Ouvertüre

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Ouvertüre

„Was denkst du?“
Sie strich ihm zärtlich die Haare aus der Stirn und sah ihn an.
Verloren schwebte sein Blick über die Decke, wanderte zwischen den Linien der Holzdecke umher und blieb schließlich an einer bestimmten Stelle stehen. Seine Gedanken waren ohnehin weit entfernt, weiter als seine Augen blicken konnten, und so blieben sie offen, ohne doch eigentlich zu sehen, der Welt entrückt in einem Gefühl, das sich nur mit innerer Leere und Zufriedenheit beschreiben lässt. Und er war in diesem Zustand, wenn es bei ihr war, nah bei ihr. Es schien ihm , dass nur sie ihn mit ihrer Seele wärmen konnte, sich dabei als nur eins zu erleben: ein Wesen, das aus zwei gleich schlagenden Herzen besteht.
Was kann einem auf der Welt schon das Gefühl geben, am Leben zu sein, seine Zeit nicht zu verschwenden mit nichtigen Dingen, wenn nicht die Liebe?
Liebe, die hauptsächlich aus dem Kennen des Anderen besteht, aus dem Annehmen seiner Sorgen, seiner Wünsche und dem Teilen seines Schmerzens, den man zu seinem macht, Liebe, die zur Einheit wird und die es schafft, das tief in der eigenen Seele verwurzelte Gefühl der Angst vor Einsamkeit zur Ruhe zu bringen,
Ruhe. Noch nie war er so mit Friedfertigkeit erfüllt, wie in diesen bemerkenswerten Tagen, den Tagen seit er sie getroffen hatte. Und neben ihr zu liegen, an einem warmen Julitag, an dem draußen das Leben von der Hitze und der trockenen Luft gedrückt seinen Aufgaben nachging, ihr in die Augen zu sehen, den leisen Straßenlärm zu hören, und das Gefühl zu haben, dass die Welt an einem vorbeizieht und einen selbst außen vor lässt. Einen alleine lässt in einem Moment, der so vollkommen scheint, dass es kaum möglich wird, noch einen perfekteren zu schaffen, hätte man die Macht.
„Jetzt sag schon, was denkst du?“ Sie lächelte. Es war ein ehrliches Lächeln, dass ihre Augen leuchten ließ. Den Kopf mit dem Arm abstützend, lag sie neben ihm, sah ihn neugierig an, und erwartete eine Antwort auf ihre Frage.
Langsam kehrte er aus seinen Träumen zurück, drehte ihr langsam sein Gesicht zu und erwiderte ihr Lächeln. „Was glaubst du denn?“
Durch die hinter dem Kopf verschränkte Arme wirkte er lässig und entspannt gleichermaßen.
Tief sah er in ihre unergründliche Augen und musterte lange jede Nuance ihres Gesichtes, das er in und auswendig kannte. Das kleine Grübchen in der rechten Wange, das Muttermal direkt über der Oberlippe und die widerspenstige Locke, die sie ständig aus dem Gesicht versuchte wegzupusten, wobei sie beim Betrachten der Locke dann immer unfreiwillig schielte, was ihr jedes Mal einen leicht wahnsinnigen Ausdruck verlieh.
Langsam tastete sich ihr rechter Zeigefinder vor zu seinem Gesicht. „Ich glaube, du denkst an mich!“ Bei dem letzten Wort berührte sie ihn zur Bekräftigung mit ihrem Finger auf der Nasenspitze. Kurz lachte sie leise auf, mit einem Blick in den Augen, der ihm das Herz jedes Mal aufs Neue aufgehen ließ.
„Ja, natürlich denke ich an dich, an wen denn sonst?“ lachte er. Schelmisch lächelnd begann er sie zu kitzeln. Mit gekonnten Bewegungen wehrte sie seinen Angriff ab, ging ihrerseits zur Vergeltung über und dann balgten sie sich auf dem Bett hin und her. Sie tobten und lachten wie zwei Kinder. Und genau das waren sie eigentlich auch: Kinder, noch unberührt von den hässlichen Tiefen, die eine Liebe haben kann, ohne eine Ahnung von diesem giftigen Gefühl Eifersucht, der atemraubenden Enge oder den tiefen, blutenden Wunden, die man sich gegenseitig zufügen kann, wenn sich das einstige Paradies irgendwann in eine grausame Hölle verwandelt hat.
Mit leisen Schritten stand er auf, das Haar zerzaust durch das wilde Gebalge im Bett, und ging mit halb offenem Hemd und ohne Strümpfe Richtung Zimmertür.
„Sebastian?“ flötete ihm zart eine Stimme nach.
„Ja?“

© g-ps-d 2003
 



 
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