Obsession Marrakesch

Den Daumen an der linken Schläfe, die Handfläche im rechten Winkel zum Dach geformt, versucht sie den letzten Sonnenstrahlen, der schon schwächer werdenden Herbstsonne, ein Schnippchen zu schlagen. In ihren smaragden Augen reflektiert sich ein Schauspiel, dass sich so an jedem Wochenende abspielt. Es ist immer dasselbe Stück und immer dieselbe Choreographie, aber jedes Mal in anderer Besetzung und mit anderem Ausgang.
Mareen steht vor Tim's Restaurant am Zebrastreifen und wartet, bis die zähfliesende Autokolonne abreißt, um auf dem gegenüberliegenden Winterfeldtmarkt einzukaufen. Die gewohnte Sicht wird ihr aber durch das neuerbaute Cafe-Restaurant-Winterfeldt verstellt. Das alte, flache Klohäuschen mit integriertem Kiosk, das den Blick immer anstandslos freigab, hat seine Schuldigkeit getan. Gleichwohl kommt gerade diese Kombination, die einfache Symbiose aus geistiger und körperlicher Befriedigung, mit philosophischem Anspruch daher. Das kümmert niemanden, ist passe, scheint nicht mehr dem Zeitgeist zu entsprechen.
Der Verkehr ist zum Stillstand gekommen - nichts geht mehr! Mit flinken Schritten umkurvt sie Autos, Fahrräder und Mülltonnen. Geschafft. Hier der blasse türkische Obsthändler mit dem melancholischen Blick, dort der feiste Berliner Fischhändler, der im harten Stakkato seine Niedrigpreise in die Runde bellt. Auch Rentner, Hausfrauen und ein Rudel Punks mit räudigen Tölen versuchen dem Tag Gutes abzuringen. Doch der Stand mit Accessoires und Nippes aller Art hat es ihr besonders angetan. Hanna, die stark esoterisch angehauchte Standfrau, winkt Mareen schon zu. Kaum hat sie den Stand erreicht, greift Hanna unter die Theke und legt ein großes Bündel buntfarbener Tücher hin. "Hier, die musst du dir ungedingt ansehen, sind ganz frisch reingekommen", plappert sie gleich los. Mareen stellt den schweren Einkaufskorb ab und macht sich sofort über die Halstücher her. "Wirklich tolle Farben", erwidert sie, nimmt die Tücher und hält sie gegen das Licht, um Maserung und Durchlässigkeit zu prüfen. Geschmacksicher, wie immer, hat sie sich schnell entschieden, wickelt das Erdfarbene locker um den Hals, zahlt und geht zielstrebig zum Habibi hinüber.
Der Falaffel-Imbiss ist trotz Gedränge und Massenabfertigung ein Hort orientalischer Gelassenheit. Wenig später erscheint Mareen mit prallgefüllter Falaffel. Es wird Zeit sich einen der begehrten Plätze auf dem Trottoir zu sichern, denn zum Ende des Marktes wird der Laufsteg der Eitelkeiten eröffnet. Sie hat es sich auf einem Stapel Gehwegplatten bequem gemacht, lässt die Beine baumeln und sieht den Händlern zu, wie sie Marktwagen verschließen und in enge Parknischen bugsieren.
Eine Blondine steuert direkt auf Mareen zu. Carmen arbeitet mit Mareen zusammen in einem Call-Center am Alexanderplatz. Sie müsste eigentlich im Urlaub sein.
"Hey, Carmen, das ist ja ne Überraschung", ruft sie ihr schon von weitem zu, schlägt dabei mit der flachen Hand auf die Betonplatte neben sich und rückt ein wenig zur Seite. "Wie kommt's ", fügt Mareen an. "Ach, weißt du, Peter hat ziemlichen Ärger gemacht", antwortet sie und setzt sich.
Die Orangenen der Berliner Reinigungsbetriebe spritzen den Platz, ein Skater dreht einsam seine Runden, Carmen liest im Kulturteil und Mareen schleckt Eis.
"Da.." ,platzt Carmen heraus und hält Mareen ganz unvermittelt die aufgeschlagene Zeitung unter die Nase, "...der Morgenstern liest heute Abend bei Kiepert aus seinem neuesten Krimi. Haste nicht Lust? " - Diese Spontaneität, denkt Mareen neidisch, und sagt zu.

Bei Kiepert ist es rammelvoll. Doch gekalkte, kahle Wände, schmuckloses Interieur und Stragula sind nicht die Insignien der Kunst, schon gar nicht, wenn man sich auf Adlerschwingen in den poetischen Olymp erheben will.
Während Carmen unterwegs ist, um einem schwarzgelockten Schönling die Sinne zu vernebeln, sitzt Mareen brav da und schaut in die Runde.
Damals hatte sie sich mit ihren Eltern überworfen, und als sie von Amsterdam nach Berlin zog, war die Provokation perfekt. Ihre Argumentation richtete sich, wie sie damals formulierte: "Gegen antiquierte Ressentiments". Ausschlaggebend aber war, dass sie Eigenständigkeit demonstrierten wollte. Heute haben sich die Wellen gelegt und das Verhältnis hat sich normalisiert.
Zu der Zeit hat Helmut Krausser seine "Melodien" hier zum Besten gegeben. Er war Tukan-Preisträger, und die Lordsiegelbewahrer der anspruchvollen Literatur gaben sich ein Stelldichein. Vom normalen Stirnrunzler bis zur überkandidelten Boheme war alles vertreten, was diese Stadt zu bieten hatte. Ganz anders heute. Den Pony tiefer gelegt, erwarten viele, dass nicht Milch und Honig, sondern Blut fließt.
Glockenschlag Acht betritt ein Mann im eleganten Zweireiher das Podium. Ohne Umschweife kommt er zur Sache: "Ich möchte ihnen heute Abend gerne Immanuel Morgenstern vorstellen". Der Vorhang teilt sich und ein Winzling betritt die Bühne, verbeugt sich artig und übernimmt mit sanfter Stimme: "Meine Damen und Herren, ich freue mich wirklich sehr, gerade hier meinen neuen Roman präsentieren zu dürfen."
Die Stimme trifft Mareen wie ein Keulenschlag. Verdrängte Gefühle brechen wieder auf und Erinnerungen überschlagen sich. Wörter werden zum Martyrium.
Sie möchte weg, schafft es aber nicht.
Beifall.
Carmen stürmt sofort nach vorne und Mareen drängelt sich automatisch mit durch. Neben der improvisierten Bühne sind Stapelweise Bücher aufgebaut. Alle nehmen sich ein Exemplar und stellen sich in die Reihe der Wartenden. Als Mareen dran ist, legt sie das Buch hin. Der Meisters fragt: "Was soll ich ihnen reinschreiben?" - Sie antwortet: "Für Mareen van Haaren." Immanuel Morgenstern blickt auf: "Frau..., Frau van Haaren, ...warten Sie bitte, ...ich muss sie unbedingt sprechen."
Nach der Signierstunde kommt Morgenstern an, zieht Mareen an die Seite und flüstert: "Sie müssen am nächsten Samstag zu mir kommen. Ist Ihnen 20 Uhr recht? Hier meine Visitenkarte.

Mareen ist aufgeregt als sie ins Auto einsteigt, um nach Dahlem zu fahren. Sie weiß nicht, was sie erwartet, wusste aber immer, dass die Sache irgendwann einmal auf den Tisch kommen würde.
Da ist es. Im Dol 16 - pikfeine Gegend. Sie steht vor einer schmucken Jugendstilvilla mit Garten. Das Klingelschild ist ganz unprätentiös in schlichtem Messing gehalten.
Sie klingelt. - Immanuel Morgenstern kommt heraus, begrüßt sie herzlich und bittet sie rein.
Alles riecht frisch gestrichen, alles ist neu. Schon das Foyer ist ein Fest für das Auge. Der gekachelte Boden mit farbigen Mosaiken, die Gardarobe aus verchromtem Stahl, die zwei Bauhaus-Wipper und die vier Säulen machen was her. Er nimmt den Mantel in Empfang, hängt ihn auf und geht vor ihr her. Eine geschwungene Treppe führt in obere Gemächer und verschlossene Türen deuten Geheimnisse an.
Die Bib-liothek ist ausgestattet mit einem protzigen Kirschholz-Schreibtisch, garniert mit einer 500-MHz-Computeranlage und einem Laserdrucker der Extraklasse, Stöße handbeschriebener Blätter und diversen Schreibutensilien. Das soll dem Besucher wohl einen Hauch exklusiver Kreativität vermitteln? Das Zentrum bildet ein offener Kamin, flankiert von zwei opulenten Ledersesseln, klassischer Stehlame und ein Mar-mortisch. Sie tritt näher und sieht, dass alles perfekt vorbereitet ist. Auf einem Beistell-tisch steht eine Silberplatte mit italienischen Antipasti, daneben eine 2 Liter Ka-raffe Rotwein, konterkariert durch einen Krug Mineralwasser mit zwei Gläsern.
"Bevor ich die ganze Wahrheit erzähle, möchte ich aber ein paar Dinge klarstellen, durchbricht Morgenstern die Stille, nimmt die Karaffe, schenkt Wein ein und zieht das Beistelltischchen heran.
"Sie sehen, mir geht es gut, doch das war nicht immer so."
"Wissen sie, ich bin Berliner Jude und im Scheuenviertel geboren, aber schon als Neugeborener war ich ein Ausgestoßener, da ich verkrüppelt zur Welt ge-kommen bin. Mein Vater, Fliesbandarbeiter bei der AEG im Wedding, verlor seine Arbeit und musste sich mit Schwarzmarktgeschäften durchschlagen. Meine Eltern überlebten die Nazizeit, starben aber früh. Ich bin bei Verwandten untergekommen, dann in ein Waisenhaus abgeschoben worden. Volljährig musste ich alleine klar kommen. Das Einzige, was mich damals über Wasser hielt, war die Liebe zum Schachspiel, dass ich in den letzten Kriegstagen von meinem Vater gelernt habe. Einige Jahre später wurde mein Talent erkannt und heute bin ich Großmeister. Zu der Zeit bekam ich den Spitznamen Kant, weil ich Immanuel heiße, verkrüppelt und unter 1,60 bin."
Mareen van Haaren ist die Situation peinlich.
Zum Glück setzt Morgenstern erneut an: "So, und nun zu meinem Anliegen, weshalb ich sie eingeladen habe."

Vor einem Jahr kommt Immanuel Morgenstern alias Kant von einem Schachturnier nach Hause und immer folgt das gleiche Ritual.
Zuerst legt er sich in die Wanne, um in Ruhe zu entspannen, dann, nach Durchsicht der Post, läuft Kant sofort ins Arbeitszimmer, wo er sein Laptop in die dock-station ein-rasten lässt. Der Computer ist für ihn als Schachprofi unerlässlich, weil er über große Datenbanken, wie ChessBase, Zugriff auf schon ausanalysierte Spiele seiner Gegner hat und über Internet zusätzlich die Möglichkeit besitzt, von allen aktuellen Turnieren Partien runterzuladen.
Darüber hinaus hat Kant ein makaberes Hobby, er archiviert Morde. Deshalb hat er auch einen Zeitungsdienst beauftragt, der ihm die Fälle per Mail zukommen lässt.
Fünf Mails sind im Briefkasten. Zwei wegen Turnierterminen, die interessieren ihn jetzt nicht. Die anderen Drei lässt er sich ausdrucken:

Betreff: Mord am Flughafensee
Datum: Fri, 08 Sep 2000
Von: DieSchere@t-online.de
An: Kant@t-online.de
Zwillinge graben beim Bau einer Sandburg die Leiche eines Mannes aus. Die stark verweste, nackte Leiche ist in einen milchigen Plastiksack gehüllt, umwickelt mit einer marokkanischen Decke. Über die Identität konnte die Polizei keine Angaben ma-chen.
Auf dem Bild sieht man die ausgebreitete Decke, darauf die Leiche im Plastiksack.

Betreff: Beerdigung 23.9. in Mannheim
Datum: Tue, 14 Sep 2000
Von: DieSchere@t-online.de
An: Kant@t-online.de
Bild von Michael und Eva-Maria-Mangold mit Sohn

Betreff: Mareen van Haaren
Datum: Mon, 18 Sep 2000
Von: DieSchere@t-online.de
An: Kant@t-online.de
Frau Mareen van Haaren mit Schock ins Klinikum Steglitz eingeliefert

Kant will schlafen, kommt aber nicht zur Ruhe, steht auf, zieht den Bademantel über und greift sich die Mails. Mareen, ist das nicht? Er geht zum Computer und lässt sich die Schachmitglieder auflisten. Nichts. Jetzt kann nur noch Dr. Schmelzer helfen. Er ist der Klubvorsitzende und kennt jeden, wenn es sein muss, sogar mit Adresse und Telefonnummer. Schnell hat er die Bestätigung, die er benötigt: Mareen van Haaren, Dankelmannstraße 27, Berlin-Charlottenburg, Tel. 322 5555.
Der Fall hat ihn angesteckt. Doch bevor er zur Beerdigung nach Mannheim fährt, will er Mareen van Haaren im Krankenhaus be-suchen.

Kant drückt die Tür langsam auf. - Da liegt sie, schneeweiß und zugedeckt auf dem Bett. "Frau van Haaren, ich bin's, Morgenstern", flüstert er. "Ich hab's in der Zeitung gelesen",... bricht aber ab, weil sie nicht reagiert und setzt sich auf den Stuhl. Nach einer ganzen Weile dreht sie sich auf die Seite, greift in das Nachtkästchen, holt ein abgerissenes Bild heraus und reicht es ihm. Sie erzählt, wie Michael Mangold, kurz nachdem sie sich kennen gelernt hatten, dieses Bild vorbeibrachte. "Ich will Dir was schenken, wenn es dir gefällt", meinte er. Mareen gefiel es sofort. Störend war nur, dass noch jemand ande-rer drauf war. Michael ging zum Sekretär, nahm die Schere und schnitt das Bild auseinander. "Das ist das einzige Andenken", nimmt es Kant aus der Hand und legt es zurück. Dann fährt sie fort: "Können Sie meinen Eltern nicht beim Umzug meiner Wohnung ein wenig unter die Arme greifen?"

Der Friedhof Käfertal liegt im Nordosten von Mannheim an der Alten Poststrasse und macht den Eindruck ausbaufähig zu sein.
Kant hat sich in der Menge der Schaulustigen ein gutes Plätzchen gesichert, von wo aus er alles gut überblicken kann. Rechts vom Grab steht Eva-Maria Mangold, deren Foto er aus der Zeitung kennt, daneben der Sohn und die Eltern, ein wenig versetzt ein blonder Riese und einer, von der Statur ähnlicher, aber schlabberiger Typ. Links davon haben sich die übrigen Verwandten und der Pfarrer aufgestellt.
Die Trauergemeinde wird angeführt von den Honoratioren der Stadt, zu erkennen an den Kränzen mit dem Wappen der Stadt, dahinter die Profis der Fried-hofgänger, wie Kriegerwitwen und Pietisten jeglicher Couleur. Aus den hinten Reihen ist das übliche Getuschel der Neugierigen und Besserwisser zu hören.
Am nächsten Morgen fährt Kant zum Haus von Eva-Marias Eltern und wartet ab was passiert Er hat den Fotoapparat und das Handy im Handschuhfach, das Diktafon in der Sakkotasche und ein Sandwich und eine Flasche Mineralwasser auf dem Sitz. Gegen 17 Uhr gibt er entnervt auf.
Trotzdem hat er ein kleines Erfolgserlebnis. Zum erstenmal gereicht im seine Größe zum Vorteil. Wenn er das Sitzkissen entfernt, kann er in Rü-ckenlage bequem durch das untere Lenkraddreieck sehen und keiner sieht ihn.
Der zweite Versuch tags darauf.
Wie in seinem Beruf kommt es hier nicht auf Genialität, sondern auf Ausdauer und Biss an. Da marschiert der Schlabberige vom Friedhof auf das Haus zu, klingelt und ver-schwindet. Kant sitzt senkrecht in seiner Kiste. Der Mann kommt zurück. Das ist seine Chance. Sie starten gleichzeitig. Nach wenigen Straßenüberquerungen hält er an und wartet. Kant nimmt das Diktafon: Straßenbahnhaltestelle, Schwetzinger Str. Der Mann wendet und fährt die Schwetzinger zurück, parkt, steigt aus und geht auf die andere Seite. Kant beobachtet, wie er seine Schlüssel rausholt und auch schon drin ist. Er sieht an der Häuserfront hoch, Licht geht an, und er notiert: Schwetzinger Str. 108, 2 Stock links, den Namen recherchieren.
Am nächsten Tag fährt er in die Schwetzinger Str. 108. Die Tür ist offen und er steigt in den 2 Stock. Max Baumeister. Er klingelt - nichts. Der arbeitet sicher. Also, wieder warten. Gegen Sechs kommt er. Kant klingelt. "Wer da?" - "Haller, Eva-Maria meinte, dass sie so um Sechs von der Arbeit kommen." - Der Summer geht. Max Baumeister sieht misstrauisch aus. Kant lächelt: "Ich bin ein Freund von Eva-Maria"..."Eva-Maria meint doch sicher meinen Bruder, ich bin der Max, Marrakesch, ah, Harald, wohnt in der Schwetzinger Str. oder ist im Adonis. Kant reagiert schnell. "Ja, ja, danke", dreht sich um und ist weg.
Wieder im Auto greift er sich das Diktafon: Max Baumeister und Harald Baumeister. Ha-rald Baumeister wohnt in der Schwetzinger Str.. Er nimmt sein Handy, ruft die Auskunft an und erfährt, dass dieses Adonis kein Grieche, sondern ein Fit-ness-studio am Marktplatz ist und das es ein marokkanisches Lokal mit Namen "Marrakesch" in Rheinau gibt.
An der Kasse des Studios fragt er, ob er nachsehen könne, er su-che je-manden. Kant wird ko-misch beäugt, aber rein-gelassen. Es riecht nach Deodorant und Schweiß. Er ist noch nicht richtig drin, sieht er schon, wie ein Hüne von einem Mann im Zentrum vor Gaffern hantiert. Das ist also Harald Baumeister, der blonde Riese, der ihm auch schon beim Begräbnis aufgefallen war.
Gleich anschließend fährt er nach Rheinau.
Es ist noch nicht viel los, als Kant das Marrakesch betritt. Hinterm Tresen steht einer und trocknet Gläser ab. "Entschuldigen Sie bitte, ich bin mit Harald verabredet. War der schon da?" "Selam, Haralds Freunde sind auch meine Freunde.? Kommst du geschäftlich?" Der Gläserputzer dreht sich um und ruft: "Mohammed, ein Freund von Harald." Als Antwort kracht ein Schwall arabischer Kehl- und Zischtiraden durch das Lokal. Kant grüßt wortlos und verlässt schleunigst die Kneipe.
Im Hotelzimmer wird er den Eindruck nicht los, dass er in ein Wespennest gestochen hat. Welche Verbindungen gibt es zwischen Harald und den Marokkanern und was für Geschäfte sind das? Er spürte Genugtuung. Kant hat Blut geleckt und will sich damit besudeln.

Es ist schwül und es gießt in Strömen. Regenzeit. Die Taxen sind schnell gefunden und schon geht es Stadteinwärts. Kant hat dem Taxifahrer in englisch was von "very good hotel" erzählt, ist sich aber nicht sicher, ob er ihn verstanden hat. Es sieht aber so aus, denn das Auto hält vor einem Prachtbau im maurischen Stil.
Das Einchecken ist problemlos. Kant hat ein Zimmer mit Blick auf die Ausläufer des Atlas-Gebirges gekriegt und nach einem Pfefferminztee auf der Hotel-Terrasse fühlt er sich besser. Doch er ist nicht zum Vergnügen hier, beobachtet die Szenerie und schnippst nach Einem, der aussieht, als ob er was zu sagen hätte. Diesem macht er klar, dass er ei-nen deutschsprechenden Führer braucht. Es dauert. Dann kommt ein Junge in Pa-genuniform. Er spricht nicht nur fließend deutsch, sonder ist sogar in Deutschland geboren. Da wird es also keine Probleme geben. Über den Preis sind sie sich schnell einig. Sein Auftrag: Hotels nach Harald Baumeister abzusu-chen. Kant stellt sich auf einen ruhigen Nachmittag ein. Am späten Abend kommt Haleb aufs Zimmer und winkt ab. Verdammt, denkt Kant, die Zeit wird knapp.
Am nächsten Tag wieder Regen, wieder auf der Terrasse und wieder Tee. Haleb kommt diesmal früher und mit einem Grinsen auf dem Ge-sicht. Harald Bau-meister ist jedes Jahr im Hotel Le Marrakesch. Man kennt ihn dort gut. Kant gibt Ha-leb das versprochene Trinkgeld und macht sich gleich auf den Weg.
Der dicke Portier des Le Marrakesch begrüßt ihn herzlich und fragt gleich, ob er ein guter Freund von Monsieur Harald sei. Diesmal lässt Kant zuviel Zeit verstreichen. Die Augen des Portiers verengen sich - Misstrauen funkelt ihm entgegen. Mit einer ausladenden Bewegung setzt er zum Sturzflug an: "Mein Herr, es tut mir leid, aber über unsere Gäste, insbesondere über unsere Stammgäste, können wir leider keine Auskünfte erteilen."
Zurück im Hotel will er seine Ruhe haben und lässt sich Essen und eine Kanne Tee aufs Zimmer bringen. Bis zum Abflug will Kant niemanden sehen.

Wieder in Berlin fühlt sich Kant mies. Alles ist geplatzt, wie eine Seifenblase. Seine ganzen Bemühungen waren umsonst. Wie konnte er sich nur so täuschen lassen? Auf vage Vermutungen hin, einfach wegfliegen? Tölpelhaft!
Da fällt Kant siedend-heiß ein, dass er versprochen hat, Mareens Eltern beim Umzug zu helfen.
Kant wartet schon eine Weile. Sie kommen und gehen rein. Die Räume sind hell, die Einrichtung ist modern. Es ist keine dieser überfrachteten Wohnungen, alles hat Luft. Kant will es hinter sich bringen. Fragt: Wann, was transportiert und verpackt werden soll und macht die dazu nötigen Anrufe.
Doch der Sekretär im Wohnzimmer hat es ihm angetan. So einen wollte er immer haben. Dieses glänzende Schelllackholz, diese Einlegearbeiten und Fächer bringen strahlenden Glanz in seine Augen. Er muss mit der Hand über die glatte Oberfläche streicheln - fantastisch.
Das Man-Ray-Bild über dem Sekretär hat sich gelöst und kracht auf die Platte, Glas splittert, Staubwölkchen tänzeln durch die Luft. So eine Scheiße, denkt Kant, läuft in die Küche und findet Kehricht samt Kehrschaufel.
So, das wär's dann wohl, bückt sich noch nach einem Zettel, der sein Empfinden von Ordnung stört, fühlt, .. .
Was er sieht, haut ihn fast um. Es ist die andere Hälfte des Bildes, dass ihm Mareen van Haaren im Krankenhaus gezeigt hat. Harald Baumeister. Das ist doch die Decke auf der auch Michael Mangold lag.
Doch Kant ist mit der Geschichte noch nicht fertig. Allzu gern würde er alles über die Motive und Hintergründe dieser Tat wissen. Das war immer sein Anliegen, wenn er sich mit Mord beschäftigt hat.
Kant greift zum Hörer, sucht in seinen Notizen nach der Telefonnummer und ruft an. "Harald Baumeister" - Kant räuspert sich: " Hier Haller, sie kennen mich nicht, aber ich habe im Mordfall Michael Mangold privat recherchiert und weiß, dass sie ihn gut kannten. Ich habe ein Foto in der Hand, wo sie auf einer marokkanischen Decke liegen, die ein großes Loch in der rechten, oberen Ecke hat." "Ja, und?", kommt es fast tonlos. - "Ich will Ihnen ein Geschäft vorschlagen. Sie erzählen mir alles und ich gebe Ihnen das Foto. Ich bin morgen Nachmittag bei Ihnen, die Adresse habe ich."

Mit dem Summen der Haustür noch im Ohr steigt Kant die Stufen in die vierte Etage hoch. Wenn es verrückt ist, dass er überhaupt kommt, ist es dann nicht dumm, in die Höhle des Löwen zu gehen? schießt es Kant durch den Kopf. Die Stufen machen ihm zu schaffen und er schwitzt und hat zittrige Knie. Nicht gerade ein Gefühl von Stärke. Die Tür oben ist zu. Er greift zum Klingelknopf. Die Tür wird aufgerissen und Harald Baumeister steht da. Er ist in diesem Augenblick die personifizierte Gewalt in Menschengestalt. Kant der Gnom und Harald Baumeister der griechische Gott. Was für ein Widerspruch der Natur? Er könnte nicht größer sein.
Drinnen ist alles marokkanisch eingerichtet. Es gibt Kelime, Sitzkissen und allerhand Kitsch, kurzum, es spiegelt das Klischee vom orientalischen Wohnen wieder. Er hat Tee vorbereitet. Wenn er jetzt noch die Dialeinwand auspackt, könnten sie vielleicht noch Freunde werden.
"Was wollen sie wissen?" zischt Harald Baumeister aus seiner Tasse heraus. "Alles", kontert Kant. Baumeister stellt die Tasse ab und spricht wie vorbereitet: "Also, es stimmt, Michael und ich waren Freunde. Wir sind schon zusammen ins Gymnasium gegangen. Aber Michael ist in der Ost-Stadt, bei den Neureichen und ich bin im alten Arbeiterkiez, in der Schwetzinger Altstadt geboren.
Dann haben wir zusammen, das einzige Mal übrigens, was Verrücktes gemacht. Wir sind mit meinem Bruder Max nach Marokko gefahren. Kiffen und so. Und Mi-chael war abhängig von mir, weil er kein französisch sprach. Leider das einzige Mal.
Dann kam die Eva-Maria in unsere Klasse. Ich habe mich sofort in sie verliebt, doch sie hat sich nur für Michael interessiert. Sie hat ihn später ja auch geheiratet.
Der Auslöser aber war die Geschichte an der "Blauen Adria", einem Baggersee in der Nähe von Mannheim.
Da hat Eva-Maria auch das Bild von uns gemacht. Ich weiß es noch wie heute. Michael legt die Zigarette unachtsam ab, wir rücken zusammen, damit sie uns auch gut aufs Bild kriegt und plötzlich brennt meine Decke. Es kommt zum Streit zwischen mir und Michael. Eva-Maria schlichtet, indem sie mich bei der Hand nimmt und Richtung Wasser zieht. Als wir rauskommen ist Michael eingeschlafen. Wir trocknen uns ab und legen und eng nebeneinander. Sie auf den Rücken und ich auf den Bauch. Eva-Ma-ria schließt die Augen und schläft ebenfalls ein. Ich sehe sie an, ich weiß nicht wie lange, und dann überkommt es mich. Ich versuche sie zu küs-sen. Eva-Maria fährt hoch und schreit, auch Michael springt sofort auf und schaut mir in die Augen. Diesen Blick habe ich nie vergessen, ein Erniedrigung, wie sie schlimmer nicht sein kann. Ich hätte ihn ......" In diesem Moment greift Harald Baumeister hinter sich und richtet eine Pistole mit Schalldämpfer auf Kant...und schießt.
Es ist 5 Uhr früh, diffuses Licht bricht sich im großen Fenster der Bibliothek. Mareen van Haaren und Immanuel Morgenstern sitzen in ihren Sesseln und starren in den kalten Kamin.
"Die Tage danach waren furchtbar. Immer der gleiche Alptraum: Der Schuss, dieses verzweifelte Gesicht von Harald Baumeister, immer wieder, immer wieder.
Um die Nächte zu überstehen, fing ich an zu schreiben.
Wieder Alpträume, wieder nassgeschwitzte Laken.
Ich bin zum Erfolg verdammt, das ist die Wahrheit!
...und wenn sie Geld brauchen, kein Problem, Frau van Haaren."
Mareen van Haaren steht mit einem Ruck auf: "Rufen sie mir bitte ein Taxi, es ist spät geworden."
 



 
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