Neuntes Märchen: Von der Hexe und den sieben Zwergen

VikSo

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Neuntes Märchen: Von der Hexe und den sieben Zwergen

Auf einmal sah die Hexe durch ihre halb geschlossenen Lider ein Leuchten am schwarzen Nachthimmel. Dichte Wolken verdeckten das Funkeln der Sterne; der Mond verbarg sich und zeigte nicht einmal eine schmale Sichel. Doch da, in einiger Entfernung, winzig und nicht fast zu erkennen, war ein roter Lichtschein, beständig und warm in der kalten, verlassenen Dunkelheit.
„Ich will dorthin gehen und sehen, was das ist.“, sagte sich die Hexe. „Sind es gute Menschen, so werden sie mir Obdach für eine Nacht gewähren. Sind es böse – nun, so bin ich mit einem schnellen Tod nicht schlechter dran als wenn ich hier langsam erfriere.“
So erhob sie sich noch einmal von den Toten, um auf den lichten Punkt in der Ferne zuzuwandern. Und wirklich: Je näher sie ihm kam, desto mehr ähnelte er einem heimeligen Feuer. Wie sie ihn aber erreichte, fand sie kein Haus, keine Hütte, nicht einmal ein Lagerfeuer. Statt dessen ragte vor ihr ein steiler, unüberwindbarer Berg auf, gespenstig und von dunklem Moos überwachsen. Und da, mitten aus dem Berg kam der helle Schein eines Feuers. Ein Tunnel war mitten in den Berg hinein gegraben und führte in unabsehbare Tiefe hinein. Das Herz schlug der Hexe ängstlich in der Brust. Dennoch sagte sie sich, dass auch im Inneren dieser Massen von Stein keine größere Gefahr lauern konnte als hier draußen unter den wilden Tieren und in der tödlichen Kälte. Also fasste sie ihren ganzen Mut zusammen und betrat den Tunnel. Weit, weit führte der Gang, geradeaus, rechts, links, rechts und wieder geradeaus. Lange schon hatte die Hexe den Eingang zur Welt aus den Augen verloren. Doch obwohl sie immer tiefer in das Gebirge und wohl auch unter die Erde eindrang – seltsam genug – schien es nur wärmer statt kälter zu werden. An den Felswänden hatten kluge Leute in einigem Abstand eine Reihe von Fackeln angebracht, die die Dunkelheit durchdrangen. Ein Gefühl von Sicherheit erfüllte die Sinne der jungen Frau.
Wie lange sie so durch den verlassenen Flur wanderte, wusste sie nicht. Fest steht, dass sie auf einmal, aus heiterem Himmel aus ihm heraus in eine Höhle trat. Die Höhle war so weit, dass man ihr jenseitiges Ende von hier aus nicht erkennen konnte und so hoch, dass ihre Decke sich wie ein ferner Sternenhimmel über ihr erhob. In der Mitte – zumindest vermutete sie, dass es die Mitte sei – war ein niedriges Feuer am Niederbrennen und erhellte den Raum mit flackerndem Lichtschein. So weit das Auge blickte, war alles hier verlassen. Misstrauisch getraute sich die Hexe, näher zu treten. Die Wärme des Feuers zog sie unwiderstehlich an. Aber wer hatte es entzündet? Wo waren die Bewohner der Höhle? Warum ließen sie mitten in der Nacht ihr sicheres Lager im Stich? Die Scheite glommen noch; wer auch immer hier lagerte, konnte noch nicht weit gegangen sein. Doch obwohl die Hexe über eine Stunde dort sitzen blieb und gespannt wartete, ließ sich niemand blicken. Endlich ließ sie ihr Haupt zu Boden sinken und schlief erschöpft ein.
Es war wohl gut, dass sie so ruhte. Ansonsten hätte sie sich sehr geängstigt, als nur wenig später ein Schatten an der Wand erschien. Im fast verglommenen Schein des Feuers kroch er über die Wand, Schritt für Schritt, tapp tapp, und weiter, tapp tapp tapp. Plötzlich blieb er stehen. Starrte auf das ruhig atmende Bündel am Boden. Zögernd betrachtete er es einige Sekunden. Dann machte der Schatten kehrt, tapp tapp tapp und verschwand. Eine Minute verging, zwei. Da kehrte der Schatten zurück und hinter ihm, tapp tapp, sechs weitere Schatten, tapp tapp tapp. Vierzehn kleine Füße schlichen über den Boden. Vierzehn kleine Füße bildeten einen Kreis um die schlafende junge Frau. Sieben aufgeregte Stimmen flüsterten durcheinander.
„Wer ist das?“ „Wie kam sie hierher, in diese Höhle, zu diesem Berg in der Einöde am Ende der Welt?“ „Was will sie von uns?“ Endlich zischte eine der Stimmen entschieden: „Wer immer sie ist, sie kann uns so nicht schaden. Seht, wie vertrauensvoll sie schläft. Wir sie fürs erste in Frieden lassen.“ So legten die sieben Gestalten sich zögernd im Kreis nieder, wünschten sich eine gute Nacht und begannen bald, laut und zufrieden zu schnarchen.
Stunden vergingen. Draußen erhob sich eine schwache Sonne vor dem winterlichen Himmel. Drinnen im Berg merkte niemand etwas davon. Das Lagerfeuer war erloschen; einzig die Fackeln brannten weiter, als gebe jemand ihnen stetig Nahrung. Noch immer schlief die Hexe ruhig und erschöpft. Die Sonne stand schon hoch über der Erde, als ihre Lider zu zittern begannen, um sich dann langsam zu heben. Wo war sie?
Ja, langsam erinnerte sie sich. Das Feuer, das sie in die Höhle gelockt hatte, war erloschen. Im Zwielicht der Fackeln verlor der Raum mehr als zuvor seine festen Konturen. Doch je länger sie ins Dunkel starrte, desto mehr tat es sich vor ihren Augen auf. Da erkannte sie auf dem Boden Säcke und Kisten, worin sich Kartoffeln und Äpfel und Brot stapelten – Vorräte für einen langen, harten Winter. Da standen auch kleine Laternen, einige mit abgebrannten Kerzenstumpen, einige mit zerbrochenen Scheiben. Und da, um die Überreste des Feuers herum, lagen sieben Körper von Menschen. Doch nein – bei näherer Betrachtung waren es gar keine Menschen. Zumindest konnten es keine Erwachsenen sein. Ihre Körper unter den schmutzigen Wolldecken waren so kurz, sie konnten ihr stehend kaum bis zur Hüfte reichen. Andererseits: Wenn sie ihre Gesichter betrachtete, fand sie darin nichts Kindliches. Feiste kleine Bäckchen leuchteten unter geschlossenen Augen hervor. Die dicklippigen Münder standen leicht offen. Die breiten, platt gedrückten Nasen röhrten lautstark Atem ein und aus. Unter sechs von ihnen sprossen stachelige dunkle Bärtchen, genau wie sich um ihre Kinne und auf den Backen ein dicker, wolliger Flaum sammelte. Das siebte Gesicht dagegen war glatt, dazu selbst im Schlaf rot und freundlich und lächelnd. Auch ihre Haare waren bis auf einige Zentimeter kurz geschnitten, der Körper schien ebenso rundlich zu sein wie die anderen. Im Traum bewegten sich ihre Lippen, als teile sie Befehle aus.
Nachdem sie ihre schlummernden Gastgeber auf diese Weise untersucht hatte, zog sich die junge Frau vorsichtig zurück. Leise, um den Schlaf der freundlichen Leute nicht zu stören, suchte sie in den Vorräten herum. Ihr Magen knurrte, als sie die einfachen, aber nahrhaften Köstlichkeiten in die Hände nahm. Kritisch ergriff sie, was ihr brauchbar erschien.
Wenige Minuten später begannen einer der sieben Gestalten die Nasenflügel zu zittern. Noch im Traum schien ihm, es stiege ihm ein angenehmer Duft in die Nase, wie von einem königlichen Festmahl. Mechanisch setzte er sich auf und öffnete die Augen. Wie staunte er, als er vor sich ein herrliches Frühstück aus frisch aufgeschnittenem Brot, gekochten Eiern und gebratenem Speck sah.
„Aufgewacht, Kameraden!“
Schon waren auch die übrigen Schläfer aufgeschreckt. Lange bestaunten sie die appetitlich angerichteten Speisen. Endlich fanden ihre Blicke die schüchterne Gestalt, die abwartend dahinter saß.
„Ich nahm mir die Freiheit.“, flüsterte die Hexe ängstlich. „Verzeiht – ich wollte mich bedanken für die Gastfreundschaft, die ihr mir letzte Nacht erwiesen habt.“
Verwundert sahen die sieben Gestalten sich an. Schließlich antwortete die Frau, welche die Anführerin zu sein schien: „Wir danken dir, Mädchen. Ich darf dich Mädchen nennen, denn ich bin wohl dreimal so alt wie du, auch wenn ich nicht so wirken mag. Mein Name ist Omega und dies sind meine Brüder: Alpha, Beta, Gamma, Delta, Epsilon und Zeta. Wir sind die letzte Gemeinschaft der Zwerge in dieser Gegend. Unsere Cousins und Cousinen haben sich längst in reichere Felsen zurück gezogen. Nur wir sind geblieben, um dem Berg seine letzten Schätze zu entlocken.“
„Ich freue mich, euch kennen zu lernen. Erlaubt, dass ich euch meinen Namen zunächst verheimliche. Denn zuerst muss ich euch warnen: Die Menschen nennen mich nicht dabei, sondern bezeichnen mich häufiger als Hexe und in meiner Heimat gelte ich als Mörderin. Ihr seht also, ich bin ein durch und durch schlechter Mensch und mich bei euch zu haben, kann eine Gefahr für euch alle sein.“
Auf diese Rede hin schwiegen die sieben Zwerge betroffen. Schließlich erklärte Omega: „Nun, da wir das wissen, ist es uns noch lieber, dass du zu uns gefunden hast. Denn jeder, der von den Menschen verstoßen wird, soll uns ein willkommener Gast sein. Komm und iss mit uns.“
So eingeladen, ließ sich die junge Frau gerne neben den Zwergen nieder. Das war die erste von vielen Mahlzeiten, die sie bei ihnen aß. Von da an führte sie bei den Zwergen ein äußerst glückliches Leben. Doch ach, wie angenehm eine Zuflucht auch sein mag, sie bleibt doch immer eine Flucht. Und dass einer flieht, das duldet das Leben auf Dauer nicht...“

An dieser Stelle endeten die Notizen. Violas Stimme, die leise die Geschichte vorgelesen hatte, verstummte. Nachdenklich schweifte ihr Blick über die kleinen, ordentlichen Buchstaben. „Das ist unglaublich. Und du hast das alles heute geschrieben?“
Kai schüttelte den Kopf. „Ich habe es aufgeschrieben, ja. Aber das entstammt nicht meinem Kopf. Zumindest habe ich es nicht erfunden. Es muss eines von Großvaters Märchen sein, ich habe es nur vergessen. Gleich morgen nehme ich das Buch und sehe nach.“
„Es ist keine seiner Geschichten. Die kenne ich. Ich hätte es sofort gemerkt, wenn auch nur Ähnlichkeit mit einer davon bestünde. Das ist ein vollkommen neues Märchen.“
Kai fixierte sie misstrauisch. „Fang nicht schon wieder damit an. Ich bin kein Schriftsteller. Wenn es nicht aus Großvaters Märchenbuch stammt, dann habe ich es eben irgendwo anders gelesen oder im Film gesehen. Auf keinen Fall stammt dieser Unsinn von mir.“
„Es ist kein Unsinn.“, unterbrach ihn Viola. Ich Nasenflügel bebten ungeduldig. „Im Gegenteil, es macht durchaus Sinn. Es handelt sich um eine zusammenhängende Erzählung. Darüber hinaus wirft sie ein neues Licht auf unser Bild von den Hexen. Ist die Frau wirklich eine? Eine schwarze Frau meine ich.“
„Woher soll ich das wissen?“ Kai fühlte sich müde und gereizt. Warum lässt sie mich nicht in Ruhe?
„Es ist deine Geschichte. Oder wenn du willst: Sie hat sich dich als Medium ausgesucht. Wenn du es nicht weißt, wer dann? Übrigens – wie geht es weiter?“
„Ich habe keine Ahnung.“ Jetzt schrie er fast. „Ich habe dir mein Geschreibsel gezeigt in der Hoffnung, du würdest darin irgendein psychologisches Muster entdecken. Wenn du aber wieder mit dem gleichen Wahnsinn anfängst wie gestern, dann verbrenne ich es lieber.“
Einen Moment herrschte geladene Stille. Sie blickte traurig zu ihm auf. „Du glaubst es immer noch nicht? Ich nahm an, wenn du einmal begonnen hättest... Erkennst du denn nicht, dass es so ist, wie ich gesagt habe? Woher sonst deine Fähigkeit, solch eine Geschichte zu verfassen? Sie hat sich deiner bemächtigt über den Traum und nun erweckst du sie zum Leben. Wenn sie vollendet ist, kannst du sie tippen und dann...“
„Erstens“, presste er mühsam beherrscht hervor, „wird diese Geschichte nie fertig werden. Ich habe keine Ahnung wie sie endet und ich bin nicht bereit, mir weiter darüber Gedanken zu machen. Zweitens, selbst wenn sie jetzt bereits beendet wäre, täte ich den Teufel, meine Zeit weiter damit zu verschwenden sie abzutippen. Und wenn du beabsichtigst, woran ich gerade denke, nämlich sie jemand anders lesen zu lassen...“
„Die Welt hat ein Recht darauf, sie zu hören. Alle Märchen haben eine Funktion. Denke an die Erzählung vom Beginn der magischen Völker und den Kriegen der Menschen...“
„Du bist komplett verrückt.“ Er sprang auf. „Tut mir leid. Heute morgen dachte ich, wir verstünden uns gut. Aber du bist einfach nur vollkommen wahnsinnig und versuchst, mich in deine Wahnvorstellungen hinein zu ziehen. Aber das lasse ich nicht zu. Ab heute möchte ich, dass du mich nicht mehr ansprichst. Ich werde dir so weit wie möglich aus dem Weg gehen. Lass mich einfach in Ruhe. Mein Leben braucht keine blödsinnigen Geschichten, um zu funktionieren.“
„Es tut mir leid, dass du so denkst.“, flüsterte sie. Ihre Augen waren dunkel. Ihre Stimme klang auf einmal müde. „Natürlich respektiere ich deinen Wunsch. Du wirst von mir nichts mehr über diese Sache hören. Entschuldige.“ Damit erhob sie sich und verließ den Raum.
Na wunderbar, dachte Kai. Jetzt habe ich doch ein schlechtes Gewissen.
Verstimmt klappte er den Laptop auf, entschlossen, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Die Seiten waren zu einem Großteil mit physikalischen Gleichungen gefüllt. Dazwischen erläuterte er immer wieder abschnittweise Erkenntnisse aus seinen Experimenten. Seufzend begann er einen neuen Abschnitt:

„Es steht also fest, dass Lesleys Verfahren der Kernspaltung trotz offensichtlicher Schwächen eine größere Bedeutung zukommt, als bisher vermutet. Nicht nur kann es wie herkömmlich zum Zwecke der maximalen Energieerzeugung verwendet werden, sondern auch um dunkle Höhlen zu erleuchten.“

An dieser Stelle stockte er. Was hatte er da geschrieben? Er las den Abschnitt noch einmal. Blödsinn! Ein Fehler aus Unaufmerksamkeit. Er korrigierte:

„...sondern auch zur Stabilisierung einer gleichmäßigen Energieabgabe an den Endverbraucher. Zwar wird der Widerstand gegen diese Methode erfahrungsgemäß zunächst groß sein. Ihm beizukommen, erfordert eine fundierte Argumentation mit den Vorteilen des Verfahrens. Zu diesem Zweck wollen wir uns im Folgenden auch näher mit den vergleichsweise geringen Risiken des Verfahrens beschäftigen und auf diese Weise gefahrlos in die Höhle eindringen.

Kommt, Hauptmann, oder soll ich euch einen Feigling nennen?“
 



 
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