Radio Gaga

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Tapir

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Der Schreck durchzuckt mich nach ungefähr zehn Kilometern. Verdammt! CDs vergessen. Und noch mehr als vierhundert Kilometer Autobahn vor mir. Kurz überlege ich, ob ich an der nächsten Ausfahrt rausfahren, wenden und mir zu Hause doch noch ein paar Silberlinge einstecken soll. Aber ich bin spät dran. Und die Fahrt werde ich hoffentlich auch so überstehen.
Obwohl: Sicher bin ich mir da nicht. Denn wenn ich mein Radio auf die Sender programmiere, zu deren Zielgruppe ich mich eigentlich zählen müsste - als Mann mittleren Alters, der auch bei hundertvierzig auf der mittleren Spur nicht vollständig vom Lauf der Dinge in der Welt abgekoppelt sein möchte - muss ich in letzter Zeit häufiger meine Reflexe üben als mir lieb ist. Den Celine-Dion-Reflex, aber auch den Eros-Ramazotti- oder den Shania-Twain-Reflex. Um nur einige zu nen­nen. Jedesmal, wenn sich einer dieser ungebetenen Gäste in fast stündlichem Rhyth­mus über die zwölf Lautsprecher des Audio-Systems in meinem Mittelklassewagen breit machen will, drücke ich sekundenschnell und zielsicher einen der zehn Stationsknöpfe für den Senderwech­sel.
Der erste Versuch schlägt oft fehl. Statt Celine, Eros oder Shania lauern Phil Collins, Chris de Burgh oder Dido. Und es bedarf meistens mehrerer Versuche, um auch vor Ace of Base, Cher oder Joe Cocker sicher zu sein.
Ich könnte das Radio ausmachen. Oder leise drehen. Aber ich will nicht nur die Geräusche des Vierzylinders, der Reifen und des Fahrtwindes hören. Also zappe ich so lange, bis ich plötzlich den unverwechselbaren Sound von Deep Purple höre. „Smoke on the water.“ Wann habe ich das zum letzten Mal im Radio gehört? Ist nur dummerweise schon fast zu Ende und in die letzten Takte mischt sich auch noch die Stimme eines Moderators mit bemüht amerikanischem Akzent, gefolgt von dem etwa dreißig Sekunden langen Jingle des Senders, der mit „Paranoid“ von Black Sabbath, „Love Hurts“ von Nazareth und abermals „Smoke On The Water“ unterlegt ist und mir mitteilt, dass auf diesem Sender nur Classic Rock gespielt wird. Nach dem Jingle die eingespielte Ankündi­gung eines von der Sparkasse finanzierten Gewinnspiels, bei dem man in den Genuss einer Reise nach Ibiza kommen kann. Zur Strafe muss man aber stundenlang am Lautsprecher verharren, um die Buchstaben des Lösungswortes zu erraten. Nach dreimaliger Nennung der kostenpflich­tigen Tele­fonnummer für das Gewinnspiel leitet der Classic-Rock-Jingle, diesmal deutlich kürzer, zum Wer­beblock über, in dem ein Möbelhaus im Hunsrück auf seine besonders günstigen Einbau­küchen auf­merksam macht, bevor die Einzelhandelsgemeinschaft eines kleinen Moselstädtchens zum verkaufs­offenen Sonntag einlädt. Ich drücke die Taste, die mir mehrere Stationen nacheinander anspielt.
Überall Werbung. Seitenbacher Müsli – lecker, lecker, leckerlecker – Licher Bier und Galleria Kaufhof. Minutenlang. Dann endlich volle Stunde. Nachrichtenzeit. Hartz IV, Tote im Irak, Entlas­sungen bei der Deutschen Bank. Wetter bleibt wie es ist. Stau auf der A3 zwischen Mönchshof-Dreieck und Flughafen. Aber immerhin kein Enrique Iglesias, keine Tina Turner und kein Simply Red. Ich atme tief durch.
Der Programmhinweis verspricht in der nächsten Stunde Beiträge über die Schadstoffbelastung in knackigen Wintersalaten, über Geldanlagen im Internet und die ADAC-Pannenstatistik. Ich ent­schließe mich zum Bleiben. Habe aber nicht mitbekommen, dass ich inzwischen bei dem Sender ge­landet bin, der die besten Hits aus fünf Rock-Jahrzehnten verspricht. Und damit auch „Middle of the Road“, „Abba“, „Boney M“ und „Pur“ meint. Nach den Wintersalaten reicht es mir. Die Geldanla­gen können mir gestohlen bleiben.
Jetzt wird es langsam knapp. Bleibt nur noch das Kulturprogramm. Ohne Werbung, Call-Ins mit „Grüßen an alle, die mich kennen“ und stündlich wiederholten Ankündigungen des Pop-Fes­tivals, das zwar erst in sechs Monaten stattfindet, für das man aber jetzt schon bei einer 0180er Nummer Karten reservieren soll. Stattdessen also Wortbeiträge und klassische Musik. Wenigstens nichts, was mich aggressiv macht. Ich habe immerhin noch über dreihundertfünfzig Kilometer vor mir.
Es geht um Neue Musik stelle ich nach zwei Minuten fest. Ein Komponist wird vorgestellt. Dessen Musik kann man aber offenbar nicht einfach so spielen, sondern muss sie vorher erklären.
„Reine Konstruktivität“, höre ich, „die das musikalische Material im Rahmen normativer Regel­systeme disponiert und an einer Trennung von Konstruktion und klanglichem Erscheinungsbild fest­hält, ist längst an die Grenze ihrer Entwicklungsfähigkeit geraten.“
Ich muss scharf bremsen. Fast hätte ich den ausscherenden LKW übersehen.
„Darüber hinaus“, höre ich weiter, „sei zu prüfen, ob es möglich ist, Musik über jenen Zustand der Selbsterklärlichkeit hinaus auf eine Stufe zu heben, auf der sie über das reine Musik-Sein hi­nausweist und eine aus sich selbst wirkende konzeptuelle Aussagefähigkeit erreicht.“
Ein Ausfahrt-Schild. Noch tausend Meter.
Und weiter: „Die Idee des Stückes mit Namen 'Fehlstart' besteht also darin, eine Komposition aus Detailansichten ihres Ausgangsmaterials zusammenzusetzen, womit sich ein Gleichgewicht zwischen kontinuierlichen und diskontinuierlichen Gestaltungsmomenten einstellt.“
Fehlstart, denke ich. Das passt. Ich setze den Blinker, wechsle auf den Abbiegestreifen, be­schließe, die fünfzig Kilometer zurückzufahren und meine CDs zu holen. Sonst kriege ich meine n kontinuierlichen und diskontinuierlichen Gestaltungsmomente nicht mehr ins Gleichgewicht.
 



 
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