Nicht allein

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Nicht allein

Die Spinne auf meinem Balkon hab ich Brünhilde genannt.
Sie herrscht ungestört über ihr Netz.
Ich grüße Ihre Majestät jeden Morgen.
Dann weiß ich, wie sich meine Stimme anhört.

Die Fruchtfliegen haben den Apfel besetzt,
der seit Wochen auf dem Fensterbrett liegt.
Auch abends sind sie da, wenn ich mein Weinglas fülle.
Ich verscheuche sie nicht.
Sie wachen darüber, dass ich nicht zu viel trinke.

Nein, ich bin nicht allein.

Das Telefon nennt sich mobil
und liegt apathisch auf dem Tisch.
Wie praktisch, dass ich den Klingelton abstellen kann.
Manchmal klappe ich es auf, um nachzusehen,
ob jemand angerufen hat. Es sind ja viele Nummern gespeichert.

Der Briefkasten hat immer wieder Werbeprospekte für mich.
Ein uralter Aufkleber bittet um Verschonung,
er wird hartnäckig ignoriert.
Ich schaue mir also die bunten Bilder an,
weil offensichtlich jemand glaubt,
dass ich immer noch dazu gehöre.

Nein, allein bin ich nicht.

 
hey, elli!

gefällt mir, dein text.
du beschreibst auf angenehm unaufgeregte art die einsamkeit.

man könnte vielleicht überlegen, die spinne ins zimmer zu holen, weil der balkon ja fast schon kontakt zur außenwelt ist.

und hier
Manchmal klappe ich es auf, um nachzusehen,
ob jemand angerufen hat. Es sind ja viele Nummern gespeichert.
würde ich dem zweiten satz eine eigene zeile geben.

Der Briefkasten hat immer wieder Werbeprospekte für mich.
Ein uralter Aufkleber bittet um Verschonung,
[strike]er[/strike] wird [blue]aber[/blue] hartnäckig ignoriert.
Ich schaue mir also die bunten Bilder an,
[blue]als gehörte ich immer noch dazu[/blue].
nur ein vorschlag.
ich find das "jemand" nicht ganz stimmig, da diese prospekte ja meist wahllos verteilt werden und keinen gedanken an ein bestimmtes individuum voraussetzen.
 
Vielen Dank, eenemenetekel, für Ermutigung und Rat!
Beides tut gut und baut meine Unsicherheit in diesem Forum etwas ab.
Zum Text:
Ich habe Abstand zu diesem Erlebten gewonnen, kann es jetzt "bearbeiten"/"verdichten" - und vor allem:
kritische Hinweise als wohlwollende Hilfe annehmen.
Darf ich Deine Vorschläge übernehmen?
Herzliche Grüße
Elli
 
moin!

freut mich, wenn ich helfen konnte.

die vorschläge kannst du gerne übernehmen - dazu sind sie da.

und:

Ich habe Abstand zu diesem Erlebten gewonnen, kann es jetzt "bearbeiten"/"verdichten" - und vor allem:
kritische Hinweise als wohlwollende Hilfe annehmen.
eine objektive distanz zum geschehen - egal ob autobiographisch oder nicht - ist obligatorisch. es geht ja hier schließlich um literatur und nicht um psychoanalyse.
im zweifel also texte liegen lassen, bis sie nicht mehr beißen!

lg
 
Nicht allein

Die Spinne über`m Küchenschrank hab ich Brünhilde genannt.
Sie herrscht ungestört über ihr Netz.
Ich grüße Ihre Majestät jeden Morgen.
Dann weiß ich, wie sich meine Stimme anhört.

Die Fruchtfliegen haben den Apfel besetzt,
der seit Wochen auf dem Fensterbrett liegt.
Auch abends sind sie da, wenn ich mein Weinglas fülle.
Ich verscheuche sie nicht.
Sie wachen darüber, dass ich nicht zu viel trinke.

Nein, ich bin nicht allein.

Das Telefon nennt sich mobil
und liegt apathisch auf dem Tisch.
Wie praktisch, dass ich den Klingelton abstellen kann.
Manchmal klappe ich es auf, um nachzusehen,
ob jemand angerufen hat.
Es sind ja viele Nummern gespeichert.

Der Briefkasten hat immer wieder Werbeprospekte für mich.
Ein uralter Aufkleber bittet um Verschonung
und wird hartnäckig ignoriert.
Ich schaue mir also die bunten Bilder an,
als gehörte ich immer noch dazu.

Nein, allein bin ich nicht.

 

HelenaSofie

Mitglied
Hallo Elli,

heute habe ich deinen Text, von mir vorher schon mit einer 8 bewertet, noch einmal gelesen. Ein berührender Text.
Dabei fällt mir das Fernsehen auch als Beispiel ein. Manche, vor allem ältere Menschen, die allein leben, antworten den Sprechern z.B. bei einem "Guten Abend" oder "Machen Sie es gut."
Nein, sie sind nicht allein.

Ganz liebe Grüße
HelenaSofie
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Elli, zwischen Einsamkeit und Alleinsein ist ein Unterschied und der kommt in Deinen Zeilen zum Ausdruck. Hat mir gut gefallen.
LG Doc
 
U

USch

Gast
Hallo Elli,
hui, die Einsamkeit kann man kaum intensiver rüberbringen. Gut beschrieben!
LG USch
 

Val Sidal

Mitglied
Elli Spirelli,

der text gefällt mir gut.
langsam bewegst du die aufmerksamkeit des lesers vom zeitgefühl:
jeden Morgen.
(...)
der seit Wochen ...
Auch abends ...
... zum entkopplungsgefühl:
Das Telefon ...
Der Briefkasten ...
die bunten Bilder ...
... mit dem ICH als fluchtpunkt. timing und tempo sind mit den gewählten bildern sehr gut harmonisiert.

eine kleinigkeit würde ich ändern:
[red][strike]Der[/strike][/red][blue]Mein[/blue] Briefkasten hat immer wieder Werbeprospekte für mich.
... das "für mich" in kombination mit "mein" intensiviert die stimmung, denn freilich sind die Werbeprospekte nicht für das ICH, die bekommt jeder. der briefkasten gehört aber dem ICH. kein erwünschter anruf, kein erhoffter brief, nur die verletzung des lebensraums durch unerwüschte prospekte.
und dann die resignation:
Ich schaue mir also die bunten Bilder an,
als gehörte ich immer noch dazu
reine geschmackssache.
sehr gerne gelesen.
 
Danke, Val Sidal, für Deinen interessanten Kommentar.
Hab mich gefreut.
Zu Deinem Vorschlag, den Artikel durch ein Possessivpronomen zu ersetzen:
Ich belasse es beim kühleren "der". Aus meiner Sicht wäre es nicht schlüssig, die in den Zeilen zuvor aufgezeigte Distanz/ Gleichgültigkeit gegenüber den "Dingen" durch ein "mein" zu brechen (siehe auch
"entkopplungsgefühl"
).
LG Elli
 
Vielen Dank für eure lobenden Worte,
DocSchneider,
USch,
chrissieanne.

Wer gesteht schon einem Anderen -oder gar sich selbst- ein, einsam zu sein?!
Leichter ist es da schon, sich eine gewisse "Ablenkungsroutine" zuzulegen.
Angebote dafür gibt`s haufenweise.
Und zur Not (ja, Not!) kann man sich ja eigene Muster stricken.

Eine Zeitbombe.

Ja, chrissieanne, ich freue mich auch, dass mir "Brünhilde" eingefallen ist!

Liebe Grüße
Elli
 



 
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