Nordpol (überarbeitet)

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H

HFleiss

Gast
Nordpol


Heute war ein Brief gekommen, von der Firma in Norwegen, von der er vor ein paar Wochen eine Andeutung gemacht hatte. Es wurde tatsächlich Ernst mit der Ölplattform.

Niemals hätte sie gedacht, dass er sein Gerede wahrmachen würde. Sie hielt es für Spinnerei, Abenteuerlust, verpasste Jugend nachholen oder so etwas. Sie trat auf ihn zu und wühlte wortlos ihr Gesicht in seine Haare. Sie rochen, wonach Haare riechen, wenn sie eine Woche lang nicht gewaschen worden waren. Sie liebte diesen Geruch, für sie war es Duft, schöner als alle Blüten der Welt. Es war sein Duft.

Er wehrte sie mit einer Hand ab. „Lass mich“, sagte er.

„Erst, wenn ich weiß, dass du es nicht so gemeint hast.“

„Was? Das eben? Dass ich versuchen will, ins Ausland zu gehen, und du bleibst hier?“

Sie hielt noch immer seinen Kopf mit beiden Händen umfangen. „Was soll ich tun? Ohne dich? Warten? Darauf, dass man dir Urlaub gibt? Nach zwei oder drei Jahren?“

„Andere Frauen warten länger auf ihre Männer.“

„Ich bin keine andere Frau. Ich bin deine Frau. Ich war noch nie allein. Ich kann nicht akzeptieren, dass du in den Norden gehst, mich hier lässt, und irgendwann kommst du vorbei und fragst, wie geht es dir. Das ist keine Ehe. Du liebst mich nicht mehr. Aber falls es wirklich klappt - ich lass mich dann scheiden. Wirst schon sehen. Dann hast du dein dickes Konto ganz für dich allein.“

„Du vergisst, dass ich hier kaputt gehe. Hast du mir selbst gesagt.“

„Ja, mein Lieber. Habe ich gesagt. Aber doch nicht gleich in den Norden. Auf eine Ölplattform! Und kalt wird es dort auch sein. Du hast immer gesagt, am liebsten würdest du in Italien leben. Im Süden, wo es warm ist.“

„Lass mich doch endlich.“ Er nahm ihre Hände und bog sie nach unten. Es gab einen kleinen Schmerz im Handgelenk, und sie rieb es sich. „Du bist brutal.“

„Wie kommst du auf diesen Blödsinn – ich dich nicht mehr lieben!“

Die Brutalität passte zu ihm. Sie hätte sich nicht verliebt in ihn, hätte sie nicht gleich in der ersten Nacht, damals, festgestellt, dass er nicht lange fragte und das sympathische Quentchen Rücksichtslosigkeit aufbrachte, das sie so herrlich willenlos gemacht hatte.

„Wann fährst du?“, fragte sie. „Ich muss noch ein paar Pullover kaufen.“

„Weiß ich noch nicht. Ich krieg Bescheid. Schriftlich. Ob ich überhaupt angenommen werde.“

Der Bescheid kam drei Wochen später. Sie legte das Kuvert auf seinen Nachttisch. Sie hatte es nicht geöffnet, aber den ganzen Tag mit sich herumgetragen. Abends konnte sie ihm den Brief nicht mehr verheimlichen. Sie stellte ihn vor den Wecker. Eine Zeitbombe, dachte sie, der Brief tickt. Diese Nacht würde sie nicht schlafen können, weil sie immer daran denken würde, bald, in ein paar Nächten, müsste sie nachts allein liegen.

Sie hatten ihn angenommen, nur noch eine ärztliche Untersuchung. Er hatte die richtige Ausbildung, Ingenieur, und den Mut, den man als Mitteleuropäer aus der gemäßigten Klimazone brauchte, wenn man in den Hohen Norden ging, nach Norwegen, mitten im Meer leben wollte. Sie würden gut bezahlen, versicherte er ihr. Sonst sagte er nichts über die Höhe seines Gehalts. Aber dass es phantastisch sein würde, so viel war sicher. „In vier Wochen“, sagte er und zog sie an sich. Sie wehrte sich nur noch schwach. In dieser Nacht liebten sie sich wie schon lange nicht mehr.

Am nächsten Morgen schon ging sie einkaufen. Warme Unterwäsche, dicke Pullover. Wer wusste schon, ob die Norweger ihre deutschen Arbeiter richtig ausstaffierten, sicher war sicher. Sie musste das Ersparte angreifen, das ihnen die Arbeitsagentur zugestanden hatte. Er lachte, als er den Haufen Wäsche auf dem Tisch sah.

„Dummchen, Norwegen liegt doch nicht am Nordpol“, sagte er.

„Bloß um die Ecke“, sagte sie eingeschnappt.

Zur Untersuchung musste er an den Stadtrand fahren, nach Lichtenrade. Sie war noch nie in Lichtenrade gewesen, sie stellte sich vor, dass es dort wie in einer Kleinstadt aussah, mit niedrigen, bunt angestrichenen Häusern, der Apotheke, der Sparkasse und einer Bushaltestelle, eben Stadtrand. Am liebsten wäre sie mitgefahren, um mal rauszukommen aus der Wohnung, frische Landluft tanken, aber er hielt sie zurück. Vielleicht wollte er anschließend noch ein Bier trinken gehen, und sie würde dabei bloß stören.

Als er losging, kam er ihr ein bisschen nervös vor. „Du bist doch kerngesund, wovor hast du Angst?“ Er zuckte die Schultern. „Weiß nicht, in letzter Zeit ... Ein paar Herzstiche. Aber muss ja nichts bedeuten. Sie machen sicher auch ein EKG.“

Dass etwas mit seinem Herzen nicht in Ordnung war, hatte sie schon seit längerem vermutet.
Vielleicht wusste sie sogar besser über ihn Bescheid als er selbst. Mitten in einem Gespräch hatte er sie plötzlich angestarrt und sich an die linke Brust gefasst. Nicht nur einmal, ein paarmal in letzter Zeit. Einmal hatte sie gesagt: „Rauch nicht so viel.“ Er hatte sie angefahren, sie solle sich lieber um ihre Krampfadern kümmern, da hätte sie genug zu tun. Und wie sie überhaupt darauf komme, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Nun also doch. Vielleicht machten sie auch kein EKG, man hörte neuerdings so allerhand von den Ärzten und dass sie sogar einen Krebs übersehen konnten. Sicher würde es nichts werden mit der Stelle in Norwegen, Herzkranke würden sie bestimmt nicht nehmen.

Erst am Nachmittag kam er wieder. Getrunken hatte er nichts, sie hätte es gerochen. Er steuerte gleich ins Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie stand im Flur und rang mit sich, ob sie hineingehen sollte zu ihm. Nein, entschloss sie sich, lieber nicht. Irgendwann würde er schon sprechen. Ade, du schönes Traumgehalt.

Am Abendbrottisch sagte er auch nichts. Sie blickte ihn dauernd auffordernd an, aber er reagierte nicht. Stumm räumte sie den Tisch ab. Er hatte kein Wort verloren während des Abendbrots, keine Andeutung, was schiefgegangen war.

Er stellte den Fernseher zu laut an. Sie nahm ihm die Fernbedienung aus der Hand. „Lass“, sagte er. „Ich bin schwerhörig.“

„Ich auch. Ich hör nichts. Aber du musst nichts erklären.“

„Halb so schlimm.“ Er steckte sich eine Zigarette an, die letzte aus der Schachtel, er warf sie in den Aschenbecher.

„In sechs Wochen.“ Er hatte es plötzlich gesagt, ihr zu plötzlich. Sie blickte ihn starr und verständnislos an.

„In sechs Wochen – was?“

„Na, in sechs Wochen. Es geht los! Es hat geklappt! Sie haben kein EKG gemacht. Nein, haben sie nicht. Weiß der Himmel, warum.“

Sie erwiderte nichts. Ein Gefühl erfasste sie, von dem sie nicht hätte sagen können, ob es Schmerz oder Freude war. Wie betäubt fühlte sie sich, sein Gesicht verschwamm vor dem ihren. War mit ihr etwas nicht in Ordnung, oder war es der Rauch seiner Zigarette? Etwas drückte auf die Kehle.

„Dann ... Dann hast du ... Du hast ja erreicht, was du wolltest.“

„Na, du doch auch! Mensch, es geht aufwärts! Schluss mit der Knappserei. Das wolltest du doch?“

„Ich? Nein ..., doch, ja.“

„Na und? Warum freust du dich nicht? Meinst du, ich würde nach Norwegen gehen, wenn es hier in Deutschland geklappt hätte mit einer Stelle – in meinem Beruf? Oder willst du weiter so leben – von der Stütze?“

Sie stand auf und verschwand in die Küche. Sie ließ das Abwaschwasser in die Spüle laufen. „Dass er das kann“, stieß sie halblaut hervor. „Mich allein lassen, die Ehe aufs Spiel setzen. Mein Gott.“

Stück für Stück, unendlich langsam, gab sie das Abendbrotgeschirr in das heiße Wasser und stand minutenlang davor, unfähig, eine Hand zu rühren.

„Mein Gott“, sagte sie noch einmal.
 

Inu

Mitglied
Liebe Hanna

7 Punkte. Die Geschichte würde mir
plausibler vorkommen, wenn sich bei der Untersuchung des Mannes herausgestellt hätte, dass er - trotz 'gefühlter' Beschwerden und aller Ängste der Frau - ein kerngesundes Herz hat. Denn ein Checkup für jemand, der so einen Knochenjob annimmt, und dann ganz ohne EKG - gibt's das überhaupt?

Die Sache mit dem vielleicht kranken Herzen gibt der Geschichte zusätzlich so einen Zug ins Negative, den sie ( für meine Begriffe ) nicht braucht.

Dein Schreibstil gefällt mir hier, wie immer, sehr gut.

Viele Grüße
Inu
 
H

HFleiss

Gast
Nordpol

Liebe Inu, danke fürs Reinsehen. Tja, was soll ich dazu sagen? Es ist nicht nur ein "Zug ins Negative", sondern die gesamte Geschichte i s t "negativ".

Gruß
Hanna
 

Inu

Mitglied
Liebe Hanna


Es ist nicht nur ein "Zug ins Negative", sondern die gesamte Geschichte i s t "negativ".
ja, aber ich finde, das mit dem kranken Herzen ist ein Quäntchen zuviel und für die Aussage der Geschichte nicht wirklich wichtig. Aber Du hast Dir bestimmt etwas dabei gedacht. Oder ist der Text ein Ausschnitt aus einer längeren Sache?

Viele Grüße
Inu
 
H

HFleiss

Gast
Nordpol

Ja, Inu, ich habe mir was bei dem Quentchen Herzschmerz gedacht. Nein, ein Ausschnitt aus einer längeren Sache ist es nicht. Ich glaube, die Geschichte funktioniert so, wie sie ist. Wie öfter bei mir, gibt es zum Text noch einen Text dahinter, aber natürlich gefällt er nicht allen Lesern. In Hoch-Zeiten des allgemeinen Jubels lassen wir uns unseren Jubel doch nicht miesmachen - so ungefähr.

Gruß
Hanna
 



 
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