liebe: Wenn der Magen leer ist und das ganze Blut im Kopf steht, rauscht, wie die junge Flut, dann ist jedes Päckchen des vergangenen Tages zurückgelassen und es gibt nur noch die Gegenwart.

Den Badlüfter lasse ich eine Extraschicht einlegen, um wenigstens den Geruch aus dem Raum zu ziehen.
 

Cafard

Mitglied
Diese kleine Reflektion war für mich nicht durchweg schön zu lesen, aber wegen der eigentümlichen Empfindsamkeit hat sie mich angenehm überrascht. Also nicht schön und doch schön.
 

Owly

Mitglied
Dank dir! Das ist alles, was ich erhofft habe. Bulimie ist eine eigentümliche Sache, denn einfach zu sagen: "ach, der/die will nur schlank werden/nicht zunehmen", damit macht man es sich zu einfach.
Mit dem zweiten Abschnitt bin ich sprachlich nicht mehr vollends zufrieden.
 
K

kal

Gast
hallo owly,
ein wichtiges thema was du da aufgeriffen hast und leider immer noch viel zu wenig in den medien auftaucht.

ob der zweite abschnitt nicht so gelungen ist mag ich nicht beurteilen. aber brauch ein absolut realistisches thema schnörkel? wohl eher nicht.


lg
andrea



ps: dazu hab ich irgendwann mal ein gedicht geschrieben. werde es dir noch posten ... wenn ich es finde :)
 

Owly

Mitglied
Hi kal und entschuldige bitte die späte Rückmeldung,

würde mich freuen, das Gedicht mal zu Gesicht zu bekommen.

Ja, das Thema kommt definitiv zu kurz und wenn es mal behandelt wird, dann nur ausschnittweise. Nicht nur unsichere Teenager stecken sich den Finger in den Hals.

Was meine Unsicherheit dem zweiten Abschnitt gegenüber angeht: die ist mittlerweile verpufft. Ich muss mir abgewöhnen, meine eigenen Texte zu zerlesen. Damit entkoppele ich sie nämlich von jeglichem Gefühl.

Gruß,
Owly
 
K

kal

Gast
hallo owly,
macht doch nix.

ich habe es gefunden .. bitte nicht auf die metrik achten, es ist noch in der rohfassung:


spiegel, spiegel an der wand,
bin schön durch eigene hand.
seh aus wie knochenbrot,
körper flach, wangen tot:
erlüge mir ein märchenland.


die grenze zu halten zwischen fremdes + eigenes ist gar nicht so einfach :(


lg
andrea
 
U

USch

Gast
Hallo owly,
ich finde auch, dass das Thema Bulimie eine hohe Relevanz hat. Ebenso wie das Thema sexueller Missbrauch. Habe allerdings die Erfahrung gemacht, dass diese Themen hier in der LL eher abgelehnt und durch negative Bewertungen runtergemacht werden. Es mag daran liegen den richtigen Ton zu finden, aber das sieht wohl jeder anders, was denn der richtige Ton ist.
Alles was mit Ausscheidungen wie z.B. Nasenpopel und "abnormalen" Sexualverhalten zu tun hat, wird auch i.d.R. abgelehnt. Ein "Wendekreis des Krebses" von Henry Miller hätte heute hier keine Chance.
LG USch
 
U

USch

Gast
Noch was: lass dich nicht entmutigen. Es würde sich lohnen daraus eine Kurzgeschichte zu machen.
Der Titel ist in seiner Doppeldeutigkeit (brechen) gut und die "Extraschicht im Bad" läßt auch etwas Versöhnliches am Ende spüren.
LG USch
 
K

kal

Gast
es ist nicht nur hier so .. diese themen sind auch draußen nicht gern gelesen und gehört ... man gewöhnt es sich an nicht darüber zu schreiben/sprechen.

dabei wäre es wichitg, gäbe es mehr solcher texte ..


lg andrea
 

Maribu

Mitglied
Hallo Owly,

die realistische Schilderung hat mich betroffen gemacht!
Sie weckt die Erinnerung an eine Cousine, die damals fünfzehn Jahre jung war. Das Symptom nannte man "Magersucht"
Alle, die sie liebten, bauten sie auf: "Du bist nicht hässlich! Schau dir mal dein hübsches Gesicht an! Du hast nur ein paar Pfund zuviel auf den Rippen! Du musst ja nicht alles essen!
Iß, worauf du Appetit hast! Sport könnte dir auch nicht
schaden!"
Sie hat das nicht als Phrasendrescherei abgetan, sondern sich Laufschuhe gekauft und sich langsam auf Langstreckenlauf
vorbereitet. Heute läuft sie sogar beim Hamburger Marathon mit,
ist glücklich verheiratet, hat zwei Kinder und der Mann sagt bewundernd: "Du hast die Figur eines jungen Mädchens!"
Ich weiß nicht, ob dieser Text in Ichform geschrieben oder autobiografisch ist?! - Ich hoffe, dass meine Zeilen vielleicht bewirken, mit der Vergangenheit zu brechen!
Liebe Grüße
Maribu
 

Owly

Mitglied
@kal:
Das Gedicht ist plastisch und den Märchen-Bezug finde ich sehr passend. Das zeigt auch, wie facettenreich das Thema ist.
Ich finde es befremdlich, wie ungern die Öffentlichkeit über Dämonen und Laster spricht. Es gibt eine viel zu große Angstkultur. Dabei habe ich mit Gesprächen über solche Themen fast nur positive Erfahrungen gemacht.

@USch:
Das ist schade zu hören. Ich habe noch nicht wahnsinnig viele Texte in der LL gelesen und darunter war keiner, der sich mit Körpersäften und anderen vemeintlichen Bloßstellungen des Menschen beschäftigt. Warum solche Texte pauschal negativ bewertet werden sollen, kann ich mir auch nicht erklären. Vielleicht liegt es mit daran, dass sie sich als Tabubruch darstellen, aber von vielen nicht als solcher wahrgenommen werden? Bei so was wird dann gerne abgeblockt.
Ich könnte zwar behaupten, dass ich mir aus Bewertungen gar nichts mache, aber ich weiß, dass ich ein bisschen auf Bestätigung angewiesen bin. An meinen Inhalten würden schlechte Bewertungen nichts ändern, ich kann meine Interessen schließlich nicht verbiegen. Auf meine Motivation hätten die aber negative Auswirkungen, denn so sicher bin ich mir meiner Sache noch nicht.

Gut möglich, dass daraus noch ein längerer Text erwächst. Ich habe nämlich beim Schreiben selbst gemerkt, dass da noch einiges ist. Danke für deine aufmunternden Worte!

@Maribu:
Das freut mich zu hören! Magersucht ist ja eine noch heiklere Nummer. Auf der anderen Seite lässt sie sich leichter erkennen. Vielen Bulimikern sieht man gar nicht an, dass sie den Finger in den Hals stecken. Sie erscheinen körperlich völlig normal, sind teilweise sogar übergewichtig.
Es ist immer schön zu lesen, dass jemand mit seinem Leben aufgeräumt hat. Das baut auf jeden Fall auch fürs eigene auf. Dank dir!
 

Goya

Mitglied
Der Text mit seinen genauen Beobachtungen der körperlichen Vorgänge (und dadurch auch einem absichtlichen Vermeiden einer weitergehenden Reflektion der psychischen) gefällt mir sehr gut.
Der letzte Satz ist vielleicht etwas lapidar. Eine Idee: "Den Badlüfter lasse ich eine Extraschicht einlegen, um den Geruch wenigstens aus dem Raum zu ziehen. In meiner Nasenhöhle sitzt er tief und bleibt." oder ähnlich, in jedem Fall eine Nuance dramatischer als in der jetzigen Version.

Viele Grüße,
Danke für den Text!
 

Val Sidal

Mitglied
Owly,

eine Erzählweise, die der diktatorischen Selbstbeobachtung/-Zerstörung große Intensität verleiht, den Tunnelblick des Protagonisten glaubwürdig einfängt.

Der letzte Satz durchbricht unnötig die Atmosphäre, ohne irgendeinen Gewinn zu bringen -- ich würde ihn schlicht streichen.
 
U

USch

Gast
Hallo Owly,
ich finde auch, dass der letzte Satz überflüssig, oder eher zu salopp nach ernstem Kernthema daherkommt.
Schön, dass der Text so viel Resonanz gefunden hat.
LG USch
 



 
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