Nüsse sammeln mit dem Kater

Dorian

Mitglied
Die dröhnende Musik wird leiser, die Scheinwerfer senken sich. Der Moderator quatscht mich voll mit irgendwelchen Belanglosigkeiten, bis er endlich zur Sache kommt.
„Hier ist nun die letzte Frage“, sagt er, selbst angespannt. „Die Frage, die sie um eine Million Euro reicher machen könnte.“
Ich nicke, mein Mund ist trocken, meine Handflächen feucht; ich glaube, wenn ich jetzt aufstehen würde, könnten meine Knie mein Gewicht nicht tragen. Auf dem Monitor erscheint die Frage.
„Welcher dieser Gestalten aus der keltischen Mythologie war der leibliche Vater des irischen Nationalhelden CuChullain?“
Beim letzten Wort verhaspelt sich der Moderator, er versucht einen Scherz zu machen, ich überhöre es. Mein Herz schlägt schneller, als ich es jemals für möglich gehalten hätte, ich spüre meine Rippen knacken. Ich kenne die Antwort!
„Ist es A: Conchobair, oder B: Sualtam, oder C: Lugh, oder D: Culann?“
Ich lächle triumphierend. Ich kenne die Antwort!! Über dieses Thema könnte ich aus dem Stegreif eine Stunde lang referieren. Soll ich es spannend machen? Ich entschließe mich dagegen, ich halte es selbst kaum noch aus. Hinter mir sitzt meine Freundin (was stimmt an dem Bild nicht?) und ich will nur noch zu ihr, mit meiner Million.
„Die richtige Antwort ist AAAAAAAAAHHH!!“, schreie ich, als sich stechender Schmerz an mehreren Stellen in meine rechte Fußsohle frisst.

„AAAAAAAAAHHH!!“
Mit dem gleichen Schrei, mit dem der Traum endete, fuhr ich aus dem Schlaf hoch und versuchte den Kater von dem Fuß zu lösen, in den er sich verkrallt hatte. Nach einigen Momenten hektischer Aktivität saß der Kater in der gegenüberliegenden Ecke des Zimmers, und sah mich an, als ob er gerade ein Schälchen Obers geschleckt hätte.
Es bereitete ihm ein diebisches Vergnügen mich aus angenehmen Träumen zu reißen und seltsamerweise wusste er immer, wann ich einen solchen hatte. Allgemeines Katzenradar, wie ich annahm. Sonntag Vormittag, acht Uhr dreißig.
„Ich hätte die Antwort gewusst, du kleines Arschloch“, sagte ich ungehalten. „Und meine Ex war auch wieder da.“
„War A die richtige Antwort?“
„Nein!“
Ich ließ mich nach hinten fallen und knallte mit der Rübe gegen den Kopfteil des Bettes, da ich während des kurzen Kampfes mit dem Kater ein Stück nach oben gerutscht war. Ein wenig fester noch, dachte ich, und die Sache wäre für die nächsten zwei Stunden ausgestanden gewesen. Aber nein, ich konnte mich nicht mal selbst unabsichtlich k.o. schlagen.
Fluchend glitt ich etwas weiter nach unten und bettete mein geschundenes Haupt in die weichen Polster. Jemand hatte bereits die Jalousien hochgezogen, daher legte ich einen Arm über meine Augen und versuchte mich zu entspannen.
Es funktionierte tatsächlich. Nach solch einer Adrenalin- und Stressbehandlung war es mir bisher noch nie gelungen wieder einzuschlafen, aber heute konnte es tatsächlich klappen. Warmes Nichts umfing mich...
„AUF, AUF, IHR REHE UND IHR HASEN! HÖRT IHR NICHT DEN JÄGER BLASEN?“, brüllte jemand direkt neben mir.
Es war natürlich der Kater. Ich beschloss ihn ein wenig zappeln zu lassen, vielleicht vermochte ich es sogar, ihn zu ärgern.
„Wsfsn?“, fragte ich.
„Schwere Nacht gehabt, was?“
„Mblmb“
„Ja, so ist das, samstags. Der Jüngste bist du ja auch nicht mehr...“
Ich gab auf.
„Wo sind meine Zigaretten?“
„Wo du sie vor etwa viereinhalb Stunden hingeworfen hast, nehme ich an.“
Verdammt. Nun, ich konnte gut noch einige Stunden ohne Zigarette auskommen, Hunger würde ich auch so bald nicht kriegen und neben meinem Bett stand eine mindestens halb volle Mineralwasserflasche.
Ich schminkte mir die folgenden Stunden des Dösens vollends ab, als der Kater mir seine feuchte Nase auf die Wange drückte und mit Vehemenz ins Ohr zu schnurren begann. Ich wollte lieber gar nicht wissen, wo er mit der Nase heute schon gewesen war.

Nachdem ich mich geduscht und angezogen hatte, ging ich nach unten, auf der Suche nach einem Frühstück. Während ich Eierspeis und Speck auf einen Teller lud, lauschte ich stumm der Unterhaltung zwischen der Oma und dem Opa, die am Küchentisch saßen. Die Oma überflog das Schundblatt der Nation und hatte anscheinend gerade den interessanten Teil erreicht.
„Morgen soll es regnen“, sagte sie.
„Scheiß Regierung.“
„Und am Dienstag... was? Was kann die Regierung für das Wetter?“
„Schau sie dir an! Raketen können sie da rauf schießen, aber gegen das Wetter können sie nichts machen!“
„Was sollen sie denn machen? Die Wolken wegschießen?“
„Und gegen Krebs haben sie auch noch nichts gefunden!“
Die Oma entschloss sich umzudisponieren. Sie wusste, dass der Opa in seiner eigenen kleinen Welt lebte und so las sie eine Schlagzeile vor.
„Da schau her! Mann erschlägt junge Chinesin mit Eisenrohr.“
„Recht hat er!“
Ich floh, solange noch Zeit dazu war.

Unglücklicherweise hatte die Oma eigene Vorstellungen davon, wie ich meine Wochenendvormittage zu verbringen hatte, und jetzt, im Herbst, bedeutete das: Nüsse aufklauben. Eine Arbeit, die mir absolut zuwider war. Gut es war ganz lustig auf den Garagen umherzuklettern, aber die Nachbarswiese machte keinen Spaß. Herr Douda, unser Nachbar, hatte uns bereits erlaubt, die Nüsse von seinem Nussbaum, die auf unser gemeinsames Garagendach gefallen waren, zu sammeln, als seine Frau vor einigen Jahren gestorben war. Aber vor zwei Jahren hatte Herr Douda selbst das Zeitliche gesegnet und seine Hinterbliebenen hatten uns erlaubt, auch die restlichen Nüsse in dem verwaisten Garten aufzuklauben. Und wer schon mal versucht hat Nüsse in einer Wiese aufzusammeln, die zwei Jahre lang nicht mehr gemäht worden ist, wird mir zustimmen, dass es unterhaltsamere Freizeitbeschäftigungen gibt.
Doch ich hatte Glück: Am Vortag war Herrn Doudas Tochter mit ihrem Mann und den Kindern da gewesen und hatten die Wiese sozusagen abgegrast. Für mich blieb nur noch das Garagendach.
Ich kletterte also, mit einem Korb bewaffnet und auf Wegen, die ich als Kind, als ich es noch gern getan hätte, nie hätte benutzen dürfen, auf das Dach und begann mich nach Nüssen umzusehen. Der Kater hatte mich verfolgt und beobachtete mich von seiner Ecke des Daches aus mit gelindem Interesse. Seit etwa drei Jahren durften er und Niki nachmittags das Haus verlassen, was mich damals sehr erstaunt hatte. Manchmal konnte man einem alten Hund eben doch neue Tricks beibringen. Und die Oma WAR ein alter Hund.
„Na, macht’s Spaß?“, fragte der Kater spöttisch.
„Wie wär’s, wenn du dir endlich eine Hose anschaffst? Bei deinem ausgeprägten Schamgefühl muß es doch schlimm sein, ständig nackt rumzulaufen.“
Das saß. Mit einem kleinen Seitenhieb auf seinen Fauxpas mit der Nachbarskatze vor ein paar Jahren war es mir in letzter Zeit gelungen, ihn manchmal etwas gefügig zu machen.
„Ich bin nicht nackt“, erwiderte der Kater würdevoll. „Ich trage ein Fell. Nackt wäre ich erst, wenn du mich rasieren würdest. Aber du kannst dich ja nicht mal selbst rasieren.“
„Billig“, sagte ich. „Billig und unter deiner Würde. Du könntest mir aber helfen.“
„Sehr witzig. Soll ich einzelne Nüsse mit dem Maul zu dir rübertragen? Oder genügts, wenn ich süß damit rumspiele, bis alle auf einem Haufen liegen?“
„Lass dir was einfallen. Ich dachte, es hätte Vorteile, wenn man eine intelligente Katze hat.“
„Wozu braucht ihr überhaupt so viele Nüsse? Wieviel habt ihr schon gesammelt?“
„Hundertzwanzig Kilo, brutto. Ich weiß nicht, vielleicht glaubt die Oma, die Weltwirtschaft bricht zusammen, wenn sie nicht ihre ausgelösten Nüsse für vier Euro das Kilo an den Mann bringt. Vielleicht gönnt sie auch nur den Eichhörnchen nichts.“
„Ausgelöst? Wie ist denn das Verhältnis?“
„Aus drei Kilo ganzen Nüssen macht sie einen satten Kilo ausgelöste Nüsse.“
„Dann macht das bei hundertzwanzig Kilo...“, der Kater rechnete, „... ganze hundertsechzig Euro? Zahlt sich das aus?“
„Ich glaube schon. Billige Arbeitskräfte. Andererseits kostet ein Kilo Nüsse im Ganzen im Supermarkt acht Euro. Aber sie verkauft nur ungefähr die Hälfte. Den Rest braucht sie selber zum backen.“
Der Kater sah mich eine Weile stumm an und schien darüber nachzudenken, was einem kranken menschlichen Gehirn noch alles einfallen konnte.
„Und was macht ihr mit den ganzen Schalen?“
„Wegwerfen, nehme ich an“, antwortete ich und betrachtete nachdenklich eine halbe Nuss, die ich kurz zuvor zertreten hatte. „Aber ich glaube, man kann auch was Nettes draus basteln.“
„Ja, wenn man schwer einen an der Waffel hat.“
„Ich kann mich dunkel erinnern, dass wir im Kindergarten Boote draus gemacht haben, mit Plastilin und Zahnstochern und...“
Da bemerkte ich, dass hinter dem Kater Rauch aufstieg, dort wo der Eingang zur Garage war. Das Gebäude war noch nie, seit es in den Sechzigern errichtet worden war, als Garage verwendet worden, der Opa nutzte es als Werkstatt, trotzdem dachte ich immer davon als „Garage“.
Ich konnte mir schon denken, wo der Rauch herkam. Nach seinem zweiten Schlaganfall hatten wir dem Opa die Flex weggenommen, das elektrische Schweißgerät, den Schleifbock, die Standbohrmaschine und die Schrotflinte. Aber von seiner alten Kunstschmiedeesse kriegten wir ihn nicht mal mit der Brechstange weg. Presslufthammer war gerade keiner zur Hand und die Flex wollten wir nicht verwenden, der Amboss hätte Schaden nehmen können. Also behielt der Opa sein Esse, sehr zum Leidwesen der meisten Familienmitglieder und so ziemlich aller Nachbarn (außer jenen, die schon tot waren).
Wenige Augenblicke nachdem ich den Rauch bemerkt hatte, standen der Kater und ich vor der Garage und beobachteten wie Schwaden dicken Qualmes daraus hervorquollen.
„Was willst du tun?“, fragte der Kater.
„Ich weiß nicht genau.“
„Lassen wir ihn einfach ersticken?“
„Ich weiß ja nicht mal, ob da wer drin ist.“
„Ich bin für Erstickenlassen.“
„Das gibt wieder Scherereien mit, äh, mit allen möglichen... Instituten... und... so“, schloss ich lahm. Mir fiel beim besten Willen kein Grund ein, den alten Sack nicht ersticken zu lassen.
„Weißt du was“, schlug der Kater vor. „Weiter unten ist der Qualm nicht so dick. Ich geh mal rein und schau, ob überhaupt einer drin ist. Vielleicht ist es ja wer, der rettenswert ist.“
„Gute Idee.“
Der Kater schlenderte zum Garagentor und spähte hinein. Er musste sich sichtlich überwinden, die Werkstatt zu betreten, der Opa hatte ihn nämlich immer in der Gegend rumgescheucht. Ja, so war er, der Opa. Wenn etwas nicht auf „Arschloch“ oder „Hurensohn“ reagierte, so scheuchte er es in der Gegend rum. Deswegen hatte ihn sein eigener Jagdhund zweimal angefallen. Nach dem zweiten Mal hatte er ihn erschossen; ICH hatte Susi geliebt, und sie MICH.
Langsam machte ich mir Sorgen. Der Kater war schon zehn Sekunden in der Werkstatt und hatte noch nichts von sich hören lassen.
Ich ging einen Schritt näher.
Und noch einen.
„Hallo?“
Der Kater raste wie der schwarze Blitz vom Kitz mit buschigem Schwanz an mir vorbei ins Haus, der Opa sauste fluchend und mit der Geschwindigkeit eines Faultiers auf Valium hinterdrein. Ich trat schnell an ihm vorbei und ging hinter dem Kater her, bevor der Opa wieder mit seiner Lieblingsdisziplin beginnen konnte: 100-Meter-im-Weg-stehen-und-schimpfen.
Drinnen erklärte ich der Oma rasch die Situation, um sie, die als einzige Autorität über den Opa hatte, die Sache regeln zu lassen.
Ich nahm den Kater, der sichtlich nervös und aufgebracht war, auf den Arm, um ihn zu beruhigen.
„Du bist ein Held“, sagte ich, während draußen die Garage niederbrannte.
„Verdammt“, sagte der Kater.
 

Dorian

Mitglied
Ja.

Vielen Dank für die ungemein aufschlußreiche, wortgewandte, textfreie, konstruktive und durch und durch durchdachte Kritik deinerseits.

Lg

Dorian

P.S.: Werd ich mir merken
 

majissa

Mitglied
aber ich find's witzig...

und mußte an einigen Stellen richtig laut lachen. Genaugenommen waren es folgende:

„Was sollen sie denn machen? Die Wolken wegschießen?“
„Da schau her! Mann erschlägt junge Chinesin mit Eisenrohr.“
„Recht hat er!“

Der kurze Dialog zwischen Oma und Opa ist einfach erfrischend. Erfrischend auch der Beginn deiner Story. Dort aber, wo die Nüsse ins Spiel kommen, wird es etwas langatmig. Da droht der Humor unterzugehen, was schade ist, weil er unglaublich trocken daherkommt.

Hoffentlich war das einigermaßen konstruktiv.

LG
Majissa
 

Dorian

Mitglied
Vielen Dank!

Ja, Majissa, Deine Kritik war sehr konstruktiv. Ich hatte selbst schon die Befürchtung, daß die Stelle mit den hundertzwanzig Kilo Nüssen zu lang ist. Mal sehen, ob ich das ändern kann.

Ich bin froh, daß es Leute gibt, die mein Geschreibsel lustig finden. Ich bin eigentlich recht stolz auf die Geschichte, weil ich sie völlig übernächtigt und innerhalb zweier Stunden geschrieben habe, aber wenn dann kein Feedback kommt, ist das frustrierend.
Leider muß ich gestehen, daß der Dialog zwischen Opa und Oma nicht auf meinem Mist gewachsen ist. Diese Unterhaltung gab es tatsächlich.

Nochmals danke für Deine Kritik.

LG

Dorian
 

majissa

Mitglied
2-stunden-geschreibsel?!

Na, sowas in 2 Stunden hinzukriegen, nenne ich eine Leistung. Geschreibsel möchte ich es trotzdem nicht nennen, denn dafür ist es zu gut gelungen. Was ich eben noch vergaß, zu erwähnen: Deine Story ist deshalb für mich interessant, weil sie überraschende Wendungen hat, die immer wieder neugierig machen. Da scheint jeder Absatz eine andere Geschichte zu erzählen.

Der Nußteil ist definitiv zu lang. Ja, ich würde ihn gerne gekürzt sehen und mir das ganze dann nochmals durchlesen.

LG
Majissa
 

birdy

Mitglied
Hallo Dorian

Ob Formal gut oder nicht ist mir eigentlich wurscht, lustig ist die Geschichte jedenfalls !

Wer das nicht erkennt, muss halt über deutsche Kabarettisten der neuen Generation lachen.

Ein Wunsch von mir: Bau den Opa weiter aus. Eine herrlich böse Figur!

Liebe Grüsse
Birdy
 



 
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