Psychokram

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Raul Reiser

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- Letzten Monat hatte ich noch Depressionen
- Jetzt sind sie weg?
- Sieht so aus.
- Iss doch toll. Freu Dich.
- Das iss ja grad das Problem.
- Wieso?
- Ich hab damals alles ganz klar gesehen. Die Wirtschaft geht den Bach runter, mein Job geht den Bach runter, meine Ehe geht den Bach runter, meine Vorhangstange fiel nachts ab, also geht meine Wohnung auch den Bach runter, morgens schwere Glieder, konnte kaum aufstehen, der Tag grau und schwarz vor mir, Schweißausbrüche, keiner ruft an und so ...
- Echt grausam. Und jetzt?
- Jetzt seh ich vieles anders.
- Iss doch Klasse.
- ... bin völlig verunsichert ... alles so, also wie soll ich sagen ..
- Versteh' ich nich. Mach ma'n Beispiel.
- Also die Vorhangstange ...
- Die iss noch'n Problem?
- Die hab ich wieder repariert. Hat stundenlang gedauert. Aber jetzt ...
- Was jetzt?
- Will ich gar keinen Vorhang mehr
- Dann lass sie halt nackt da oben hängen.
- Für was hab ich sie dann repariert? In der Zeit hätt' ich so viel schönes machen können. Was mir Spaß macht. Jetzt, wo meine Depressionen weg sind, möchte ich jeden Augenblick, jeden Atemzug was schönes machen. Und Dinge tun, die einen Zweck haben, einen wirklichen Sinn.
- Dann mach das doch einfach.
- Aber die Vorhangstange, die hängt so sinnlos da oben.
- Dann mach sie weg.
- Das ist noch sinnloser.
- Wieso das jetzt?
- Ich könnt'ja wieder Depressionen kriegen und einen dicken Vorhang brauchen ...
- Wenn Du kein andres Problem hast, bist Du einfach blöd. Da war'st Du mir depressiv echt lieber.
- Siehst Du? Du fängst an zu kapieren ...
- Nee, Du fängst an mir auf die Nerven zu gehen und deshalb geh' ich jetzt.
- Ich hab aber noch ein Problem.
- Ein echtes?
- Glaub schon.
- Raus damit. Sonst reicht' mir langsam.
- Meine Frau ...
- Von der Du noch vor einem Monat behauptet hast, sie liebt Dich nicht mehr, betrügt Dich, kann Deine Depressionen nicht mehr ertragen und ...
- Genau. Jetzt iss' alles total verquer.
- Sie betrügt Dich nicht mehr?
- Doch. Sie hat mir sogar gesagt, mit wem.
- Das iss ja noch schlimmer.
- Eben nicht.
- Wieso das?
- Sie hat mir letzte Woche Milch in den Kaffe getan, morgens, beim Frühstück.
- Unglaublich, ich heb' gleich ab ...
- Doch! Es iss wahr! Der Kaffee war nicht mehr so schwarz wie vorher und nach Milch hat er auch geschmeckt.
- Tatsächlich.
- Ja. Und das hat sie seit Monaten nicht mehr gemacht. Sie hat immer gesagt, Du musst etwas tun, egal was, sonst kommst Du da nie mehr raus.
- Wie fürsorglich.
- Mein ich auch. Weil ich wieder klar sehe. Weil ich wieder total souverän bin. Sie hat gesagt, Du bist wieder stark und das freut mich. Da Schatz, hast Du Deine Milch. Ich war echt gerührt.
- Deine Frau wusste schon immer, wo's lang geht.
- Siehst Du, Du fängst an zu verstehen. Und deshalb, das macht mich ganz irre, glaube ich, sie betrügt mich nicht, weil sie mich nicht mehr liebt. Sondern weil sie mich total liebt.
- Dass iss jetz nich wahr.
- Sie will meine Stärke sehen, spüren. Als ein Berserker der Eifersucht soll ich sie wieder gewinnen. Das ist irgendwie schön, aber auch beschissen. Als ich in meiner Depresson dachte ich, sie will mich im Stich lassen. Obwohl ich sie doch so liebe. Das war das schmerzhaft. Aber irgendwie auch rein und klar. Ich hatte ihr da ja auch gesagt, ich bring mich um, wenn Du gehst.
- Das hast Du ihr gesagt ...
- Na klar. Damals, als ich depressiv war. Sie sollte doch wissen, ich habe keine Geheimnisse vor ihr. Auch wenn es mir nicht gut geht, ich meine nicht gut ging, damals. Und jetzt. Alles ist anders. Ich bin so hin und her gerissen. Erst der Milchkaffee ... und dann ...
- Noch was?
- Unser Deal.
- Was für'n Deal?
- Das Bett gegen den Autoschlüssel.
- Bett gegen Autoschlüssel. Du spinnst noch mehr als vorher.
- Quatsch. Depression halt. Ich hatte unseren Autoschlüssel versteckt, weil ohne Auto kommt sie nur schwer zu ihrem Lover. Ich dachte damals, wenn sie stundenlang mit dem Bus fahren muss, wird ihr in dieser Zeit klar, was sie mir eigentlich antut. Während ich zuhause sitze, trauere, leide und immer tiefer in Depressionen verfalle.
- Das iss irre.
- Quatsch. Es war nur total falsch. Ich hab sie umsonst leiden lassen. Sie hat ja genauso gelitten wie ich. Das weiß ich jetzt.
- Seit der Milch im Kaffee ...
- Und erst Recht seit unserem Deal.
- Mein Gott. Was für'n Deal?
- Sie wollte ein zweites Bett für sich im Wohnzimmer. Unsere Liebe soll sich in freier Entscheidung verwirklichen. Dazu sei ich jetzt stark genug, hat sie gesagt. Dafür kriegt sie von mir den Autoschlüssel. Sie wäre dann in ihrer Entscheidung freier, hat sie gesagt - und auch ich. Wo ich ja wieder so stark bin und nicht mehr - wegen der Depressionen - an ihr hänge wie eine Klette. Das ist ja ein gängiges Symptom bei Depressionen, wie Du weißt.
- Uff. Und jetzt. Wie läuft das?
- Eigentlich sehr gut. Aber auch irgendwie nicht.
- Rück schon raus.
- Wir genießen diese Zeit der freien Entscheidung. Sie nimmt das Auto und ich kümmere mich gar nicht darum. Wenn sie in ihrem Bett liegt und ich in meinem, spüre ich die Kraft der Freiheit und weiß, auch sie spürt sie. Tagsüber verbindet uns das. Es ist eine Seelenverwandtschaft zwischen uns entstanden. Kein Krach mehr. Richtig romantisch.
- Und wie entlädt sich die Kraft der Freiheit?
- Das isses ja.
- Ich ahne es.
- Nichts ahnst Du. Ich liege im Bett und weiß, sie will meine Stärke spüren. Aber ich weiß nicht, ob das jetzt schon der richtige Zeitpunkt ist. Ich träume von weiteren Steigerungen unseres Begehrens. Und weiß nicht, ob ich soll oder nicht.
- Das ist oft nicht förderlich, wage ich als Mann zu sagen.
- Du sagst es. Außerdem ist da noch was.
- Spuck's aus.
- Die uns verbindende Kraft der Freiheit hat sich gestern Nacht in eine ganz andere Richtung bewegt.
- Ach!
- Ich entschloss mich zu einem innerlichen Kompromiss meinerseits, um ihre Gewissheit zu stärken und unserem Verhältnis eine Steigerung zu geben - vor dem endgültigem Höhepunkt.
- Aha. Und?
- Ich stürzte hinüber ins Wohnzimmer. Das erste Mal. Stolz. Ohne Hintergedanken. Nur um ihr zu zeigen, wie ernst ich es meine. Und sie ...
- Hat Dich rausgeschmissen.
- Seltsamer. Sie war gar nicht da.
- Und? Du? Wieder depressiv?
- Wieso denn? Am nächsten Morgen hat sie mir Milch in den Kaffee getan. Und Zucker!
 
Hallo Raul,

ich fand deinen Text wirklich komisch und habe mich sehr amüsiert. Somit hat die Geschichte doch ihren Zweck erfüllt.
Obendrein steckt aber ein gehöriges Stück Gesellschaftskritik darin. Der "Ex-Depressive" ist ja eher nicht von seiner Depression geheilt sondern hat statt dessen eine verschobene Wahrnehmung der Realität angenommen. Er sieht positive Entwicklungen in seiner eigenen Einstellung und im Verhalten seiner Mitmenschen die 1. gar nicht da sind oder 2. falsch interpretiert werden. Es hätte mich nicht gewundert, wenn der Prota seine neuen "Erkenntnisse" in einem esoterischen Lebenshilfe-Seminar gewonnen hätte.

Liebe Grüße

Bernie
 



 
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