Ohne Worte gesagt

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Isola

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Ohne Worte gesagt

Ihre Mutter hatte sie gebeten, sie über die Feiertage zu besuchen und da keine wichtigen Prüfungen anstanden, hatte Debbie zugesagt.
Debbie lebte seit neun Jahren in Glasgow und ging dort zur Uni; sie wohnte bei ihrer Tante und ihrem Onkel, die ihr die Möglichkeit zu einer besseren Ausbildung gaben, als sie in ihrer Heimat gehabt hatte.
Vor einundzwanzig Jahren war ihre Mutter ihrem Vater von Glasgow nach Oulu, einer kleinen Stadt in Finnland gefolgt. Doch Debbies Vater war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, da war sie drei Jahre alt gewesen und ihre Mutter stand mit Debbie mittellos da. Ihre Mutter war mit neunzehn nach Oulu gekommen und hatte keinen Beruf erlernt, so dass sie sich und ihre kleine Tochter nun mit Gelegenheitsjobs am Leben halten musste.
Debbie hatte das von klein auf gekannt, dass ihre Mutter den ganzen Tag arbeiten war und es machte ihr eigentlich nichts aus, doch als Debbie elf wurde, schickte ihre Mutter sie nach Glasgow zu Tante Jane und Onkel Kevin; sie wünschte sich einfach, dass es ihrer Tochter einmal besser erginge.
Jane und Kevin hatten Debbie immer wie ihre eigene Tochter behandelt und trotz anfänglichem Trotz und Widerspenstigkeit, hatte sie sich bald eingelebt bei den Beiden und besuchte ihre Mutter mindestens viermal im Jahr in Oulu.

Nun aber saß Debbie mit ihrem Rucksack und dem Flugticket in der Hand am Flughafen, um nach Helsinki zu fliegen. Dort würde sie ein Bekannter ihrer Mutter abholen und mit ihr nach Oulu fahren, wo sie über Weihnachten und Neujahr bleiben würde.
Nervös fummelte Debbie an ihrer Tasche herum und tippelte mit dem Fuß auf und ab. Sie musste noch fast zwei Stunden warten und das gefiel ihr gar nicht; warten war etwas furchtbares für sie. Um sich zu beruhigen, stand sie jetzt auf, schulterte ihren Rucksack, den Koffer hatte sie schon aufgegeben, und ging in Richtung Kiosk. Sie blätterte die Zeitschriften durch, kaufte schließlich auch vier davon und setzte sich wieder auf ihren Platz, wo sie die Beine übereinander schlug, und las die Zeitschriften interessiert durch. Sie war auf einmal schon viel ruhiger als zuvor.

Er hatte sie schon eben gesehen und wusste jetzt immer noch nicht, was er tun sollte.
Eigentlich wollte er keine Bekanntschaften schließen, sondern nur zu seiner Mutter fliegen, die in einer Woche ihren Lebensgefährten heiraten würde, aber dieses Mädchen war ihm sofort aufgefallen und wenn er nicht so schüchtern wäre, dann hätte er sie angesprochen.
In zweieinhalb Stunden würde sein Flug nach London gehen und er freute sich schon, seine Mutter und seine Schwester Marie wiederzusehen. Er hatte vor vier Jahren ein Stipendium hier bekommen und war zusammen mit seinem Freund Olaf her gezogen; da war Olaf einundzwanzig gewesen und hatte außer Helsinki nichts von der Welt gesehen, deshalb hatte Elias ihn nach Glasgow mitgenommen.
Elias meinte zu wissen, dass Olaf das Mädchen ganz sicher angesprochen hätte; Olaf war schon immer der mutigere und selbstbewusstere von beiden gewesen und bei diesem Gedanken musste Elias lächeln. Denn Olaf sprach Mädchen zwar öfter an als er, bekam aber dadurch auch öfter mal einen Korb. Olaf war, seit sie sich kannten, immer sein großer Held gewesen; er hatte Elias in Schlägereien verteidigt und hatte ihn getröstet, wenn er Probleme gehabt hatte. Vielleicht war Olaf, weil er zwei Jahre älter war, ja auch so eine Art großer Bruder für Elias; er wusste es nicht.

Aber jetzt, in diesem Moment, war Olaf nicht da, um ihm zu helfen und Elias kam sich ziemlich verlassen vor auf diesem riesigen Flughafen. Die ganze Zeit, seit er seinen Koffer aufgegeben hatte, hatte er hier gesessen, Musik gehört und das Mädchen beobachtet, das ihm gegenüber saß und nervös zu sein schien.
Sie war ihm mit ihren schokobraunen Haaren und den blitzenden azurblauen Augen gleich aufgefallen, wie sie sich genervt auf die Bank hatte fallen lassen und seitdem an ihrer Tasche herumfummelte. Die hautengen, verwaschenen Jeans und das burschikose Hemd mit den überlangen Ärmeln sahen aus, als seien sie nur für sie gemacht worden und mit dem hochgesteckten Haar, den schwarz umrandeten Augen und den brombeerfarben geschminkten Lippen sah sie einfach hinreißend aus. Ihre Nervosität machte Elias auch nicht nervös, sondern steckte ihn an, ließ Freude in ihm hochsteigen, dass er bald seine Familie wiedersehen würde.
Eben war sie aufgestanden und er wollte ihr schon nachgehen, war aber dann heilfroh, als sie mit einigen Zeitschriften vom Kiosk wieder kam. Wenn er sich doch nur traute, dieses Mädchen anzusprechen!


Debbie sah verstohlen zu dem Kerl hinüber, der sie schon die ganze Zeit beobachtete und währenddessen Musik hörte. Sie fragte sich, welche Musik...
Er gefiel ihr; er saß dort wie ein Fels in der Brandung und schien die Ruhe selbst zu sein. Es beruhigte sie unsagbar, dass in diesem ganzen Trubel um sie herum jemand war, dem die Hektik eines Flughafens offensichtlich nichts ausmachte. Außerdem hatte sie dann auch etwas schönes zum gucken. Er war nämlich genau ihr Typ; er sah schon fast skandinavisch aus mit seinem blonden, strubbeligem Haar, den braunen, ruhigen Augen und dem hochgeschossenem Körper. Ja, er war groß, bestimmt sogar einen Kopf größer als sie und sie war mit einsneunundsechzig nicht gerade klein. Er trug schwarze Jeans und einen dicken Wollpullover mit Strickmuster und hatte eine kleine, lederne Tasche neben sich stehen, an der ein kleiner Plüschelefant als Schlüsselanhänger festgemacht war. Sie musste schmunzeln. Entweder hatte er eine Freundin oder er war ziemlich verspielt.
Seine Füße steckten in modischen, teuer aussehenden Sneakers und Debbie sah auf ihre eigenen Schuhe hinunter, schwarz-weiße Loafers, die sie sich vor kurzem erst neu gekauft hatte. Warum hatte sie keine alten Turnschuhe angezogen? Die Loafers würden ja doch nur unnötig dreckig werden!

Sie hatte aufgehört, in ihren Zeitschriften zu blättern und sah sich, scheinbar zufrieden, um.
Ihre Blicke streiften sich zwischenzeitlich und sie wurde rot, wie ein kleines Mädchen, was sie noch viel sympathischer für ihn machte. Elias beschloss, sie kennen zu lernen.
Doch wie sollte er das tun, ohne unhöflich und plump zu wirken? Er konnte doch nicht einfach aufstehen und sich neben sie setzen! Das würde nur billig und notgeil wirken, so als ob er ständig irgendwelche Mädchen auf Flughäfen anbaggere.


Als er zu ihr rübergesehen hatte, schoss Debbie das Blut in die Wangen und sie war rot geworden. Das war ihr richtig peinlich, denn normalerweise war sie selbstbewusst und ließ sich von einem Mann nicht nervös machen, aber der hier machte sie übermäßig nervös und das gefiel ihr absolut nicht. Hoffentlich würde er nicht herüber kommen und sie doof angraben, wie die dummen Jungen es früher in der Schule gemacht hatten und wie es die Studenten auf ihrer Uni heute noch machten. Dann wäre er nicht mehr interessant, dann wäre er nur noch ein dummer Kerl, der ein bisschen Macho spielen wollte. Aber sie wollte doch, dass er kommt! Gott, warum ging sie eigentlich nicht zu ihm? Lebten sie denn nicht in einer modernen Welt, in der auch eine Frau einen Mann anmachen konnte?

Elias hatte beschlossen, sie nicht anzusprechen, das würde die Atmosphäre kaputt machen. Er genoss es, sie einfach anzusehen und das genügte ihm auch schon. Vielleicht würde er sie auch mal anlächeln und sie würde selbst zu ihm kommen, so dass er gar nichts machen musste.

Debbie riskierte einen Blick zu ihm hin und in diesem Moment lächelte er das schönste Lächeln, das sie je bei einem Mann gesehen hatte. Es bildeten sich kleine Grübchen in seinen Wangen, als er sie anstrahlte und sie ihm ganz und gar verfiel. Sie kannte ihn nicht, hätte also nie behauptet, sie habe sich in ihn verguckt, aber sie fand ihn sympathisch und das entschied sich bei ihr meist innerhalb der ersten Sekunden.

Sie hatte zurückgelächelt und gleich wieder verlegen auf ihre Hände geschaut. Was sollte er nur tun? Er war ganz und gar in Verlegenheit geraten, trotz dass er es geschafft hatte, dass sie nun nicht mehr da saß wie eine Filmdiva aus alten Hollywood-Streifen.
Olaf würde jetzt sagen: ‚Los, hol dir die Braut!’ Aber Elias war nicht Olaf und sie war nicht irgendeine ‚Braut’, die man sich zum Vergnügen anlachte, sondern sie war auf einmal etwas ganz besonderes. Elias wollte sie wirklich kennen lernen; er wollte wissen, welches Parfum sie benutzte, welche Musik sie hörte, wenn sie schlafen ging, welche Filme sie sich ansah, wenn sie lachen wollte und welche Bücher sie las, um sich in eine andere Welt zu träumen.
Er nahm sich die Ohrhörer aus den Ohren und schaltete den CD-Player aus.

Er hatte seinen CD-Player weggepackt und die Hände auf die Oberschenkel gelegt. Nun sah er angespannt aus, gar nicht mehr der ausgeglichene Ruhepol in all der Hektik. Wollte er etwa zu ihr hinüberkommen? Ihr Flug würde in einer Stunde gehen und sie musste sich bald fertig machen, um einzuchecken und die Maschine zu besteigen. Sie hatte keine Zeit mehr! Was sollte sie nur tun? Sie wusste gar nichts von ihm, nicht, wohin er fliegen würde, nicht, wo er her kam, ob er überhaupt englisch sprach und sie verstehen würde und nicht, ob es sich überhaupt lohnen würde, ihm ihre Nummer zu geben.
Debbie schrak zusammen, als ihr Flug durchgerufen wurde. Musste sie denn wirklich schon gehen?

Warum war sie zusammengezuckt, als man Helsinki durchrief? Sie würde doch hoffentlich nicht nach Helsinki fliegen? Das durfte sie nicht! Er wollte sie doch noch so vieles fragen. Jetzt musste er einfach zu ihr rübergehen, sie machte Anstalten, zu gehen!


Sie musste einfach gehen, wenn auch schweren Herzens. Auf einmal freute sie sich gar nicht mehr, ihre Mutter zu sehen und mit ihr Weihnachten zu feiern. Langsam ging sie zum Schalter hinüber, um ihm Zeit zu lassen, doch noch rüber zukommen, aber er sah ihr nur nervös hinterher. Und schon stand sie am Schalter, am Ende einer langen Schlange wartender Passagiere und ihr kam eine Idee...

Er sah, wie sie etwas aus ihrem Rucksack kramte und mit einem Stift auf ein Blatt Papier schrieb, das sie aus einem kleinen Notizblock herausgerissen hatte. Schnell steckte sie den Stift und den Notizblock wieder weg und ließ sich mit den anderen Passagieren weiterschieben. Für einen endlos scheinenden Moment sah er sie nicht mehr.

Debbie faltete das Blatt Papier zu einem Flieger, wie Onkel Kevin ihr immer welche gebastelt hatte, wenn sie eine Aufmunterung gebraucht hatte. Stoßgebete flüsternd hob sie den Arm hoch und ließ ihn fliegen.

Ihr Arm kam plötzlich aus der Menge heraus und ein Papierflieger flog im Sturzflug auf ihn zu. Elias stürzte hastig auf ihn, damit niemand auf die Idee käme, der Flieger wäre für ihn bestimmt und entfaltete das Blatt. Es stand eine Nummer darauf und ‚Ruf mich an!’.
So konnte sie doch nicht einfach verschwinden! Was, wenn er sie nicht erreichte? Ja, vielleicht hätte er glücklich sein sollen, überhaupt etwas mit seinem Hinüberstarren erreicht zu haben, aber er war es ganz einfach nicht!
Elias riss ein Stück von dem Blatt ab und krakelte eilig seine Nummer und seinen Namen mit einem Filzstift darauf. Dann hängte er sich seine Tasche um und rannte zum Schalter.


Sie hörte jemanden rufen, als sie gerade durch die Schranke gegangen war und drehte sich fragend um. Er stand an der Abgrenzung und winkte ihr zu. Im selben Moment warf er ihr ein Papierkügelchen zu und sie fing es mit zitternden Händen auf. Seine Nummer stand darauf und sein Name. Elias. Sie lächelte und wurde schon gleich von verärgerten Mitreisenden weiter geschoben und sah nur noch, wie er ihr fröhlich nachwinkte.


by V.L., 2003
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
also,

da ist man ja wirklich gespannt, wie die sache weitergeht. könnte n roman werden. angenehmer stil!
ganz lieb grüßt
 

Isola

Mitglied
Danke schön!

Danke für das Lob, flammarion - hört man immer wieder gerne...

Ich habe auch vor, eine Fortsetzung zu schreiben, es kann nur noch etwas dauern, weil ich erst Ideen sammeln muss.

grüßt lieb zurück.
 



 
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