Morrison

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Dieser Text ist längst noch nicht fertig; in einer sehr spontanen, einfachen Fassung.


Morrison

I
Venice, der Tod.
Eine Insel inmitten der stürmenden Gezeiten, ein Falke, der, unberührt von den Gewalten des Nordwindes, gelassen durch die Höhen gleitet, eine kleine Dunkelheit im finstern Lichtermeer, das ist Venice.
Ich stelle mir den weißen Sand vor, den mooszerfressenen Marmor und die einsamen, hohen Palmen. Am Strand rosten Autos. Gras quillt aus den Armaturen.
Das alte Meer - ein trockener Wind treibt ein paar herausgerissene Buchseiten durch die salzige Luft.
Venice ist der liegengebliebene, zerschossene Leichnam einer Siedlung. In den verfallenen Südstaatenvillen steht die Zeit still. Vor fast hundert Jahren zogen neureiche Stadtbewohner hierher; sie bauten Wochenendhäuser, Sommerhäuser, Ferienhäuser, Altersresidenzen – doch das Schicksal zerschlug die Träume vom Meer : Die Weltkriege, der Börsencrash vernichteten das Kapital, und die prächtige Siedlung am Strand verfiel allmählich, geriet in einen merkwürdigen Zustand morbider Schönheit, als der Wind das Glas aus den Fenstern blies und das Wurzelwerk die Kachelböden der Häuser aufplatzen machte. Efeu umschlingt die Standuhr, sie hat vor vierundneunzig Jahren zuletzt geschlagen.

Ein Haus zerbröckelt unter dem Zahn der Zeit. Schaumiges Salzwasser durchschwemmt den Keller, blassgelbe Pflanzen wuchern im lichtlosen Erdgeschoss. Der erste Stock ist leer. Niemand betritt ihn je. Der zweite Stock hat vier Zimmer : die Fenster sind mit Bretterverschlägen gesichert, mit Decken und offenem Feuer wärmt sich der Dichter in der Nacht. Er schläft auf einer fleckigen Matratze, er isst wenig und kocht sich einen dünnen Kaffee. Auf einem Tisch aus den Kindheitstagen des Hauses steht die Schreibmaschine. Daneben liegen Notizblöcke, Bleistiftstummel, Zigarettenreste, die Gitarre. Das Arbeitszimmer des Dichters hat besonderen Reiz : die Ostwand, gen das Meer, ist eingestürzt. Einige Bretter stützen, ein paar Decken dienen als Schutz vor Wind und Regen, doch der Efeu kriecht bereits über Boden und Decke.
Morrison sieht aus wie ein Geist. Seine Augen liegen tief, die Wangenknochen ragen vor, lang fallen die Locken auf seine Schultern. Seine Finger sind lang und dünn, wölfisch ist das Grinsen, wenn er die Zähne fletscht. Er ist unrasiert, ungewaschen, schmutzig, trägt dasselbe Hemd und dieselbe Hose, meist läuft er barfuss : ohnehin nicht weit, er verlässt Venice nicht.
Aus den Bibliotheken hat er sich seine Bücher zusammengeklaut; Ausgaben des späten 19ten Jahrhunderts, die zwischen seinen Fingern zu Staub zerfallen. Er liest viel, tage- und nächtelang, seine Lieblinge : William Blake. Nietzsche. Lao Tse. Schopenhauer. Namen, die nichts bedeuten, die jeder andere sein könnten. Dann schreibt er. Gedichte, Aufsätze, manchmal Geschichten.
Ich stelle mir vor : Morrison sitzt hier, in dieser Ecke, am Boden. Seine Locken fallen fließend um das lange, schöne Gesicht. Er notiert eine Zeile, dann streicht er sie durch und schreibt sie noch mal, anders. Deutlicher. Dann liest er sie sich vor. Ein Geruch von Büchsenfleisch, Orangen, Urin. Es gibt keine Toilette im Haus, dazu geht er in die Dünen.
Ich stelle mir vor, die Wellen rollen weich über den weißen Strand. Sand wird empor gespült und fortgeschwemmt. Nachts beobachtet er das Firmament, die glitzernden Sterne über dem Ozean - ein jeder wirft sein Feuer bis ans Ende der Nacht. Es ist ruhig in Venice, der Totenstadt.
Ein paar andere wohnen hier. Außenseiter, Hippies, Künstler - Lebensmüde. Vielleicht auch ein Toter, der nicht sterben kann.

Die Indianer saßen auf der Ladefläche eines Kleinlasters, der in einen Mercedes gerast ist.
Einer liegt im Mondlicht auf der Schnellstraße. Ringsum die Ödnis.
Schwarz ist der Asphalt, schwarz ist das Blut des Indianers, purpurn quillt die Traube der Eingeweide zwischen seinen Fingern hervor. In lichtlosen Augen spiegelt sich der Mond.
„Halt an“, sagt der Vater. Der Großvater bringt den Wagen zum Stehen.
„Du bleibst hier“, sagt der Vater, dann steigen sie aus.
Das Mondlicht in den Augen des Indianers ist fahl.
Jim will die Tür öffnen und zu ihm laufen, doch der Vater würde ihn sehen. Es ist wunderbar still nachts in der Wüste. Ein kühler Windzug spielt mit den Haaren des Toten.
Groß ist der Indianer, seine Haut ist grau und trocken wie Pergament. Wie Schwingen eines schwarzen Vogels fallen die Haare um sein breites Gesicht.
Er liegt in einer Wolke aus Blut. Der Vater und der Großvater kommen zurück. Sie schweigen, sie fahren die Schnellstraße hinunter in die Dunkelheit.
Jim kann seine Augen nicht von dem toten Vogel losreißen, der ein Indianer mit heraushängenden Eingeweiden ist. Dann spürt er, er selbst ist der Vogel.

„Ein Traum“, hat der Vater später gesagt, „du träumst“, wenn Jim den toten, schwarzen Vogel sah mit Purpurschwingen aus Blut, der sich auf seiner Brust niederließ und ihn zerhackte. Der Junge war aufgelöst und fiebrig, wenn der Vogel kam, und seine Angst vor ihm war grenzenlos.

Venice ist die Heimat des Vogels, aber er kann dem Dichter nichts mehr antun. Seine Schwingen sind brennendes, rauschendes Blut, aus den Augen leuchtet der Mond; aber der Dichter ist stärker.
Kommt der Vogel ihm allzu nahe, dann schluckt er ein paar Pillen und vergisst.

Er hat sich losgelöst : Er hat den Kopfsprung in die schwindelnde Dunkelheit gewagt, und feuersprühend ist er hervorgegangen, und die Wogen von Finsternis und Wahnsinn verneigten sich vor ihm.
















2
Der Strand
Der glühende Feuerball der Sonne versinkt im Ozean. Brennend, gleißend und farbenfroh strahlt das Abendlicht, ehe es in den Fluten versinkt. Die Wärme des Tages liegt noch auf dem Sand, der sanft zwischen den Fingern zerrinnt. Morrison schaut auf den Ozean.

Der Philosoph trägt den Tod im Herzen und die Wahrheit auf den Händen.

Es dauert lange, bis die Sonne völlig verloschen ist und der Ozean das Licht des gespenstischen Mondes spiegelt.
Allmählich bevölkern Menschen den Strand : Vereinzelte Gestalten suchen sich ihre Plätze auf dem unendlichen, langen weißen Streifen vor dem Meer. In Abständen von Hundert Metern gruppieren sie sich zu zweit, zu dritt, und kein Geräusch ist zu hören außer dem Wasser. Sie betrachten den Horizont und die Nacht. Dann essen sie Blüten eines geheimen Baumes ; der Horizont steht in Flammen, explodiert und implodiert zugleich, und gebiert aus seiner eigenen Vernichtung eine Neue Welt.

Morrison gehört zu denen, die jeden Abend die Vernichtung und Neu-Erschaffung der Welt betrachten. Er sitzt am Strand in schmutzigen Sachen , er trinkt billigen Wein , er scheißt und pisst , sein Haar ist verfilzt und fällt in knotigen Strähnen , von den Drogen ist sein schwitzender Körper abgemagert und schwächlich wie der eines Verhungernden , willenlos und leer blicken die Augen , wenn er nüchtern ist.

Aber hinter diesem verfallenden Körper , den nur die Jugend verzweifelt am Leben hält , wohnt eine schwarzgeflügelte Seele , die kreischend über die gähnenden Tiefen der Ekstasen gleitet , wieder und wieder stirbt und neu ersteht.

Der Dichter ist weniger Mensch als Engel, weniger lebendig als tot, weniger Wirklichkeit, als Erinnerung – und außerdem, vergessen wir es nicht : Er ist irreal, er ersteht im flatternden Glanze der hellen und dunklen Worte. Er ist nicht Mensch, sondern Kreation ; allein die Macht der Vergangenheit verschmilzt ihn.

Jim Morrison ? Nein.

Eine niedergeschriebene Menschkreation ; wenn überhaupt. Aber weiter nun.

Der Tod ist ein Freund.
Manchmal fällt in Venice Einer. In seinem Erbrochenem, zitternd und schwitzend, ein zuckendes Zerrbild seiner Selbst, dauert es einige Stunden, ehe ihm der Blick starr wird. Keiner kümmert sich um die Leiche. Irgendwann im Verlauf des ersten oder zweiten Tages kommen die Vögel.

Das Dionysische verlangt einen hohen Preis, meinen die Einen.
Die Anderen wissen : das Leben , es ist ein flüchtiger Schatten , ein hingekritzelter Versuch – balancierend über einem unendlichen Abgrund brodelnder Schwärze.

Viele wollen nicht begraben werden. Sie finden den Gedanken schön , von Vögeln zerrissen und in die Lüfte getragen zu werden ; dass die Existenz völlig ausgelöscht wird : Jeder Fetzen des Körpers landet im Magen eines anderen Vogels. Was bleibt , ist die Erinnerung : So wird Erinnerung zur Wirklichkeit.

Morrison kennt den Anderen nicht, aber unaufgefordert zeigt er ihm ein paar Verse. Sie handeln vom Mondlicht. Dem Anderen gefällt es. Er sieht Musik darin, dunkle Töne, und er verspricht, sich auf die Suche danach zu begeben.

Musik ist die unmittelbarste aller Künste. Zugleich ist es die schmerzhafteste.
Der Dichter weiß das. Er weiß, dass die Musik aus dem Abgrund kommt , über dem der kümmerliche Tanz des Lebens auf einem zitternden Seil aufgeführt wird.
 



 
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