Schattenwanderer

faeldyon

Mitglied
Schweisstropfen rannen seine Wangen hinunter und tropften vom Kinn, als er sich erschöpft an einen Eichenstamm lehnte. Seinen schweren Atem konnte er kaum kontrollieren, doch er musste es tun, um seine Verfolger nicht auf sich zu lenken. Er musste diese Illusion um jeden Preis hervorrufen können, sonst war er geliefert! Noch hatte er Zeit. Waren Menschen den Trollen körperlich an Kraft deutlich unterlegen, so konnten sie über eine gewisse Zeit einiges an Strecke einholen. Ging es um Tagesmärsche, war das wieder was anderes.
Der Mond beleuchtete den Gehweg vor ihm. Offenbar war er in einer eher einsamen Gegend gelandet, hier standen weder Strassenlaternen noch konnte er andere Stimmen hören. Bloss das Warten auf die Trolle und das Entwickeln einer geeigneten Illusion beschäftigten seine Gedanken. Der Kern der Magie: Illusion. Er grinste verwegen. Seit er dieses Geheimnis entdeckt hatte, konnte er praktisch anstellen, was er mochte. Bloss hatten die Trolle die unangenehme Angewohnheit, nicht auf Illusionen reinzufallen. Konzentriert begann er trotzdem mit der Arbeit, ihnen etwas vorzugaukeln, seine Spuren auf der Erde in eine andere Richtung zu lenken, den Duft seines Körpers in ihren Köpfen nachzuahmen, damit sie ihm folgen konnten. Es war erstaunlich, wie stark Trolle all ihre Sinneswahrnehmungen einsetzten. Deshalb wohl fielen sie kaum auf Illusionen rein.
Nach getaner Arbeit ruhte er sich weiter aus und genoss die in weisses Mondlicht getauchte Landschaft. Gedankenverloren fasste er in seine Tasche nach seinem wertvollsten Besitz, einem Ring aus Gold und Silber, eine Kombination aus dem warmen und dem kalten Metall, aus Tag und Nacht, aus Alt und Neu. Noch genau erinnerte er sich an die erste Nacht, als er diesen Ring erhalten hatte. Es war Jahre her.

Mondlicht. Ein schwacher Wind wehte durch die Bäume und liess ein leises Rascheln ertönen. Hie und da rief eine Eule ihren Schrei durch die Nacht, doch nichts anderes regte sich im Wald. Eine Nacht wie jede andere, nachdem er wieder einmal von all seinen Problemen floh. Er liebte den Wald, deshalb suchte er hier häufig Trost. Nur für sich. Seine Freundin hatte Schluss gemacht, weil er seinen Job verloren hatte – nach genau einem Monat Anstellung – und hatte ihn aus der Wohnung geschmissen. Bankkonto leer, kein Zimmer, keine Freunde, keine Arbeit, nichts. Was sollte er jetzt tun? Geistesabwesend schlenderte er immer weiter in den Wald, bis er ihn selbst nicht mehr kannte. Doch in dem Moment, als er schon umkehren wollte, kam ihm eine kleine, gebückte Gestalt entgegen und begrüsste ihn. „Schön, bist du meinem Ruf gefolgt, Ferðalangur, ich habe dich erwartet.“
Verwirrt blieb er stehen. „Was willst du von mir?“, verlangte er scharf zu wissen. Heute war ihm alles und jeder suspekt.
Der alte Mann gluckste freundlich. „Das werde ich dir erzählen, mein Guter. Komm doch auf eine Tasse Tee vorbei. Es ist spät und dein Weg nach Hause weit. Warum wartest du nicht bis morgen bis du zurückkehrst? Mein bescheidenes Daheim ist nur wenige Minuten entfernt.“
Auch wenn er dem Alten nicht traute, auch wenn er eigentlich nur seine Ruhe wollte, auch wenn er auf der Stelle hatte umkehren wollen; er blieb und hörte dem Alten zu. Er nannte sich Enginn. Niemand. Aus einer Tasse Tee wurden vier, aus einer Nacht hunderte, bis er bereit war, die Aufgabe anzunehmen, für welche er geboren war. Und je länger er trainierte, den alten Geschichten horchte, lernte, desto mehr glaubte er, dass dies tatsächlich stimmte.
Doch in der ersten Nacht, als es bereits wieder dämmerte und dem Alten und ihm die Augen zufielen, kam der Alte auf ihn zu und gab ihm einen Ring. „Gull og silfur, dag og nótt, sól og tungl, gamall og nýr. Gold und Silber, Tag und Nacht, Sonne und Mond, Alt und Neu. Merke dir diesen Spruch!“ Für einen langen Moment trat Ruhe ein, in dem er versuchte, sich das gesagte zu merken. „Ab heute sollst du auch einen neuen Namen tragen, als Zeichen deiner Bestimmung und deines neuen Weges. Elding. Dämmerung.“ Der Alte lächelte freundlich, wenn nicht gar zärtlich, als ob er einen verlorenen Sohn wieder begrüssen durfte.

„Fast hätte es geklappt, Wanderer!“, zischte eine tiefe, fast steinerne Stimme neben seinem linken Ohr. Erschrocken fuhr Elding herum, doch in derselben Zeit hatten sich vier Trolle um ihn versammelt. Alle trugen ein fieses Grinsen zur Schau. Kurz bevor es vor seinen Augen schwarz wurde, löschte er die Strassenlaterne um sich herum.
Niemand sollte noch weiter in diese Geschichte mit hineingezogen werden.

„Tindra! Frühstück!“
Stöhnend drehte sich Tindra noch einmal im Bett. Wieso musste sie auch immer so früh aufstehen? Während dem Anziehen überlegte sie sich wieder einmal wie so oft, wie viel Glück sie auch gehabt hatte, als sie sich um ihre Ausbildung als Schmiedin beworben hatte. Normalerweise nahmen die Meister nur Jungs an, und auch nur die, von denen sie wussten, dass sie tüchtig waren. Somit wurde meistens das Wissen um die Schmiedekunst von Vater zu Sohn oder vom Onkel an den Neffen weitergegeben. Doch der Meister in ihrem Dorf, in dem sie erst seit einem Jahr nun mit ihren Eltern und Grosseltern lebte, hatte sie einem langen, prüfenden Blick unterzogen und dann gesagt: „Ich sehe dich morgen früh bei Sonnenaufgang.“
Das war ein halbes Jahr her, aber nichts desto trotz fühlte sie schon wieder Dankbarkeit in sich aufsteigen. Bis zu diesem Tage hatte sie ihre Eltern verflucht, die ihr altes Zuhause verlassen hatten und sie gezwungen hatten, von ihren Freunden Abschied zu nehmen. Doch früher hätte sie niemals die Möglichkeit erhalten, eine Schmiedin zu werden. Und sie plante eine grossartige Schmiedin zu werden!
Mit etwas mehr Elan machte sie sich auf den langen Weg. Summend und singend begrüsste sie den neuen Tag und freute sich auf ihre Arbeit. Was sie heute wohl wieder lernen würde? Plötzlich knirschte etwas unter ihrem Schuh und neugierig stoppte sie. Kleine Stücke von Gold und Silber lagen auf dem Boden und glänzten in der Sonne, einige davon schienen winzige Blutflecken zu haben und auch der Untergrund schien merkwürdig gefärbt. Doch darauf achtete sie nicht. Vorsichtig hob sie die Stücke auf, wischte das schon trockene Blut ab so gut sie konnte und bewunderte die vollendete Schmiedekunst. Die beiden Metalle waren so wunderbar vollkommen ineinander verflochten, dass ihr Atem vor Bewunderung stockte. Sie wollte auch einmal so etwas herstellen können! Merkwürdigerweise zweifelte sie keinen Augenblick daran, dass dies einmal ein Ring gewesen sein musste, auch wenn nur noch einzelne Stücke davon übrig waren. Kurzentschlossen packte sie die Metallstücke ein und beeilte sich, doch noch rechtzeitig zur Schmiede zu kommen. Sie hatte schon zu viel Zeit vertrödelt!
„Guten Morgen!“, rief sie ausser Atem durch die Schmiede und erntete einen sowohl fragenden als auch trödelnden Blick von ihrem Lehrmeister Juang. Doch sie wusste, dass er eigentlich einen ganz weichen Kern hatte und lächelte ihm freundlich zu, worauf sein Blick sich auch aufhellte.
„Ah, die aus dem Westen ist auch schon aufgetaucht!“, sagte Sunyu höhnisch. Er hatte mit ihr die Lehre als Schmied begonnen, zeigte aber wesentlich mehr Talent und konnte sie zudem nicht leiden. Das Schlimmste aber war, dass Tindra seinen besten Freund Liang sehr mochte, und das seitdem sie hierhergekommen waren. Doch sie getraute sich nicht, ihn anzusprechen, immerzu umgab er sich mit hübschen, östlich aussehenden Mädchen mit brauner Haut, dunklen Haaren und noch dunkleren Augen. Da konnte sie mit ihren dichten, blonden Zöpfen und grünen Augen nicht mithalten! Traurig schüttelte sie den Kopf, als sie wieder einmal daran dachte.
Ihr Meister trat zu ihr und meinte freundlich: „Heute machen wir Nägel.“
Sunyu seufzte. „Nicht schon wieder! Nur weil ein Mädchen keine Nägel herstellen kann, heisst das doch noch lange nicht, dass ich die ganze Zeit dasselbe wieder und wieder üben muss! Ich kann Nägel machen!!“ Wütend verschränkte er die Arme. „Ich weiss überhaupt nicht, warum sie noch hier ist.“
Entmutigt liess Tindra den Kopf hängen. Natürlich hatte er recht und sie brachte keinen rechten Nagel zu Stande. Natürlich fehlte ihr jegliches Talent, etwas herzustellen, was danach auch noch nützlich war! Und natürlich hatte sie sich auch schon gefragt, warum Juang sie noch nicht rausgeschmissen hatte. Ihre Finger in der Hosentasche – als einzige Frau im ganzen Dorf trug sie Hosen – erspürten die Bruchstücke des Rings, und sie wusste mit einem Mal, was sie wollte: Einen Ring schmieden. So einen Ring, den perfekten Ring!
Juang bedachte Sunyu mit einem strafenden Blick und wandte sich Tindra zu. „Mach dir keine Gedanken deswegen, seine Nägel sind auch nicht perfekt!“
Schwer seufzte sie. „Aber wenigstens kann man seine gebrauchen.“ Sie drehte sich weg und murmelte: „Ich geh meine Schürze und das Werkzeug holen.“
In der Kammer hinter der Schmiedestube zog sie sich die viel zu grosse, lederne Schürze über und band die Bänder hinter ihrem Rücken zusammen. Noch einmal griff sie nach einem Stück des Rings und betrachtete das vollkommene Stück Metall. Niemals würde sie diese Kunstfertigkeit erreichen in ihren Werken. Nicht mal einen halbwegs brauchbaren Nagel brachte sie zustande!!
„Möchtest du so etwas schmieden?“, fragte die tiefe Stimme ihres Meisters hinter ihr. Erschrocken fuhr sie herum und wollte etwas erwidern, doch verdutzt blieb ihr der Mund offen. Juang schmunzelte. „Tindra, auch wenn du zäher bist als mancher Mann und keine der Frauen im Dorf dich in ihrer Nähstube sehen will, du bist trotz allem eine Frau, und Frauen mögen Schmuck besser als Nägel. Ich wartete schon lange, dass du das einsiehst. Wenn man etwas erschaffen möchte, muss man das Endprodukt auch mögen, nicht nur das Schmieden an sich. Stell dir vor, ein Maler würde ein Bild nicht mögen, das er zu malen gedenkt. Oder eine Näherin, die lieber hübsche Kleider macht anstatt Arbeitskittel; Welche Qualität würde sie mit ihren Textilien erreichen?“ Er legte ihr die Hand auf die Schulter und schob sie in Richtung Tür. „Und bevor du Sunyu wieder unter die Augen trittst, hebst du gefälligst deinen Kopf. Du bist nicht schlechter als er, nur anders. Wenn du kein Talent zur Schmiedin besässest, glaubst du, ich hätte dich eingestellt?“
Im Schmiederaum heizte Sunyu dem Feuer kräftig ein, Schweisstropfen rannen von seinem Gesicht. „Komm zu uns, Sunyu.“, verlangte Juang und wartete, bis auch sein zweiter Lehrling bei ihnen war. „Ich habe mich anders entschieden, ihr versucht heute einen Ring zu schmieden. Ich habe noch mit einer Axt zu tun, das dürfte mich mehr als den Morgen kosten, weshalb ich euch nicht helfen kann.“
„Einen Ring!?“, fragte Tindra’s Mitschüler. „Wer braucht denn schon einen Ring?“
Der Lehrmeister ging nicht auf seinen Protest ein, stattdessen erlaubte er ihnen noch, alle Metalle zu brauchen, die sie wollten, aber riet auch davon ab, zu viel einzuschmelzen. Danach verschwand er in die zweite Schmiedestube.
Tindra sah ihm verzweifelt hinterher. Wie um Himmels Willen sollte sie einen Ring schmieden, wenn sie keinen Nagel zu Stande brachte? Sie nahm nur am Rande wahr, wie Sunyu sich schon seine Metalle holte und mit der Arbeit begann. Offenbar hatte er sich schnell für Materialien und Sujet entschlossen, eine Entscheidung, die ihr wesentlich schwerer fiel.
Doch endlich holte auch sie etwas Bronze und Gold vom Vorrat, erhitzte die Metalle, zog sie zu feinen Strängen, verwob und entwirrte sie wieder, versuchte eine andere Anordnung der Fäden und seufzte hin und wieder, wenn sich das perfekte Bild in ihrem Kopf unglaublich deutlich abbildete, es aber in der Realität bei weitem nicht danach aussah. Sie merkte auch nicht, wie Sunyu mit seinem Ring bald fertig war und den Raum verliess, oder wie ihr Magen knurrte und wie sehr sie schwitzte.
Erst spät am Nachmittag sah sie von ihrer Arbeit auf und verliess die heisse Schmiedewerkstatt, um ein wenig frische Luft zu schnappen und Wasser zu trinken. Ihre Kehle brannte und die aufgesprengten Lippen schmerzten, doch sie kam endlich vorwärts. Ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht.
„Kommst du vorwärts?“, fragte Juang neugierig, als auch er eine Pause einlegte und sich neben ihr auf den Boden nieder liess. Die Pause tat ihnen beiden gut, und ein schwacher Wind kühlte ihre erhitzten Gesichter.
„Ja, eigentlich schon. Es macht Spass einen Ring zu schmieden. Man kann so viel von sich selbst einbringen und jeder Ring, der je geschmiedet wurde, ist ein Einzelstück. Jedenfalls die richtig schönen.“
Aufmerksam betrachtete ihr Meister sie. „Ist deiner denn ein richtig schöner?“
Sie wandte den Kopf und sah ihm in die Augen. „Er wird es noch.“
Juang lachte leise in sich hinein. „Jetzt habe ich endlich wieder die Schmiedin gesehen, die vor einem halben Jahr angefragt hat, ob sie hier ihre Lehre machen könnte. Sunyu… Ich weiss nicht, weshalb er Schmied werden will, aber er ist sicherlich begabt und schnell. Heute Morgen hat er einen Nasenring für seinen Stier geschmiedet und gesagt, den könne er für ihn brauchen, wenn das Kalb dann endlich einmal gross genug sei.“
Auch wenn sie ihren Mitschüler nicht leiden konnte, konnte sie sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Einfallsreich war er, das musste man ihm lassen.
„Weisst du, eigentlich mag er dich schon leiden, doch sein Stolz verbietet es, dich als Frau anzuerkennen.“
Sie schüttelte verständnislos den Kopf, erwiderte aber nichts mehr. Was änderte es, wenn Sunyu sie leiden konnte, aber nie nett zu ihr war? Wortlos stand sie auf und machte sich wieder an die Arbeit. Schon bald würde ihr Ring fertig sein, und sie hatte ein gutes Gefühl dabei, ein Gefühl, welches sie gedacht hätte, dass jeder Schmied bei all seinen Arbeiten hätte: Stolz und Freude und Genugtuung. Die Sicherheit, etwas ganz Tolles zu erschaffen. Nun ja, vermutlich funktionierte das bei ihr nicht mit Nägeln.

Die Sonne stand schon tief am Horizont und malte lange Schatten auf die Felder und Strassen, als sie endlich mit ihrem Ring aus der Werkstatt trat. Dieser Tag hatte richtig Spass gemacht. Nun hatte sie in der einen Hosentasche den kaputten, in der anderen den selbst gemachten Ring. Sie lächelte. Gedankenverloren wandte sie sich der Strasse zu, aber Juang hielt sie noch auf: „Darf ich deinen Ring sehen?“
„Ja, aber natürlich!“, antwortete sie und zeigte ihm ihr Werk. In seinen grossen, schwieligen Händen wirkte der Ring klein und zerbrechlich. Lange betrachtete der Lehrmeister den Ring und drehte und wendete ihn immer und immer wieder.
„Ich weiss nicht so recht, was ich jetzt sagen soll.“, begann er, während er ihr den Ring zurück gab. „Das ist viel mehr als ich mir in meinen kühnsten Träumen je gewünscht habe. Bis zum heutigen Tag wusste ich nicht, dass man Schmiedekunst so perfektionieren kann. Und dieses Muster ist wirklich einmalig! Die feinen Stränge sind so ineinander verwoben, dass jeder einzelne einen eigenen Ring bildet, aber wenn man ihm zu folgen versucht, verliert man sich, und dennoch ist es kein undurchdringbares Chaos. Ich weiss wirklich nicht, was ich sagen soll…“ Tindra wandte den Blick scheu zu Boden. Nie hätte sie gedacht, von ihrem Meister ein solches Lob zu hören. Natürlich gefiel ihr der Ring, aber sie hatte vielleicht ein Lächeln erwartet, maximal ein „gut gemacht“. Aber nicht das. „Kannst du den Ring morgen noch einmal mitnehmen? Ich möchte ihn gerne Sunyu zeigen. Er soll auch einmal ein gut geschmiedetes Schmuckstück sehen.“
„Ja, natürlich.“, antwortete sie leise. So viel Lob war ihr ein wenig unheimlich.

„Enginn, wo ist Elding?“, verlangte der König mit harter Stimme zu wissen. Die kniende Gestalt vor ihm zitterte am ganzen Körper, als ob er sich vor der Strafe seines Gebieters fürchtete. Doch jeder, der ihn kannte, wusste, dass er sich mehr Sorgen um seinen Schützling machte als um sich selbst. Sein brauner, zerfetzter Umhang und die ausgetragenen Schuhe wollten nicht so recht in die Runde fein gekleideter Herren und herausgeputzter Damen passen.
Der König beugte sein Gesicht zum alten Mann hinunter und zischte: „Und vor allem: Wo ist der Ring?“
„Ich weiss es nicht, mein Herr!“, rief Enginn verzweifelt. „Was soll ich denn noch sagen, damit mir hier irgendjemand Glauben schenkt? Ich bin nur ein armer, alter Mann, der Ringe erspüren kann. Und Elding ist mein einziger Freund, einer, dem es gegeben ist, in der Dämmerung zu wandeln. Wir sind Eure treuesten Ergebenen und wollen unsere Heimat schützen und die Menschen, die wir lieben und die uns teuer sind oder waren. Wir würden Euch nie betrügen!“
Der König machte ein Zeichen mit der Hand und sofort traten zwei vollkommen gepanzerte Wachen nach vorne. Wortlos fassten sie den alten Mann an den Armen und führten ihn ab. „So sehr fürchtet Ihr Euch also vor den anderen, dass Ihr Euren eigenen Verbündeten nicht mehr über den Weg traut.“, murmelte Enginn bloss noch, ehe er sich widerstandslos aus dem Raum geleiten liess. Er wusste, dass er die Sonne in der Zelle vermissen würde, seinen Tee und die Vögel im Wald.

Tindra lag müde in ihrem Bett und drehte ihren Ring zwischen den Fingern. Gedankenverloren betrachtete sie ihn und verlor sich in seinen Windungen. Jetzt schien es ihr unbegreiflich, wie sie diesen Ring hatte schmieden können. Vorsichtig probierte sie ihn an, drehte ihre Hand und bewunderte das Glitzern und Glänzen. Er gefiel ihr wirklich. Im Hintergrund huschte ein Schatten vorbei. Verwirrt hob sie den Kopf, entdeckte jedoch nichts Ungewöhnliches und sah den Ring mit einem glücklichen Lächeln an bevor sie ihn wieder weglegte.
Erschrocken fuhr sie hoch, als sie sich plötzlich an den Tanzabend erinnerte, der heute Abend stattfinden sollte im Dorf unten. Liang würde da sicher auch teilnehmen! Sie musste es einfach versuchen! Wenn sie noch lange wartete, vielleicht schnappte sich dann ein anderes Mädchen ihn ihr vor der Nase weg. Vor der Kleidertruhe kniend hielt sie inne und murmelte spöttisch: „Na klar, vor der Nase! Er wird nie vor meiner Nase sein!“ Dennoch wühlte sie in ihren Hosen und Hemden rum, doch nichts schien für ein festliches, anziehendes Äusseres geeignet. Seufzend schloss sie den schweren Deckel wieder und rannte die steile Treppe ins Erdgeschoss hinunter.
„Wie oft soll ich dir denn noch sagen, dass es gefährlich ist, die Treppe hinunter zu rennen?“, tadelte ihre Mutter sie ungeduldig. „Du machst das immer, mein Kind!“
„Ja, kommt nicht wieder vor!“, versprach sie wenig überzeugend, „Wo ist denn Reina?“ Reina war ihre um drei Jahre ältere Schwester, die mit ihrem Mann im Nachbarhaus wohnte, aber regelmässig am Abend zu ihnen kam, um beim Feuer zusammen zu sitzen und Kaffee zu trinken. „Ich brauche ihre Hilfe. Heute ist doch das Fest im Dorf und ich würde da gerne hin, aber ich habe kein Kleid und ich will mich doch auch einmal herausputzen und da dachte ich, dass sie…“
„Atme bitte einmal.“, meinte ihre Oma trocken, ohne von ihrer Strickarbeit hochzusehen. „Und ich bin auch nicht mehr so flink im Kopf, also bitte ein bisschen langsamer.“
Verblüfft starrte Tindra ihre Oma an, bevor sie zeitgleich mit ihrer Mutter loslachte. Mit einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen machte sie sich auf den Weg zum Haus ihrer Schwester und fand sie im Garten arbeitend. „Hallo Reina! Du arbeitest aber noch spät.“
„Oh, Tindra. Hallo.“ Sie legte ihre Hake weg und kam an den Zaun. „Mein Mann hat einiges an Arbeit unten im Dorf für das Fest. Sobald ich hier fertig bin, geh ich nach und wir geniessen den Abend.“ Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die an der verschwitzten Haut klebte. „Und wenn ich die Panik in deinen Augen richtig deute, dann kommst du genau deswegen her.“ Sie lachte los, als sie Tindra’s verblüfften Ausdruck sah, und folgerte: „Hab ich’s doch gewusst! Komm mit rein.“
Mit einem tollen Kleid, passendem Umhang und Make-up im Gesicht trat sie nach geraumer Zeit aus dem Haus ihrer Schwester. Reina hatte ganze Arbeit geleistet, sogar die Haare hatte sie ihr in einer neuen Weise arrangiert, so dass ihre Haarpracht zu einem grossen Teil offen war, aber doch nicht langweilig schien. Selbst Blumen hatte sie aus dem Garten mitgenommen und mit eingewoben! Tindra suchte sich ihre besten Schuhe aus dem Gestell. Kurz darauf traf sie ihre Schwester und gemeinsam spazierten sie zum Dorf.
Tindra setzte sich zu ihren ehemaligen Klassenkameradinnen, die daraufhin in ihrem Gespräch inne hielten, dann aber aufgeschlossen mit ihr zu sprechen begannen. Das hätte sie nie erwartet! Vor allem nicht, da Sunyu sicherlich Schlechtes über sie erzählt hatte. Er hatte sehr gute Kontakte zu den Mädchen hier, das wusste sie noch aus der Schule. „Und, wie ist die Lehre bei Meister Juang so? Und wie macht sich Sunyu?“, fragte die Erste.
Eine andere schwärmte: „Ach, wenn ich gewusst hätte, dass auch Mädchen eine Lehre als Schmied machen können, dann würde ich nur Sunyus wegen die ganzen Strapazen auf mich nehmen!“ Spätestens jetzt wusste Tindra, dass sie plötzlich so interessant war, weil Sunyu mit ihr arbeitete. Trotzdem war sie froh um die Gesellschaft und Aufmerksamkeit, auch wenn sie nicht in erster Linie ihr galt. Sie sass nicht alleine an einem Tisch.
„Ja, und ist euch aufgefallen, dass Juang Fremde zu mögen scheint? Immerhin hat er Sunyu und Tindra als Lehrlinge aufgenommen!“
Verdutzt starrte Tindra die dritte Sprecherin an. „Sunyu ist auch nicht hier geboren?“
Jetzt lachten die Mädchen um sie herum. Na klar, kein Eingeborener von hier hatte so braune Haare mit einem Stich ins Rote wie er! Aber aufgefallen war ihr das noch nie, denn dort wo sie herkam gab es kaum dunkelhaarige Leute, deshalb schienen ihr alle dunklen Haare zu ähnlich. Nur die haselnussbraunen Augen waren ihr aufgefallen, die auch so viel heller waren als die der Leute aus der Region.
„Hey, Tindra, möchtest du mit mir tanzen?“ Erschrocken drehte sie sich um und erblickte Liang hinter sich. Inzwischen hatte sich die Dunkelheit definitiv über das Dorf gesenkt und nur noch die Feuer überall auf dem Dorfplatz tauchten den Platz in warmes Licht. Viele Paare tanzten schon auf der Bühne, so dass man von aussen kaum mehr ausmachen konnte, wer da mit wem tanzte.
Dennoch konnte Tindra nicht gleich antworten. Eigentlich hatte sie gedacht, sie müsse ihn auffordern, auch wenn sich das natürlich nicht für ein Mädchen geziemte. Aber es ziemte sich auch nicht, eine Lehre als Schmiedin zu machen. Und dass sie die Lehre durchziehen würde, davon war sie nach dieser Woche überzeugt. Inzwischen fertigte sie sogar gute Nägel an, nachdem sie den Ring mitten in der Woche hergezaubert hatte. „Ja… Ja, gerne.“, stotterte sie und erhob sich. Ihre Kameradinnen warfen ihr aufmunternde Blicke zu, vertieften sich aber gleich wieder in ein eigenes Gespräch.
Liang führte sie auf die Tanzfläche. „Ich bin kein guter Tänzer.“, gab er mit einem scheuen Lächeln zu, aber ohne ein Zögern begann er mit den Schritten und wartete geduldig, bis sie ihm folgen konnte.
Vorsichtig, damit sie auch ja nicht aus dem Takt fiel, erwiderte sie: „Ich auch nicht. Aber die Tänze hier sind mir auch fremd. Na ja, ich konnte ja auch nicht damit rechnen, dass tatsächlich jemand mit mir tanzen will.“, meinte sie ein wenig bitter.
„Wieso denn nicht? Dabei siehst du doch so hübsch aus heute.“ Vor Überraschung fiel Tindra aus dem Takt. Liang schaute kurz weg, bevor er ihr wieder in die Augen blickte. „Entschuldige. Ich hätte das nicht sagen sollen.“ Nervös atmete er ein, tanzte aber sicher weiter.
„Nein, nein, ist schon in Ordnung…“, stotterte sie vor sich hin, während sie sich weiter auf den Tanz zu konzentrieren versuchte, doch seine wunderschönen Augen gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf. Unentwegt blickte er sie an, und seine warme Hand an ihrem Rücken führte sie sicher über die Tanzfläche. Sie wusste nicht, wohin sie schauen sollte. Wenn sie ihn ansah, würde er sicher in ihren Augen lesen können, und dann würde er abhauen und sie für alle Zeiten hassen.
Er lächelte dankbar. „Du bist so grossartig, ich beneide den Mann, der dich eines Tages seine Frau nennen darf!“
Tindra schluckte heftig, immer nervöser. Was sollte das bloss? „Entschuldige, ich bin mir so etwas nicht gewohnt…“, wehrte sie sich schwach. Wieso hatte sie das gleich noch mal gesagt? Weil sie zu ehrlich war? Gerade in diesem Moment hätte sie erklären können, wie beliebt sie eigentlich war, und dass so viele Männer sie gerne hätten! Dann hätte er vielleicht endlich was unternommen. Vielleicht hätte er dann gemerkt, dass er sie mochte.
„Gibt es denn keinen Mann, der dich mag?“, fragte er vorsichtig. Beschämt schüttelte sie den Kopf und blickte auf ihre tanzenden Füsse. Doch Liang hörte auf zu tanzen. Nur ihre Hand hielt er weiter fest. „Komm bitte mit.“, forderte er leise, auch ein wenig nervös. „Was ich dir zu erzählen habe, gehört nicht hierher, wo so viele Leute zuhören können.“
Erst als das Licht der Feuer sie kaum mehr erreichte und sicher niemand sie mehr hören oder sehen konnte im Wald blieb Liang stehen und drehte sich zu ihr um. „Ich mag dich, Tindra.“ Gespannt wartete er ihre Reaktion ab, und als er nach der anfänglichen Verwirrung ein erfreutes Lächeln erblickte, wurde er mutiger und zog sie näher zu sich heran. „Ich glaube, ich habe mich in dich verliebt.“ Seine Arme umarmten sie nun sanft und gleichzeitig beschützend. Langsam näherte sich sein Gesicht ihrem, doch kurz bevor er sie küsste, hielt er inne. „Hast du einen anderen Mann, den du magst?“
Sie schüttelte bloss den Kopf und wartete auf den Kuss. „Ich mag dich auch.“, antwortete sie klarer auf seine indirekte Frage, als er nach einem stürmischen Kuss inne hielt. Ihr Herz pochte wild, ihr Kopf drehte sich im Kreis und sie war einfach überglücklich. Auch als er sie an einen Baum drückte, wehrte sie sich nicht. Sie hatte keine Angst, er mochte sie ja auch. Er würde ihr nicht weh tun.
Seine Hände schoben ihr Kleid hoch und er presste sich verlangend an sie, während er den Gurt an seiner Hose lockerte. „Nein.“, sagte sie verängstigt. „Ich will das nicht!“ Stocksteif stand sie vor Schock reglos da. Auch mit Gegenwehr erreichte sie nicht das Geringste, denn auch nach monatelanger harter Arbeit kam sie nicht gegen seine männliche Kraft an.
„Ach, komm schon.“, raunte er heiser, und sie konnte seinen vom Alkohol schweren Atem riechen. „Du magst mich doch auch. Das macht man eben, wenn man sich mag.“
Sie versuchte, ihn von sich wegzudrücken, aber ohne Erfolg. Tränen stiegen ihr in die Augen, Tränen der Angst und Verzweiflung. „Geh weg, ich will das nicht!“ Doch anstatt dass er sich von ihr löste, glitt er mit der einen Hand zwischen ihre Beine, während er sich mit der anderen an ihr festhielt. „Lass mich los!!“, schrie sie aus Leibeskräften. „Hilfe!“
„Verdammtes Arschloch, lass sie los!“ Sunyu! Diese Stimme kannte sie nur zu gut, doch noch nie war sie so froh gewesen, sie zu hören. Liang schrie auf vor Schmerz, als ihn ein Faustschlag von der Seite her traf, und seine Hände liessen ab von ihr. Sofort folgte ein zweiter Schlag direkt ins Gesicht. Ihr Retter stürzte sich auf Liang und drosch erbarmungslos auf ihn ein. „Du mieser Lüstling! Idiot! Verdammtes Arschloch, das vergesse ich dir nie!“, schrie Sunyu wütend. Liang wehrte sich zwar, doch es dauerte lange, bis er sich befreien konnte und im Wald verschwand. Schwer atmend blieb Sunyu am Boden knien.
„Danke.“, murmelte Tindra. Nur langsam erwachte sie aus ihrem Schockzustand.
Sunyu wandte ihr den Kopf zu. „Keine Ursache.“ Er stand auf und humpelte auf sie zu. Aus sicherer Entfernung hielt er ihren Umhang hin, ohne sie allerdings anzusehen.
Schweigend zog sie ihn an. „Hast du dich verletzt?“, fragte sie schüchtern, während sie ihm aus dem Wald folgte.
Er seufzte. „Liang hat mich am Knie erwischt mit einem Stein. Aber das wird schon.“
„Ich dachte immer, ihr zwei wärt beste Freunde.“
Nun seufzte er. „Das waren wir auch bis vorhin. Die anderen Mädchen haben mir davon erzählt, dass er damit geprahlt habe, sich heute mit dir zu amüsieren. Dann habe ich dich gesucht.“ Schweigend liefen sie nebeneinander her. Mit jedem unregelmässigen Schritt Sunyus stiegen in Tindra stärkere Schuldgefühle auf. Ab und zu wandte sie ihm einen besorgten Blick zu, doch er sah bloss geradeaus und suchte sich den einfachsten Weg. Schon bald erreichten sie den Waldrand, von wo aus sie den Dorfplatz mit der Tanzfläche sehen konnten, und Tindra blieb erschrocken stehen.
„Ich kann da nicht mehr hin!“, sagte sie etwas zu laut. Sie fühlte die Panik in ihr, und wollte schon wieder umkehren, als Sunyus starke Hand nach ihrem Handgelenk griff. Überrascht hielt sie inne und blickte ihm in die Augen. Zum ersten Mal sah sie dort keinen Spott und keinen Hohn, keine Ablehnung. Zum ersten Mal war da etwas wie… Zuneigung? Völlig gebannt konnte sie den Blick nicht von seinen Augen wenden, von den einzigartigen Haselnussaugen.
Er war es, der den Augenkontakt unterbrach. „Ich bringe dich nach Hause.“ Ohne ein weiteres Wort trat er näher und hob die Hand. Steif blieb Tindra stehen. Was, wenn Sunyu genau dasselbe mit ihr anstellen wollte wie Liang? Doch ehe sie es sich versah, hatte er eine Blume in ihrem Haar gerichtet und nickte ihr aufmunternd zu. „Jetzt können wir gehen.“
„Warte!“, rief sie, „Du bist verletzt! Du kannst mich nicht nach Hause begleiten. Das ist viel zu weit.“
Brummelnd wischte er ihre Bedenken beiseite: „Ach was! Das ist nichts.“ Er schlug eine Richtung ein, die sie um den Platz herum führen würde, doch sobald er merkte, dass sie abermals protestieren wollte, drehte er sich um und erwiderte ihren Blick fest. „Ich lasse dich nicht alleine nach Hause gehen! Entweder wirst du bei mir übernachten oder du erlaubst mir, dich nach Hause zu begleiten.“, drohte er an, und so wie er es sagte, glaubte sie ihm aufs Wort.
„Aber du sagst mir, was du als Dank dafür willst.“, lenkte sie schliesslich noch etwas widerwillig ein, aber der Gedanke, dass Sunyu, der ihr nie im Leben etwas Derartiges antun würde, sie nach Hause geleitete, beruhigte sie auf wundersame Weise. Er hatte ihr bei jeder Gelegenheit weh getan und verletzt, aber dies auf eine verkraftbare Art und Weise.
Er lachte leise auf. „Ein andermal vielleicht.“
Sie warf ihm einen fragenden Blick zu, aber er humpelte nur schweigend weiter. „Wieso nicht jetzt?“
Nun erwiderte er den Augenkontakt. „Weil ich heute über den Durst getrunken habe und es deshalb etwas wäre, was du mir nicht geben könntest.“ Zwar lächelte er, doch Tindra konnte die Traurigkeit dahinter spüren. Sie wandte sich wieder dem staubigen Weg vor ihr zu. Der Dorfrand lag nur noch wenige Meter vor ihnen, doch den Dorfplatz hatten sie weiträumig umgangen. Trotzdem hörten sie den ein oder anderen schon nach Hause gehen, auch wenn das Fest noch in vollem Gange war. Doch hatte man zu viel getrunken oder wollte man seine Angebetete nach Hause nehmen bevor ein anderer das tat, musste man eben schnell zur Tat schreiten. „Deinen Ring fand ich übrigens sehr schön. Ich gebe zu, so etwas hätte ich nicht zu Stande gebracht.“, begann er nach einer langen Zeit des Schweigens.
„Danke.“ Was passierte an diesem Abend denn noch alles, was sie verblüffte? Konnte sie nicht einfach normal auf eine Frage antworten, wie komisch die auch immer war? „Deiner war… einfallsreich.“ Sie lachte. „Ich wusste gar nicht, dass du nicht hier geboren wurdest.“, wechselte sie das Thema. Wenn zu viel von ihr gesprochen wurde, fühlte sie sich unwohl.
Er zuckte mit der Schulter. „Entweder schien ich zu wenig interessant oder es war einfach nicht wichtig.“, meinte er beiläufig.
Aufgeheitert schmunzelte sie. „Es würde sich für mich und für dich besser anhören, wenn du sagen würdest, dass es zu wenig interessant war, und nicht dass du zu wenig interessant warst.“, erwiderte sie. Unterdessen hatten sie das Dorf hinter sich gelassen und schlenderten nun den dunklen Weg zu ihrem Haus hoch. Schweigen hatte sich über sie gelegt. „Tut mir Leid, dass ich mich nicht früher erkundigt habe. So macht es gleich den Anschein, dass ich überhaupt nicht hierher gehören will. Doch…“, sie machte eine kurze Pause. Aus der beinahe noch belanglosen Unterhaltung wurde plötzlich ein ernstes Gespräch. „Doch es war einfach so schwer, als ich hierher kam. Eine völlig neue Umgebung, keine Freunde oder Verwandte, und dann auch noch diese Hitze im Sommer. Ich vermisste das Grün so sehr, die weiten Wiesen mit den vielen Blumen. Aber natürlich auch meine Freunde. Ich kam hierher und mir war alles fremd und ich war euch fremd. Vielleicht, wenn ich aufgeschlossener wäre und besser auf Leute zugehen könnte, würde ich leichter Anschluss finden. Aber es ist so schwer, im letzten halben Jahr in eine neue Klasse zu kommen, die seit Jahren ihre Grüppchen hat!“ Ein weiteres Mal holte sie Luft. „Ich kam mir so ausgeschlossen vor.“
Geduldig hatte er ihr zugehört. „Ich weiss genau, wie du dich fühlst. Aber mit der Zeit wirst du uns nicht mehr so fremd sein und wir dir auch ein wenig bekannter. Vielleicht, wenn du einmal weg ziehst und Karriere als Schmuckschmiedin in einer grossen Stadt machst, vielleicht denkst du dann wieder an diese Zeit zurück und denkst dir, dass du hier ja gar nicht mehr so fremd warst.“
Sie lächelte. „Ich wollte nur sagen, dass es mir Leid tut und ich schuld bin und nicht du oder die anderen.“
„Hör auf, dir selbst immer die Schuld für alles zu geben!“, erwiderte er ein wenig aufbrausend. „Auch für… für das vorhin… mit Liang, du bist nicht schuld! Er ist einfach ein lustgeiles Arschloch, das alles machen würde, um es mit einer Frau treiben zu können.“
Sie wollte etwas sagen, konnte es aber nicht. Es tat einfach zu weh, das was ihr ihre erste Liebe fast angetan hätte! Bisher hatte sie es erfolgreich geschafft, nicht daran zu denken. Doch nun traten ihr Tränen in die Augen und sie wünschte sich, schon zu Hause zu sein. Allein in ihrem Bett, dann müsste sie sich auch nicht vor Sunyu schämen, der sie vor dem Allerschlimmsten bewahrt hatte und sie verletzt noch nach Hause brachte. Noch dazu lernte sie Schmiedin, da konnte sie nicht flennen wie die anderen Frauen!
„Ich jedenfalls bin froh, ist dir nicht mehr passiert.“
Sie hielt an. „Nicht mehr passiert!?“, fragte sie heiser. Ungeduldig wischte sie eine Träne weg. Wütend wie sie jetzt gerade war, pfiff sie auf ihren Stolz. „Weisst du eigentlich, was das für ein Gefühl ist, wenn jemand, den man so mag, ausgebeutet wird? Hast du auch nur die geringste Ahnung, was mir tatsächlich alles passiert ist? Wie, denkst du, werde ich mich in Zukunft anderen Männern gegenüber verhalten? Wie soll ich einem Mann je wieder vertrauen? Ich kann doch nicht zwischen einem falschen und einem ehrlichen „du bist hübsch“ unterscheiden. Mann, ich habe geglaubt, er mag mich auch, und dann will er nur ins Bett mit mir! Ich war so naiv! Wenn ich doch nur mehr Erfahrung mit Männern gemacht hätte, dann wäre das nicht passiert! Wenn ich das doch einfach vergessen könnte. Ich möchte nicht alleine sein im Dunkeln, weil ich dann nur wieder daran denke und nicht einschlafen kann.“
Lange betrachtete er sie. „Du weisst aber schon, dass weit mehr hätte passieren können?“
„Du weisst aber auch, dass ich nicht daran denken will, oder?“, schluchzte sie. „Ich hatte solche Angst!“ Er schluckte seinen nächsten Kommentar runter und trat einen Schritt auf sie zu. Noch bevor er etwas sagen konnte, nahm sie die letzten beiden Schritte und lehnte sich vorsichtig an ihn. „Kannst du mich bitte einfach halten und ein bisschen trösten?“ Wortlos legte er die Arme um ihren zuckenden Körper, streichelte vorsichtig ihr Haar, wiegte sie leicht hin und her und wartete geduldig, bis ihr Tränenstrom versiegte.
„Weisst du, wenn ich es könnte, ich würde dir viel mehr helfen! Aber ich kann nicht, ich kann einfach nicht.“, murmelte er leise an ihrem Ohr.
Tindra löste sich von ihm und lächelte. Ihre Augen waren rot und das Gesicht aufgeschwollen, doch sie lächelte. „Du hast mich über eure Freundschaft gestellt. Heute Mittag hätte ich noch gedacht, dass das nie jemand für mich tun würde. Und jetzt hast du deinen besten Freund verprügelt wegen mir, auch wenn du mich nicht leiden kannst. Du hast mir mehr geholfen als ich erwarten konnte.“
„Das stimmt nicht.“ Noch immer sprach er sehr leise, fast nur ein trauriges Flüstern brachte er über die Lippen.
Verwirrt sah sie ihn an. „Doch, du hast mir sehr geholfen!“
„Es stimmt nicht, dass ich dich nicht leiden kann.“ Als sie Luft für eine Antwort holen wollte, meinte er: „Komm, ich bring dich noch bis vor die Haustür, und dann geh ich auch nach Hause. Ich werde langsam müde.“ Jetzt sprach er wieder ganz normal und auch seine ihr gegenüber eher ablehnende Haltung hatte er wieder angenommen. Ganz wie sie ihn kannte.
Vor der Haustüre suchte Tindra ihre Schlüssel aus der Tasche und wandte sich dann noch einmal zu Sunyu um. „Na, dann danke noch einmal für alles. Komm gut nach Hause und schone dein Knie.“, verabschiedete sie sich freundlich. „Bis Montag!“
„Bis Montag.“ Tindra drehte sich um, um die Tür aufzuschliessen und endlich schlafen zu gehen. Sie hoffte bloss, sie war müde genug, um sofort einschlafen zu können! „Tindra!“ Abermals wandte sie sich wieder Sunyu zu und erschrak, als sie ihn ihr so nahe entdeckte.
„Sunyu!“
Offenbar hatte er ihre Verunsicherung bemerkt, denn er trat einen Schritt zurück und vergrub die Hände in den Hosentaschen. „Tindra, wenn ich das jetzt nicht mache, dann mache ich das nie. Ich werde nicht so schnell wieder mit dir alleine sein und genug getrunken haben, dass ich dir das sagen werde.“ Er holte tief Luft. „Es hat ja auch schon fast ein Jahr gedauert bis ich es einmal geschafft habe. Aber lassen wir das beiseite, kommen wir zur Sache.“ Sie hatte ihre liebe Müh und Not, ihn zu verstehen, weil er so schnell und leise sprach. Doch er hob den Blick wieder und wich ihrem nun nicht mehr aus. „Tindra, ich mag dich. Und deshalb, falls es nicht zu viel verlangt ist, möchte ich einen Kuss für die heutige Rettung.“ Als er bemerkte, wie sie zögerte, fügte er schnell hinzu: „Ich werde dich auch nicht berühren, du kannst entscheiden, wie und wie lange und was auch immer und…“ Verzweifelt und traurig hielt er inne. „Einer auf die Wange ist auch in Ordnung. Ich halte einfach die Augen geschlossen. Wenn ich meine Augen wieder öffne und du bist nicht mehr da, gebe ich auf. Ich weiss, dass du seit einem Jahr nur an Liang denkst, und jetzt wirst du noch mehr an ihn denken, wenn auch auf eine andere Art und Weise. Wenn ich also keine Chance habe, einmal ganz allein in deinen Gedanken und in deinem Herzen zu sein, dann geh einfach und lass den Kuss bleiben. Aber falls auch nur ein kleiner Funke in dir sagt, doch der könnte es sein, der könnte eines Tages der Mann sein, den ich lieben möchte und von dem ich geliebt werden möchte, dann gib mir ein Zeichen. Ich werde es auch nicht überbewerten, nachdem was du alles erlebt hast, aber ich möchte einfach wissen… ich möchte einfach wissen, ob du jemals für mich erreichbar bist.“ Erschrocken blickte sie in seine unglücklich schauenden Augen, die aber trotz all der Qual den Kontakt mit den ihren nicht aufgaben. „Ich werde dich nicht an die Wand drücken, ich werde dich noch nicht mal an der Schulter berühren, ich…“
„Schliess die Augen.“
„… werde alles unterlassen, was dir weh tun… Was?“
„Du hast gesagt, du würdest die Augen schliessen, und ich bestehe darauf.“, antwortete sie ruhig.
„Ach so… Ja, klar.“ Er schluckte noch einmal schwer, tat dann aber wie geheissen.
Tindra holte ebenfalls tief Luft und trat auf ihn zu. Er war zu gross! Kurzentschlossen fasste sie vorsichtig nach seinem Gesicht, spürte die kurzen Bartstoppeln unter ihren Händen und stellte sich auf die Zehenspitzen, während er sich ein wenig zu ihr runter beugte und ihr die rechte Wange zudrehte. Sie lächelte. Sie wollte mehr als die Wange.
Der Kuss war zärtlicher als der von Liang, auch unsicherer, weniger überraschend – jedenfalls für sie – aber er bedeutete ihr mehr. Sunyu hielt sein Versprechen, er berührte sie nicht, vielleicht öffnete er nicht einmal die Augen. Und vielleicht gerade deshalb genoss Tindra das Gefühl und hörte lange nicht auf.
Es war schön, Sunyu zu küssen.
„So, jetzt darfst du deine Augen auch wieder öffnen.“, flüsterte sie noch immer nahe an seinem Mund. Doch bald entfernte sie sich ein wenig mehr von ihm. Irgendwo schwang immer noch die Angst mit. Würde sie die je verlieren?
Langsam nur hoben sich seine Lider, doch auf seinem Mund breitete sich ein glückliches Lächeln aus. „Du hast auch so viel aufgegeben heute, da dachte ich, ich überwinde mich und gebe dir das gewünschte. Es hätte nämlich wirklich viel mehr passieren können und…“, versuchte sie, ihre Aktion zu erklären.
Sein Lächeln wurde breiter. „Du musst dich nicht entschuldigen. Wie gesagt, ich sehe das als Dankeschön und nicht als ein Eheversprechen. Trotzdem finde ich es toll.“
Tindra lächelte nun auch. „Wie du schon so schön gesagt hast: So betrunken bist du nicht so schnell wieder allein in meiner Nähe und bittest darum. Und was das andere betrifft… Ich meine, deine Gefühle… Da gebe ich dir bis in einer Woche Antwort. Ich möchte nicht, dass du zu lange auf mich wartest, nur um dann herauszufinden, dass ich dich nicht will. Aber verwöhn mich ein bisschen in der Zwischenzeit, ich habe nichts gegen ein wenig Manipulation. Also, gute Nacht!“

Völlig in Gedanken versunken nahm sie den Heimweg unter die Füsse. Zwar hatte sie heute bloss ausgeholfen in der Werkstatt und selbst nicht viel hergestellt, aber Sunyu hatte gefehlt. Natürlich hatte sie sich vor dem Moment gefürchtet, wenn sie sich wieder begegnen würden, den ersten Augenkontakt, und natürlich hatte sie sich auch gefragt, wie er nun mit ihr umgehen würde. Doch er war einfach nicht erschienen. Vermutlich hing es mit seiner Verletzung am Knie zusammen. Das jedenfalls hatte Juang gesagt. Doch sie wurde das Gefühl nicht los, dass das nicht alles war. Wenn er wirklich wollte nahm Sunyu eine Menge Schmerzen auf sich, nur um zu arbeiten und ihr eins auszuwischen. Was, wenn er sie nun nicht mehr sehen wollte? Oder wenn er sie nicht mehr sehen konnte, weil er sich vielleicht wieder mit Liang versöhnt hatte? Es hätte so viel geschehen können seitdem sie sich vor beinahe drei Tagen zum letzten Mal gesehen hatten!
Auch als sie zu Hause ankam, schlurfte sie in ihr Zimmer und warf sich auf ihr weiches Bett. Doch bald packte sie die Unrast und sie stand wieder auf. Ihr Blick fiel auf den Ring. Sie schob ihn wieder einmal über ihren Finger und verliess das Haus gleich darauf, um ein wenig im angrenzenden Wald spazieren zu gehen. Ab und zu warf sie einen Blick auf den Ring. Er war ihr erstes gepriesenes Werk.
Doch was war das? Ihre Umgebung schien unwirklich verzogen zu sein, und Flächen und Linien verschiedenster Farben schob sich vor das Landschaftsbild und öffnete Kanäle, einige gross, andere klein, die einen fühlten sich freundlich und warm an, ein paar strahlten auch Bedrohung und Gefahr aus. Was war bloss los mit ihr?! Sie hatte vorgehabt, während einem Spaziergang an der frischen Luft ihre Gedanken bezüglich Männer ein wenig zu ordnen, und das einzige, was das brachte, war, dass sie noch verwirrter nach Hause kam! Ein wenig verfluchte sie ihre jetzige Situation.
Vorsichtig suchte sie ihren Weg. Sie kannte ihn ja, und nur weil da jetzt einige Löcher im Farbfilter ihrer Augen erschienen, hiess das noch lange nicht, dass da auch welche waren! Doch als ihr Weg sie genau auf so ein Loch zuführte, zögerte sie einen Moment. Langsam machte sie einen Schritt nach dem anderen, aber sie spürte keine Veränderung und deshalb entspannte sie sich. Unbekümmert spazierte sie weiter und dachte abermals an Sunyus sanfte, zögernde Lippen. Wie gerne würde sie das noch einmal ausprobieren, doch sie wusste genau, dass sie sich noch in einer Phase befand, in der er nur ein Ersatz war, und das wollte sie nicht. Natürlich wollte sie Liang nicht mehr, aber ihr Herz fühlte sich noch nicht in der Lage, sich einer neuen Liebe zu widmen.

Enginn hob den Kopf. Eldings Ring war zurückgekehrt! Jetzt würde sich das Missverständnis sicher klären! Aber da war noch etwas anderes…

Seufzend hob sie den Kopf wieder. Ungläubig betrachtete sie ihre Umgebung, die ihr so fremd war. Wo um Himmels Willen hatte sie die falsche Abzweigung genommen? Und wie lange hatte sie gebraucht, um den bekannten Teil des Waldes zu verlassen? Sie stand auf einer Anhöhe, die zu ihrer Linken nach wenigen Metern abrupt in einer Schlucht verschwand. Der Riss in der Erde zog sich bis zum Horizont hin und nur ein verdorrter Baum thronte als Warnzeichen gleich am Abgrund. Der steinige Untergrund setzte sich auch auf der rechten Seite fort, wie Schnee bedeckten Sand und Kies die schroffen Hügel und Felsformationen. Die wenigen mutigen Grashalme glänzten durch ihr gelblich braunes, unscheinbares Auftreten und liessen die Umgebung noch trostloser erscheinen. Ihr kam die Landschaft verlassen vor, ungeliebt. Nur ein kaum erkennbarer Weg schlängelte sich in den Tälern der Hügel durch das Gebiet, und als Tindra von einem Windstoss erfasst wurde, wusste sie auch, warum die Leute hier die geschützten Mulden bevorzugten. Selbst die eilig über das einsame Stück Land hinweg ziehenden Wolken schienen keinen Gefallen an ihm zu finden und wollten möglichst schnell weg. Ihre Haare peitschten im Wind und verdeckten ihre Sicht, doch noch mehr machte ihr der ihr entgegenfliegende Sand zu schaffen. Eilig machte sie sich an den Abstieg. Da sie keine Ahnung hatte, woher sie gekommen war, entschied sie sich dem Weg zu folgen. Irgendwann musste sie ja auf jemanden oder ein Dorf treffen.
Die Dämmerung schritt schnell voran. Schon bald konnte Tindra ihre Umgebung kaum mehr erkennen, doch irgendwann durchbrachen Huftritte das Pfeifen des Windes, und sie horchte auf. Es dauerte jedoch lange, bis sie endlich zwei hochgewachsene Reiter vor sich in der nebelartigen Landschaft entdeckte. Erleichtert atmete sie einmal tief durch. Sie war gerettet! „Hallo!“, rief sie freundlich. Inzwischen schmerzten ihre Füsse und ihr wurde auch kalt. Hoffentlich kannten die beiden ihr Dorf!
Als die Reiter sie entdeckten, verlangsamten sie und nahmen Lanzen zur Hand. Erst jetzt fiel Tindra auf, dass die beiden in einer glänzenden Rüstung steckten, die jedoch keinen Ton von sich gab, egal wie sehr sie sich bewegten. Was war das für eine Herstellungstechnik? Um ihre Hüften trugen beide einen Ledergürtel, an dem aufwändig verzierte Schwertscheiden hingen. Auch die Schwerter waren aus wertvollem Material geschmiedet, daran zweifelte sie keinen einzigen Augenblick. Doch trotz all der Bewunderung für die Kunstfertigkeit ihrer Schmiede waren die Waffen noch immer auf sie gerichtet. „Ich will euch nichts tun! Ich möchte nur nach dem Weg fragen…“, erklärte sie, doch die beiden Gestalten machten keine Anstalten, ihre Waffen wegzulegen.
„Wer bist du?“, fragte der eine scharf.
„Ich bin Tindra, aber ich möchte doch nur nach Hause.“
„Wie bist du hierher gekommen?“
„Ich bin einfach dem Weg gefolgt, wie immer. Aber das ist ja genau das Komische. Ich geh häufig den Weg entlang, aber noch nie kam ich an einen Ort wie diesen. Ich…“
„Trägst du einen Ring?“
Verwirrt hielt Tindra inne. „Ja. Wieso ist das jetzt von Bedeutung? Ich wollte doch nur nach dem Weg fragen.“
Der Reiter, der nicht gesprochen hatte, stieg von seinem Pferd und kam auf sie zu. Harsch nahm er ihre linke Hand, blickte zum anderen Reiter und schüttelte den Kopf. Im selben Moment spürte sie eine kalte Klinge an ihrem Hals. Was sollte das jetzt plötzlich? „Seid ihr verrückt!? Wenn ich den Ring an der linken Hand tragen würde, würden alle denken, ich sei verheiratet! Wenn ihr also den Ring sehen wollt, dann seht diesen an.“ Sie hob ihre rechte Hand und da glänzte er, ihr Meisterstück.
„Und du hast den wirklich selbst geschmiedet?“ Vorsichtig nickte sie, und das Messer verschwand wieder irgendwo unter dem Gewand des Hochgewachsenen. Dennoch nahm er noch einmal ihre Hand und betrachtete sie auch von der Innenseite. Anerkennend nickte sie.
„Könnte sein.“, bestätigte er, als er ihre Schwielen und kräftigen Finger genauer inspiziert hatte. „Wie war noch gleich dein Name?“
Verdutzt schaute sie ihn an. „Tindra.“
Der Mann nahm den Helm ab und kniete vor ihr nieder, den Kopf nach vorne gebeugt. Fassungslos starrte sie ihn an. Das war ja fast so, als ob sie seine Herrscherin wäre! Doch was sie noch mehr schockte, waren die langen, spitz zulaufenden Ohren und das lange, hellblonde Haar, welches seidig auf seine breiten, dennoch edlen Schultern fiel. Ein Elf?! Auch das Gesicht wies feine, klar definierte Linien auf, die dünne, lange Nase zeugte von Edelmut und schmale, dunkle Augen stachen aus dem ganzen Kunstwerk der Natur hervor. Er war schön. Sofort schüttelte sie den Kopf: Wo bei allen Geistern war sie hier gelandet? „Du brauchst Hilfe, hast du gesagt. Doch die Umstände erlauben es uns nicht, dich nach Hause zu geleiten. Auch den Weg dürfen wir dir nicht verraten. Bitte, folge uns und wir werden zusehen, dass es dir an nichts fehlt.“
„Ich…“, begann sie leise, und warf dem anderen Mann einen fragenden Blick zu. Doch auch seine Waffen hatte er wieder sorgfältig verstaut und lenkte sein Pferd auf sie zu. „Ich möchte doch nur nach Hause.“
Der kniende Elf schaute sie einen Moment traurig an. „So gern wir dir auch deinen Wunsch erfüllen möchten, wir können es nicht.“ Er stand auf und hielt ihr die Hand hin. „Steig auf mein Pferd. Es kann uns beide tragen.“
Erschrocken wich sie ein wenig zurück. „Ich geh lieber zu Fuss!“, stiess sie ängstlich hervor.
Ein Blickkontakt zwischen den beiden Herren genügten, dass der Elf meinte: „Reite du ihn. Ich werde zu Fuss gehen.“ Sein Tonfall liess keinen Zweifel aufkommen, dass er jeglichen Protest ignoriert hätte, weshalb Tindra vorsichtig auf das Pferd zuging und neben ihm stehen blieb. So nah hatte sie noch nie ein Pferd gesehen! Aufgeregt berührte sie das saubere, glatte Fell und bestaunte den Glanz, den es trotz der staubigen Gegend nicht verloren hatte. Dann stieg sie unbeholfen auf, aber als ob der Elf wusste, dass sie es nicht schätzen würde, wenn er ihr half, liess er sie gewähren und hetzte sie auch nicht. Langsam setzten sie sich in Bewegung und zusammen traten sie ihre Reise an.
Der andere Reiter nahm nun auch seinen Helm ab. Abgesehen von einem nur wenig maskulinerem Gesicht und dunkleren Haaren unterschieden sich die beiden kein bisschen. „Ich bin Tallas, und das ist mein Bruder Grennar. Willkommen bei uns.“ Er seufzte, dann lenkte er sein Pferd neben ihres. „Dann wollen wir dir die ganze Geschichte doch einmal näher bringen. Bis wir das Schloss erreichen, haben wir auch noch genügend Zeit.“

„Das hier ist nicht die Welt, wie du sie kennst. Sie besteht für euch aus nichts mehr als aus Ideen, nur einige wenige Menschen können uns sehen, und nur ein winziger Teil davon kann mit uns Verbindung aufnehmen. Manche nennen unseren Lebensraum Geisterwelt, oder die sphärische Natur. Lange Zeit konnte niemand von der einen Welt in die andere Welt reisen, waren doch die Eigenschaften der Körper ungemein verschieden. Diese Ordnung hätte auch bis in alle Ewigkeit weiterbestanden, wenn nicht jemand einen Weg gefunden hätte, die Grenzen zu passieren. Doch seitdem die Ringe existieren und genutzt werden, um andere Völker auszubeuten, ihren Lebensraum zu stehlen, oder auch um bloss andere Völker kennen zu lernen, brach das Chaos hier ein. Einst waren wir einander friedlich gesinnte Völker hier, jeder hatte seinen eigenen Bereich: Die Zwerge kümmerten sich um Steine, den Boden und die Berge, während die Lichtelfen und die Dunkelelfen für Tag und Nacht zuständig waren. Pflanzengeister liessen die Blumen erblühen, und für das Flackern der Flammen sorgten Feuergeister. Zündest du eine Kerze an, wird ein kleiner Feuergeist geboren, doch er stirbt auch wieder, bläst man das Lichtlein aus.
Seit vierhundert Jahren nun existieren Ringe, die es den Trägern erlauben, die einzelnen Wege in die anderen Sphären zu sehen und zu betreten. Geschmiedet wurden sie von einem talentierten Schmied aus den Reihen der Elfen, weshalb wir auch für den nun schon viel zu lange andauernden Krieg verantwortlich gemacht werden. Denn seit wir diese Ringe haben, nutzen wir auch ihre Macht. Wir reisen ins Reich der Zwerge und holen uns dort gute Metalle für unsere Schmiede, oder wir machen einen kurzen Trip zu den Trollen und kundschaften sie aus, ohne dass sie uns bemerken oder aufhalten können. Dasselbe machen die anderen Völker natürlich auch mit uns, und da hier niemand einfach so in ein anderes Reich eindringen darf, führte das zu Spannungen, die schliesslich im Krieg endeten. Die Geister der Natur, vor allem die der Pflanzen und Tiere, werden immer weniger dadurch, und auch unser Leben wird schwerer. Bald gibt es nicht mehr genügend Nahrungsmittel, auch wenn wir bei weitem nicht so viel brauchen wie ihr Menschen das tut. Eure Körper sind sehr viel materieller als unsere, wir können lange bloss von Sonnen- und Mondlicht leben.
Inzwischen haben wir uns an die Existenz der Ringe so gewöhnt, dass sie aus dem Alltag unserer Herrscher nicht mehr wegzudenken sind. Nur ihre Familienangehörigen und die hochrangigsten Spione erhielten die Erlaubnis, einen zu tragen, denn verschenken würde man niemals einen solchen Ring! Der Urmeister der Ringe hatte einige Lehrlinge, die ebenfalls Reiseringe schmieden konnten, doch keiner kam an seine Kunst heran, und die Nachfolger dieser Lehrlinge zeigte wiederum ihr Talent, so dass inzwischen niemand mehr existiert, der einen solchen Ring herstellen kann. Jedes Volk hofft auf ein Wunder, dass einer der ihren einen Reisering herstellen kann, und jedes Volk betreibt schon lange Forschung, doch keines hat es geschafft, das zu ersetzen, was verloren geht.
Seit einigen Jahren hat aber die Herrscherin der Trolle einen Weg gefunden, ihre Armeen in winzigen Augenblicken überallhin zu schicken, wie es ihr gerade beliebt. Wir wissen nicht, wann der nächste Angriff kommen wird, und wenn er kommt, dann kann er direkt auf das Schloss erfolgen. Vielleicht trifft es auch unsere Getreidespeicher. Womöglich werden nur wenige zu den Hauptflüssen geschickt und vergiften sie. Wir wissen es einfach nicht. Und auch unsere Magie hilft hier nicht viel. Trolle sind Wesen des Untergrundes, sie leben in Höhlen und dunklen Gängen, weshalb ihre Augen sehr viel geringer entwickelt sind als unsere, doch dafür arbeiten ihre anderen vier Sinne um einiges besser, was es schwer macht, sie in eine Falle zu locken. Leider sind sie uns auch an körperlicher Stärke und Anzahl überlegen. Wir brauchen wirklich Hilfe.
Die besten Helfer sind Elfen, Zwerge, Menschen oder andere Wesen, die mit Hilfe der Ringe reisen können und gleichzeitig Magie wirken können. Doch von diesen Dämmerlingen gibt es nur sehr wenige, und einen haben wir vermutlich auch verloren, zusammen mit seinem Ring. Sein Ring war einer der mächtigsten, einer geschmiedet von einem direkten Lehrling des Grossmeisters.“
Endlich machte Tallas eine Pause. Tindra konnte weder die Zeit abschätzen, die seit ihrem Zusammentreffen vergangen war, noch die zurückgelegte Strecke. Sie war einfach nur noch müde und wollte nach Hause. Bestimmt machte sich ihre Familie schon die grössten Sorgen!
„Doch jetzt haben nicht nur die Trolle einen Grossmeister in ihren Reihen, nein, jetzt bist du aufgetaucht, Tindra, und wirst uns im Kampf gegen die unheimlichen Wesen beistehen! Es ist der Wille der Götter, der dich zu uns geschickt hat, und wir werden dieses Zeichen nicht ignorieren!“, schloss Tallas, aber als er ihren verwirrten Blick bemerkte, fügte er erklärend hinzu: „Weisst du denn nicht, was es für uns bedeutet, wieder einen Grossmeister zu haben? Jemanden, der die machterfülltesten Ringe schmieden kann? Wenn die Trolle diesen Krieg gewinnen, wird unsere Welt in Chaos und Unheil versinken, und es wird nur eine Frage der Zeit sein bis sie den Weg in eure Welt entdecken. Vielleicht gibt es für sie noch nicht so zahlreiche Ringe besitzen, dass sie eure Welt in Ruhe lassen, oder sie haben noch keinen Weg gefunden. Doch schaffen sie den Durchbruch, ist eure Erde auch nicht mehr sicher! Wenn du uns hilfst, den Krieg zu gewinnen, wird eure Sphäre von Krieg und Elend verschont bleiben!“
„Aber…“, begann Tindra schwach, doch sie war jetzt zu müde, um richtig protestieren zu können. Ihre Augenlider fühlten sich inzwischen nun so schwer an, dass sie fürchtete, nächstens vom Pferd zu fallen. „Aber ich muss vor Wochenende noch einmal zurück, versprochen?“, murmelte sie unverständlich, bevor ihre Müdigkeit sie endgültig übermannte.

Ein ungeduldiges Klopfen riss sie aus ihrem tiefen, traumlosen Schlaf. Die Sonne sandte helle, warme Strahlen ins Zimmer und sie fragte sich einen Moment, wo sie hier war. Und vor allem: Wie war sie hierhergekommen? Sie lag in einem viel zu grossen Bett, das nach Blumen roch und in einem viel zu grossen Raum stand. Die Fenster waren gross und liessen das Licht nur so hinein fluten, welches aber durch halbdurchscheinende Vorhänge etwas gemildert wurde. Der Wind liess den Stoff sachte tanzen.
Wieder hallte das Klopfen durch den Raum und Tindra hiess den Gast, einzutreten. Grennar betrat den Raum, verbeugte sich und wünschte ihr einen guten Morgen. „Der König erwartet dich in einer Stunde. Bis dahin sei es dir gestattet, dich zu waschen und das Schloss anzuschauen. Ich führe dich ein wenig herum. Natürlich werden wir nur einen kleinen Teil zu sehen bekommen, doch ich hoffe, meine Auswahl trifft deinen Geschmack.“ Mit einem Lächeln verbeugte er sich wieder, öffnete die Türe, und zwei kleine, alte Frauen traten ein. Ihre knolligen Nasen stachen Tindra sofort in die Augen, doch auch der kräftige Körperbau, der nicht so recht zu den Runzeln zu passen schien. Eine trug eine grosse Schüssel mit Wasser und ein Tuch über dem Arm, während die andere mit weiteren Tüchern, ihren offensichtlich frisch gewaschenen Kleidern und Seife dastand. „Die beiden werden dir beim Waschen und Ankleiden helfen.“
Nachdem er die Tür hinter sich zugemacht hatte, stellte die Dienerin die Wasserschüssel auf den dafür vorgesehenen Tisch und wartete geduldig, bis Tindra endlich aufstand und sich ihnen näherte. „Hallo.“, begann sie vorsichtig, da die beiden keine Anstalten machten, etwas zu sagen, doch ihre grimmigen Mienen nicht verbargen. „Ich bin Tindra.“ Vielleicht reagierten sie ja, wenn sie sich zuerst einmal vorstellte?
Doch die zwei sahen sich nur verwirrt an, und so begab sich Tindra zum Waschbecken, säuberte Gesicht und Hände und benutzte die herrlich riechende Seife. Zu Hause hatten sie nur die einfachsten, nicht parfümierten Seifen, doch in diesem Moment beschloss sie, auch einmal duftende Seife zu kaufen, wenn sie genug Geld verdiente als Schmiedin. Das erinnerte sie daran, dass sie eigentlich in der Schmiede sein sollte nun und die mürrischen Befehle Juangs entgegennehmen sollte. Irgendwie wünschte sie sich in diesem Moment dorthin, trotz Seife. Traurigkeit drohte sie zu überkommen, doch bevor das geschehen konnte, wandte sie sich den beiden Frauen zu: „Ich will euch ja nicht verletzen oder beleidigen, aber ihr seid keine Elfen, richtig?“
Wieder warfen die beiden sich einen unsicheren Blick zu, ehe die mit ihren Kleider vorsichtig antwortete: „Uns ist es nicht gestattet, mit Edelleuten zu sprechen.“
Tindra horchte auf. „Ich bin doch keine Edelfrau!“, versicherte sie, machte aber trotzdem keine Anstalten, das Gespräch wieder aufzunehmen. Womöglich sah sie sich selber als normaler Bürger, doch andere – gerade die beiden Elfen, die sie gestern aufgelesen hatten, oder vielleicht auch der König – mochten das anders sehen. Und sie hatte nicht vor, jemanden in Schwierigkeiten zu bringen, zumal sie plante, hier schnell wieder zu verschwinden und nach Hause zu gehen. Sie mochte sich nicht ausmalen, was für Sorgen sich ihre Familie machte, und sie wollte auch nicht daran denken, was Sunyu gerade durch den Kopf ging. Wenn sie doch nur wieder die Mittagspause mit ihm verbringen könnte, und er ihr ein wenig von sich erzählte, anstatt dass er sie ständig ärgerte.
„Das stimmt, wir sind Zwerge.“, antwortete zu ihrer Überraschung das kleine Wesen. Zwar schien sie sich noch immer nicht zu sicher, ob ihr das gestattet war, doch ihr Gesicht hatte sich wenigstens ein wenig aufgeheitert. „Ich bin Umbra, und das ist Hulla. Wir waren vor einigen Jahrzehnten ein Geschenk unseres Königs an den Elfenkönig, doch der wollte uns nicht bei seinen Hofdamen aufnehmen, da sie gesagt haben, wir seien zu hässlich. Dabei gehören wir zu den schönsten Zwergenfrauen, die das Land zu bieten hat!“, versicherte sie in einem bezaubernden Eifer. „Ach, wenn wir nur wieder zurückgehen könnten!“
Das erinnerte Tindra mit einem Schlag daran, dass sie vor noch einem Jahr genauso gedacht hatte, als sie umgezogen waren. Sie wollte einfach nur wieder zurück! Und jetzt war das nicht anders: Sie wollte einfach nur zurück in ihre neue bekannte Umgebung, sie wollte sich im Dorf einfügen, ihre Lehre als Schmiedin erfolgreich abschliessen und eine Familie gründen! „Ich weiss, wie das ist.“, seufzte sie deshalb verständnisvoll, und nahm dankbar das Tuch entgegen, welches ihr hingestreckt wurde. Danach zog sie sich schweigend an und kaum hatten die beiden ihr die Haare gekämmt, nachdem sie sich lange vehement gesträubt hatte und es selber machen wollte, trat auch schon Grennar wieder ein und forderte sie auf, ihm zu folgen.
„Ich werde dir jetzt den Innenhof des Palastes zeigen, und dann noch einen kurzen Abstecher in die Bibliothek machen, bevor wir den König der Elfen aufsuchen werden.“, erklärte er, als sie die zahlreichen, mit pastellfarbenen Blumen und Schmetterlingen bemalten Gänge entlanggingen. Nur an wenigen dunklen Ecken hingen Kerzenständer oder waren seltsam leuchtende Edelsteine in Vertiefungen eingelassen, ansonsten schien das gesamte Gebäude von Sonnenlicht erhellt zu werden. Staunend betrachtete sie die Kunstfertigkeit der Bauweise, welche so warm und aufmunternd schien, aber gleichzeitig auch daran erinnerte, dass man hier nicht zu Hause war, sondern im Schloss des Herrschers.
Doch so richtig ausser sich war sie erst, als sie den Innenhof gesehen hatte. Hier blühten mehr Blumen, als sie sich in ihrem Leben je erträumen konnte, und Vögel pfiffen ihre belebenden Melodien aus voller Kehle in die frische Luft hinaus. Der ovale Garten war von hellen Lauben umrahmt, und wenige Kieswege führten durch das Paradies aus Ranken, Blüten und Blättern. An einzelnen Stellen stach gesundes, kräftiges Gras grün heraus und durchbrach das Wirrwarr aus Farben auf angenehme Weise. Der süsse Duft von Frühling und Sommer stieg Tindra in die Nase und sofort musste sie an ihre alte Heimat denken, an die weiten, grünen Wiesen mit den vielen Blumen, doch das war nicht zu vergleichen mit dem was sie hier vor sich hatte. Erst auf den zweiten Blick entdeckte sie den marmornen Springbrunnen in der Mitte des Gartens, so stark war er von der Vegetation schon in ihren Lebensraum verwandelt worden.
Andächtig umrundeten sie die Anlage, doch die Augen konnte sie nicht von deren Schönheit nehmen. Sie merkte auch nicht, wie der Elf neben ihr ob ihrer Reaktion amüsiert schmunzelte, dann aber leise hüstelte, als ob er sich erinnern musste, dass es keinen Grund gab, sich zu amüsieren.
Nachdem sie zwei schmalere Türen links liegen gelassen hatten, umrundeten sie die Hälfte eines Turms, welcher aus der Wand hervortrat, und dahinter kam ein grösseres Tor zum Vorschein, durch welches sie wieder den ruhigen Palast betraten. Alles kam Tindra so unwirklich vor, dass sie am liebsten Tage damit verbracht hätte, sich im Schloss zu verlaufen und es kennen zu lernen, nur um sich noch tiefer in seine Geheimnisse zu vertiefen. Doch sie ahnte, dass ihr das niemals vergönnt sein würde. Jedenfalls hörte sich das, an was sie sich noch erinnern konnte von Tallas‘ Geschichte, nicht gerade so an als hätte sie hier alle Zeit der Welt. Und die hatte sie ja auch nicht, inzwischen hatte sie – immerhin so etwas wie – Freunde zu Hause. Wenn sie den Elfen half, dann konnte sie schnell wieder zurück.
Vor einem massiven, von zwei bewaffneten Wächtern gehüteten Tor hielten sie und Grennar erklärte ihr eindringlich: „Der König wartet hinter diesen Türen auf dich. Bitte erweise ihm gebührenden Respekt und lass dich nicht allzu sehr von ihm einschüchtern.“ Ohne ihr die Chance zu geben, etwas zu fragen, gab er den zwei Elfen ein Zeichen, so dass die die Torflügel mühelos aufstiessen, und schubste sie erbarmungslos in den grossen Raum hinein.
Wie das ganze Schloss auch schon, waren die Wände weiss getüncht, aber hier durchzogen nicht Malereien das an sich kalte Weiss, die Blumen waren mit Edelsteinen dargestellt. Auch die hohen, schmalen Fenster bestanden aus schwach gefärbtem Glas und hinterliessen ein verwirrendes Muster auf dem Boden, welcher selbst Verzierungen aus hellem Marmor und dunklerem Gestein aufwies. Eine Figur dahinter konnte sie allerdings nicht erkennen. Zwei Reihen aus weissen Säulen bildeten in der Mitte einen weiten Gang, boten aber bis zu den Wänden hin reichlich Platz für jede Menge Gäste mit Dienstschaft und Gefolge. Bei jedem Pfeiler stand eine schwer gerüstete Wache, und einige erweckten den Eindruck, dass hinter den eisernen Masken Frauengesichter versteckt waren. Der Säulengang führte auf ein leicht erhöhtes Plateau hin, welches sich ohne Treppe von vorne aus dem Saalboden abhob. Auf dem Plateau sass in einem edelsteinbesetzten Mahagonithron ein älterer Elf mit schwarzen Haaren, einer eckigen Nase und harten, schwarzen Augen. Seine Lippen zeigten nur noch einen dünnen Strich, so sehr presste er die Lippen zusammen.
Vollkommen verunsichert nahm Tindra die Entfernung zwischen sich und dem König in Angriff, doch sie hätte nie gedacht, dass sich ein so kurzer Weg unendlich lang anfühlen konnte. Sie spürte die stechenden Blicke der Wachen in ihrem Rücken und auf ihrem Gesicht, spürte beinahe ihre angespannten Muskeln, roch den Schweiss auf ihrer Stirn. Wer wusste denn schon, was die Gegner planten. Menschen gehörten nicht in diese Welt, weshalb niemand ahnen konnte, auf welcher Seite die wenigen menschlichen Wesen hier gehörten.
Doch endlich erreichte sie eine ihr als angemessen erscheinende Distanz und sich hinkniend beugte sie auch den Kopf. So verharrte sie eine Weile, doch es kam keine Reaktion vom König selbst, also hob sie den Kopf leicht, um in seinen indifferenten Augen nach einer Aufforderung zu suchen, doch kaum bewegte sie sich, zischte er: „Wer hat dir erlaubt, dich zu rühren?“ Erschrocken nahm sie die unbequeme Position wieder ein und hoffte, dass das Zeichen für Erleichterung schnell kam. Wenn das so weiterging, würde sie keinen einzigen Ring für die schmieden.
Schliesslich murrte der Elfenkönig: „Steh auf.“
Ohne erkennbaren Grund trat aus dem Schatten links von der erhöhten Fläche ein gefesselter alter Mann ins Tageslicht und kam auf sie zu. Er lächelte ihr freundlich zu und begrüsste sie: „Hallo, Schmiedin.“ Er neigte den Kopf, um ihr seinen Respekt zu erweisen. „Wo ist Eldings Ring? Und wo ist Elding selber?“
„Pah!“, kam es verächtlich vom König, „Dieser Verräter interessiert niemanden! Wenn wir seinen Ring finden, dann kann er uns nichts mehr anhaben! Seine Informationen werden nutzlos sein, wenn er dann unseren Feinden in die Hände fallen würde!“
Der Alte drehte sich wütend um. Deutlich hoben sich seine Schultern, doch er sagte nichts als ob er genau wüsste, dass das seine Situation nur verschlechtern würde. Mit seiner angenehmen Stimme wandte er sich wieder Tindra zu und fuhr fort: „Elding würde uns nie verraten.“, versicherte er überzeugend. „Doch du trägst den Ring nicht bei dir. Wo ist er?“
Unsicher zeigte Tindra ihm ihre rechte Hand. „Dies ist der einzige Ring, den ich trage und besitze.“, erwiderte sie vorsichtig.
Der alte Mann schüttelte den Kopf. „Du hattest ihn bei dir, als du hier erschienst.“ Wieder schüttelte er den Kopf. „Ich spüre, dass er in der Nähe ist. Weisst du, er sah deinem Ring sehr ähnlich, nur hatte er silberne Fäden anstatt diese rötlichen. Aber schön war er auch, und er ist uns sehr wichtig.“ Flehend sah er sie an.
Plötzlich ging Tindra ein Licht auf. „Ich habe einen Ring gefunden, letzte Woche einmal!“, sagte sie aufgeregt, ein bisschen zu laut. Doch niemand kommentierte ihren kleinen Ausrutscher. „Leider war er kaputt und dann habe ich diesen hier geschmiedet, weil ich dachte, ich möchte doch auch so etwas Kostbares besitzen.“
„Kaputt?“, fragte der Alte entsetzt. „War da ein junger Mann in der Nähe? Oder… Oder komische Wesen, oder…?“
Traurig schüttelte sie den Kopf. „Leider kann ich nicht weiterhelfen. Doch, einen Moment, auf dem Ring selbst war ein wenig Blut und auch auf dem Boden… Aber einen Mann habe ich nicht gesehen.“ Daraufhin seufzte der Alte schwer. „Die Reste des Rings müssten in meiner Hosentasche sein.“ Vergeblich griff sie hinein. Fragend blickten die beiden zum König auf, denn sie wussten, dass der Ring in der Wäscheabteilung gelandet sein musste.
Der König zögerte lange, nicht weil er ihnen nicht glaubte, sondern weil es ihm unwichtig erschien. Dann gab er einem Diener im Schatten ein Zeichen, und der Bursche verschwand augenblicklich.
„Mein Name ist übrigens Enginn, junge Schönheit.“, stellte sich der Alte vor und streckte ihr die gefesselten Hände hin.
Im Gegensatz zu den meisten Gestalten, die sie hier getroffen hatte, vertraute sie ihm und drückte seine Hand kurz. „Tindra.“ Sie lächelte freundlich, und er zeigte im Gegenzug seine mit Lücken durchzogene Zahnreihe.
Er drehte sich wieder zum Herrscher um. Ob er nicht diese Bedrohung spürte, die vom dunkelhaarigen Elfen ausging? Jedenfalls stellte er ungerührt fest: „Dieser Ring ist eine billige Kopie. Damit kann niemand reisen, geschweige denn die Dämmerung durchqueren.“ Er zuckte mit den Schultern. „Auch wenn er kaputt ist, hat Eldings Ring den Weg zu uns wieder gefunden. Vielleicht liegt es auch an Elding selbst, oder an seiner Magie.“
Das Gesicht des Elfen nahm eine rötliche Farbe an, und Tindra fragte sich, wie wütend der Alte den König noch machen wollte. Ihm schien es offenbar egal zu sein, im Kerker zu landen. In diesem Moment rasselten die Ketten seiner Handschellen und sie realisierte, dass Enginn nichts mehr zu verlieren hatte. Er war schon eingesperrt, und von diesem Elding getrennt, oder wie der auch immer heissen mochte. Doch umso mehr verwunderte sie die Ruhe und Sicherheit des Alten. Hoffentlich gab es hier die Todesstrafe nicht! Der Elfenkönig holte tief Luft, ehe er auf die Provokation einging: „Pass auf, was du sagst, Alter!“ Er wandte sich nun Tindra zu. „Wie kommt es, dass ein kaputter Ring dich hierher gebracht hat? Normalerweise funktioniert ein Ring schon mit der kleinsten Delle nicht mehr, und wenn, dann macht er bloss komische Sachen. Erkläre es mir!“ Auf seine Lippen schlich sich ein hinterlistiges Lächeln. „Oder war es wohl doch der von dir geschmiedete Ring?“
Seine dröhnende Stimme liess ihre Knie erzittern und einen Moment glaubte sie, sich nicht mehr aufrecht halten zu können. Doch so schnell es gekommen war, so schnell verging es auch wieder. Enginn hatte ihre Hand gepackt und zog sie hinter sich her zum Podium, wo er dem König ihre Hand mit dem Ring hinstreckte und meinte: „Kann etwa so ein Ring ein Reisering sein?“ Inzwischen hörte auch er sich leicht ungeduldig an, doch noch mehr überrascht war Tindra vom Aussehen ihres Ringes. Kein Gewebe aus feinen Gold- und Bronzefäden war mehr zu sehen, nun war bloss ein einfacher Ring aus Bronze mit wenig Gold. „Ein Mädchen wie sie hätte auch keinen anderen Ring vermocht zu tragen.“, brummelte er wie nebenbei, doch der König schien es ihm abzukaufen.
„Nun denn“, meinte er zögernd und lehnte sich wieder in seinem Thron zurück. „sei es wie es ist. Aber was ist mit ihrer Geschichte, eine Schmiedin zu sein? Wäre das nicht ein zu grosser Zufall? Vielleicht mangelt es dir einfach an Fähigkeit, das zu sehen, alter Mann!“
Enginn lachte und drehte ihre Hand. „Eine Schmiedin? Das sieht mir eher aus wie eine Näherin!“
Vor Schreck hätte Tindra beinahe einen Satz nach hinten gemacht. Hunderte von kleinen, rötlichen Einstichen zierten ihre Hände und beinahe spürte sie den Schmerz, bei dem sie sich diese zugezogen hätte. Doch sie wusste genau, sie hatte seit mehr als einem halben Jahr keine Nadel mehr angefasst! Vom König unbemerkt verstärkte Enginn seinen Griff und bedeutete ihr, still zu halten. Verwirrt senkte sie denn Blick aus Angst, jemand könnte in ihren Augen lesen, was hier wirklich los war.
„Dann“, begann der Herrscher langsam, und deutlich spürte sie die mitschwingende Wut in seiner Stimme, „war das gestern eine Lüge!?“ Beide verharrten leise. „In den Kerker mit den beiden. Den zerstörten Ring lasse ich dir zukommen, Enginn.“, befahl er mit versteinerter Miene.

Die Dämmerung war hereingebrochen. Schwer atmend lehnte er sich an einen Baum und warf einen Blick zurück. Seit Tagen irrte er nun in diesem Wald umher und wurde zusehends schwächer. Wenn er nicht bald Unterschlupf und Hilfe fand, dann hätten die Trolle in ihrem Tun doch noch Erfolg.
Elding stiess sich ab, wankte ein wenig, dann torkelte er weiter durch das Dickicht. Wieso war er eigentlich nicht in diesem Dorf geblieben, wieso musste er auch immer seine Verletzungen unterschätzen? Doch diesmal war es anders. Normalerweise würde er einfach so in Enginns Wald landen, bei seiner Hütte. Lag das am verlorenen Ring? Oder war etwas weit Schlimmeres passiert? Er mochte gar nicht dran denken, was er machen würde ohne Enginn. Doch seine Hütte lag in der Dämmerung, und es war unwahrscheinlich, dass er sie ohne Ring finden würde. Die Dämmerung – die Zone zwischen all den verschiedenen Sphären. Immer etwas gräulich, etwas verschwommen, doch auch wunderschön mit dem knisternden Feuer in der Hütte seines Freundes, mit dem Geruch von Kräutertee und Suppe in der Luft und dem Knarren des Schaukelstuhls, wenn Enginn ihn wieder ein wenig anschubste, während er ins Feuer starrte. Manchmal hatte Elding sich gefragt, ob er darin etwas sah. Doch nach der ersten Begegnung hatten sie nicht mehr viel miteinander gesprochen, es war auch nicht nötig gewesen. Sie verstanden sich auch so. Doch dass er die Hütte nun schon seit mehr als einer Woche suchte und nicht fand, beunruhigte ihn zutiefst. Was ging da vor?
Schwer atmend hielt er auf einer Anhöhe inne. Er konnte nicht mehr weit gehen, doch in alle Richtungen breitete sich dichter Walt aus, ohne auch nur das geringste Zeichen von Zivilisation. Trotzdem, er durfte nicht aufgeben, er durfte einfach nicht. Wer wusste denn schon, was die Elfen Enginn antun würde, tauchte er nicht mehr auf. Und vor allem: Wo war sein Ring?
Dies war die Frage, die ihn am meisten beunruhigte, die Frage nach dem Ring. Wer auch immer ihn haben mochte, besass eine unglaubliche Macht. Wer wandern konnte, konnte sich sozusagen von einem Ort zum anderen zaubern. Der konnte ins Schloss des gegnerischen Volkes einbrechen, ohne all die Wachen zu umgehen. Selbst magische Schilde nützten nichts gegen die Kragt eines Ringes. Es wäre schrecklich, würde dieses Schmuckstück den Trollen in die Hände fallen. Doch die andere Möglichkeit – und die schien ihm wahrscheinlich, schliesslich waren die Knochen seiner linken Hand mehrheitlich gebrochen – war, dass er Ring kaputt war, und das liess Verzweiflung in ihm aufkommen, denn ohne Ring konnte er nie wieder zu Enginn gehen, und seinen Tee geniessen!
Erschöpft und ohne Hoffnung liess er sich auf den Boden fallen. So verharrte er, merkte nicht, wie die Zeit verging und hoffte, dass es Enginn gut ging.

„Warum haben Sie das gemacht?“, fragte Tindra wütend, als sie sich sicher sein konnte, dass die Wachen ausser Hörweite waren. Man hatte sie zusammen mit Enginn in eine Zelle gesteckt, die schwere Eisentür mehrfach verriegelt und sie dann mit einem letzten, schadenfrohen Blick alleine gelassen. Das Rattern der Rüstungen war schon lange verklungen, doch Tindras Wut brodelte heftiger denn je in ihr. Natürlich war es unangenehm, im Kerker zu sitzen, aber er hätte sie ja nicht auch noch da mit hinein ziehen müssen! Wieso?
Enginn kauerte erschöpft auf der einzigen Liege in der engen, kalten Kammer. „Du. Bitte, ich bin Enginn.“, murmelte er schwach. Dann seufzte er und richtete sich auf, während er ihr eindringlich in die Augen sah. „Ich gebe zu, es ist ein egoistischer Grund, warum ich darauf aus war, dich hierher zu bringen und mit dir alleine zu sprechen.“ Er seufzte wieder und starrte einen kurzen Moment an die Wand, als ob er die richtigen Worte suchen musste. „Nun ja, mein bester Freund, Elding, ist verschwunden. Er trug den Ring bei sich, den kaputten, und ich mache mir grosse Sorgen um ihn. Seit einer Woche ist er verschwunden, und ich spüre ihn auch nicht mehr. Er muss in einer anderen, weit entfernten Sphäre sein, vielleicht sogar in der Sphäre, aus der du kommst, Tindra.“ Er machte eine Pause und zeigte mit dem Kopf auf ihre rechte Hand. „Weisst du eigentlich, welche Macht du da am Ringfinger trägst?“, fragte er leise.
Sie schüttelte den Kopf zögernd. „Wie sollte ich das denn auch wissen? Ich habe mir nur einen schönen Ring schmieden wollen!“
Ein Lächeln wagte sich auf seine Lippen. „Das finde ich gut. Du hast ein gutes Herz, Tindra. Du bist die Einzige, die Elding jetzt noch helfen kann. Noch nie habe ich einen Ring mit solcher Macht gespürt. Bitte, mach dich auf in die Sphäre, aus der du kommst, suche Elding und er wird dir zeigen, wohin ihr gehen könnt.“ Tindra lachte verbittert auf und wollte schon aufgeregt auf die Wände rundherum zeigen, doch Enginn hob die Hand und bedeutete ihr zu schweigen. „Glaubst du wirklich, ein Ring, der die Grenzen der Sphären überwinden kann, den kann eine einfache Steinmauer aufhalten?“
Sie stutzte. Dann hiess das, sie hätte immer wieder zurückkehren können? Aber sie wusste doch nicht einmal, wie sie hierhergekommen war! Verwirrt warf sie Enginn einen Blick zu. „Wie geht das denn?“
Er lachte freundlich. Sein sowieso schon von Runzeln durchzogenes Gesicht wirkte noch älter, doch ein Lachen zu hören beruhigte sie ein wenig und liess die Zelle gleich heller und angenehmer erscheinen. „Spürst du nicht, wohin du gehen müsstest, damit du wieder nach Hause kommen würdest? Normalerweise wirken die Ringe so. Allerdings bin ich mir überhaupt nicht sicher, wie ein Ring aus Bronze und Gold funktioniert, zwei neue Materialien, und ein völlig neues Muster, eine neue Art, sie zu schmieden. Ich weiss auch nicht, wie die Macht in deinen Ring geflossen ist, vielleicht hat es auch etwas mit Eldings Ring zu tun, vielleicht schwatze ich hier nur etwas Komisches zusammen.“ Er schmunzelte und wartete ihre Reaktion ab.
Sie dachte an den Spaziergang, als sie die komischen Farben und Tunnels gesehen hatte, doch sobald sie hier angekommen war, hatte sie keine mehr gesehen. Sie fragte sich, ob Enginn etwas darüber wusste, doch sie spürte nichts und auch sonst hatte sie keine Anhaltspunkte, wie genau sie gereist war. Sie hatte wohl keine Wahl, deshalb erzählte sie ihm davon. Aufmerksam hörte Enginn zu und schwieg nach ihrem Bericht lange.
„Das ist merkwürdig. Die alten Ringe konnten entweder die Tunnels sichtbar machen oder Leute reisen lassen, doch niemand hat diese zwei – getrennt schon wertvollen – Eigenschaften je in einem einzigen Ring verbunden. Und dass du die Tunnels hier nicht mehr siehst, verwirrt nicht nur dich.“ Er überlegte einen Moment. „Ringe sind an der linken Hand stärker, am Zeigefinger.“, meinte er sicher und warf ihr einen auffordernden Blick zu. Einen Moment zögerte sie noch, doch dann folgte sie seinem Vorschlag und wechselte den Ring.
Erschrocken trat sie einen Schritt nach hinten, schluckte nervös und wandte den Kopf vorsichtig, drehte ihn dann auf die andere Seite, folgte mit ihrem Körper und bestaunte das verwirrende Bild, das sich ergeben hatte. Überall fand sie kleinere und grössere Tunnels, viel stärker als noch in ihrer eigenen Sphäre, und das Erstaunlichste war, dass sie sehen konnte, was am Ende war!
„Tindra.“
Wohin sollte sie gehen? Was für Plätze zeigten sich ihr? Manche schienen düster und beklemmend, doch am Ende einiger Durchgänge sah sie Blumenwiesen oder den Dorfbrunnen eines friedlichen, ruhigen Dorfes. Konnte sie da überall hinreisen? Plötzlich empfand sie das Bedürfnis, andere Leute und Orte kennen zu lernen, sich unter einem duftenden Tannenbaum hinzulegen und einfach nur das Spiel von Sonne und Schatten auf ihrer Haut zu geniessen. Sie lächelte selig.
„Tindra!“
Endlich drang Enginns Stimme zu ihr und verwirrt suchte sie ihn, doch sie fand ihn nicht, deshalb nahm sie den Ring ab. „Das ist unglaublich!“, rief sie erfreut aus. „Ich sehe die Tunnels, und es ist nicht so wie zu Hause, wo ich gedacht habe, dass sich dieser Gang nicht gut anfühlt oder dass er zu einem schönen Ort führen würde, ich kann hier sogar sehen, was am Ende ist!“ Langsam realisierte sie, dass es keinen Sinn machte, denn sie wusste nicht, ob das einfach Bilder waren oder ob sie wirklich da ankommen würde. Sie setzte sich neben Enginn und wartete auf seine Reaktion.
Doch ihr neuer Freund sah nur erschrocken geradeaus. „Du hast den Ring wirklich selbst geschmiedet?“, fragte er ungläubig. Auf ihr Nicken seufzte er und lehnte sich müde an die kalte, nasse Steinwand hinter ihm. Dann rieb er sich die Augen und starrte lange an die Decke. „Ich hatte keine Ahnung, wie mächtig dieser Ring sein würde. Er ist…“ Er vollendete den Satz nicht, sondern erklärte monoton: „Ich habe es auch gespürt, ich habe die Wege gespürt, und gefühlt, wohin sie führen konnten, ob zu einem guten oder bösen Ort.“ Er holte abermals tief Luft. „Ich weiss nicht, ob ich mich vor so einem mächtigen Gegenstand fürchten soll oder ob ich mich für die Elfen freuen soll, dass sie eine solch mächtige Schmiedin gefunden haben.“ Er seufzte. „Es wir mehr Krieg geben, mehr Zerstörung und Tote. Ich will das nicht mehr, ich will das einfach nicht mehr!“ Nach einer langen Pause, in der Tindra nicht wusste, ob sie diese unterbrechen sollte oder nicht, sprach er flüsternd weiter. „Elding hat es noch nicht begriffen, wie viel die Elfen opfern, bloss um an die Metalle der Zwerge zu kommen und die Bausteine und Wälder der Trolle zu nutzen. Doch die machen es nicht anders, auch sie wollen teilhaben am Reichtum der Elfen, den sie durch ihre Edelsteine erhielten. Durch die Ringe geriet die ganze, zerbrechliche Konstellation aus dem Gleichgewicht und niemand konnte mehr kontrollieren, wer wohin reiste, wer welches Fürstentum infiltrierte oder beraubte. Keine Ahnung, wem von meinen alten Freunden ich noch trauen kann. Ich hatte nämlich Freunde in allen Bereichen dieser Sphäre, musst du wissen, damals, als wir alle noch zu Fuss oder mit Pferden von einem Ort zum anderen gelangten.“ Sein Seufzer wirkte traurig und verloren.
Tindra fühlte mit ihm und versprach leise: „Ich werde niemandem mit meinem Ring schaden.“
„Wie kannst du dir da sicher sein?“, fragte er zweifelnd. „Vielleicht machst du nur etwas für dich und damit schadest du jemand anderem. Doch ich glaube dir, dass du nichts Böses anstellen willst.“ Als ob er eine neue Kraftquelle gefunden hätte, stand er auf, hielt ihr seine Hand hin und fragte schmunzelnd: „Wollen wir dann los, bevor die Wachen uns entdecken?“ Verwirrt sah sie ihn an. „Na ja, wenn dein Ring so stark ist, wird er wohl zwei Personen transportieren können, und ich weiss, wohin wir gehen müssen. Vielleicht kann ich dir mit der Richtung helfen, wenn ich deine Hand halte, denn die Verbindung zwischen uns ist viel stärker.“
Zögernd nahm sie seine Hand und strich sich gleichzeitig den Ring über den Zeigefinger der linken Hand. Sie hörte, wie Enginn vor Schreck die Luft anhielt, sich dann aber ebenso ungläubig umsah wie sie einige Zeit zuvor. Er zeigte mit zitternden Fingern auf einen schmalen Tunnel, welcher eine ähnliche Landschaft zeigte, wie die, in der sie angekommen war, doch ihm vertrauend schritt sie darauf zu und trat ein.
Ohne jegliche Veränderung zu spüren standen sie plötzlich auf dieser Ebene, die der ihrer Ankunft sehr ähnelte, doch davon nahm Tindra nicht viel wahr, denn hier endeten und begannen noch viel mehr Tunnels und Wege, und sie fragte sich, wie sie sich jemals da auskennen sollte. Selbst die Landschaft zeichnete sich nur schwach ab auf dem farbenfrohen, wirren Vordergrund. Musste sie hier jeden einzelnen Weg auswendig kennen? Auf der anderen Seite, sobald sie Enginn geholfen hatte, seinen Freund zu finden, war sie auch wieder weg. Sie wollte nicht hier sein, wollte nicht in die Geschäfte rund um Krieg, Intrigen und Zerstörung verwickelt werden. Und ausserdem wartete Sunyu auf ihre Antwort. Noch blieben ihr drei Tage.
Enginn stiess sie sanft an. „Geht es dir gut? Du siehst so blass aus.“
Tindra nickte verwirrt. Blass? Vermutlich zehrte diese Situation schon ein wenig an ihren Nerven, doch die würde sie auch noch im Griff haben bis am Ende. „Ja, ich fühle mich topfit.“ Das war zwar eine glatte Lüge, aber sie kümmerte sich nicht weiter um die müden Beine und ihre Erschöpfung. Es konnte nicht viel Kraft kosten, einen einzigen Schritt zu tun. „Wohin nun?“
Enginn zeigte stumm auf einen Tunnel. Als sie hineinsah und prüfte, was sie zu erwarten hatte, erblickte sie einen dichten, düsteren Wald. Ihr lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter, doch nach einem prüfenden Blick auf den alten Mann folgte sie seiner Aufforderung und tat den Schritt.
Sofort spürte sie die Erschöpfung, die sie überwältigte, und schwer atmend fiel sie auf die Knie. Auf allen Vieren kam sie zur Ruhe, doch auch ihre Arme versagten ihr den Dienst. Völlig kraftlos blieb sie auf dem kalten, steinigen Boden liegen und konnte sich nicht regen.
„Tindra!“, rief Enginn leise aus und beugte sich zu ihr hinunter. „Was hast du?“ Sie spürte seine warme, runzelige Hand auf ihrer Schulter und kurz darauf floss wieder Leben in ihre Extremitäten. Staunend bewegte sie zuerst ihre Arme, dann ihre Beine, bevor sie einen ungläubigen Blick in das lächelnde Gesicht ihres Freundes blickte. „Komm, steh auf. Dann gehen wir zu mir nach Hause und trinken Tee.“
Zögernd nur folgte Tindra seiner Aufforderung. Noch nie hatte ein Schwächeanfall sie derart übermannt, abgesehen davon, dass sie noch nie einen erlebt hatte, doch noch verwirrter machte sie ihre schnelle Genesung. Als sie so dalag, da dachte sie nicht im Traum daran, die nächsten Tage aufzustehen, und dann legte der alte Mann ihr die Hand auf und sofort fühlte sie sich wieder topfit. Während sie neben ihm den schmalen Weg entlangging, brach sie zögernd das Schweigen: „Was war das?“
Enginns Schultern zuckten, als er leise lachte. „Was, die Erschöpfung oder die Erholung davon?“
„Beides.“
„Das wird wieder eine längere Nacht.“, stellte er seufzend fest, doch dann begann er mit seiner Erklärung: „Wenn du reist, brauchst du genauso viel Energie, wie wenn du die Strecke zu Fuss zurücklegen würdest. Wenn ich gewusst hätte, dass das auch bei deinem Ring so funktioniert, hätte ich einen anderen Weg gewählt, doch ich konnte deinen Zustand bei der letzten Reise nicht richtig einschätzen. Es tut mir leid.“ Schweigend setzten sie ihren Weg einige Minuten fort, doch Tindra unterbrach die Ruhe nicht. Schliesslich ergriff Enginn das Wort wieder. „Wir mussten ein Meer durchqueren, und hier bricht schon die Dämmerung ein, wir haben also doch eine rechte Wegstrecke zurückgelegt. Es grenzt an ein Wunder, dass du überhaupt noch lebst. Weisst du, der Ring braucht Energie zum Reisen, und die nimmt er sich dort, wo es am einfachsten geht, also von seinem Träger. Auch wenn er dir Augen schenkt und Wege zeigt, so braucht er doch deine Energie.“ Er seufzte. Unerwartet hielt er nach wenigen Augenblicken inne, starrte an den Wegrand, bevor er sich bückte und eine Pflanze ausriss. Mit geübten Händen befreite er die dicke, weissliche Wurzel von Erdresten, bevor er ein Messer aus seiner Brusttasche nahm und die Schale zu entfernen begann. Tindra fiel auf, dass er noch immer gefesselt war. „Du bist in einem sehr geschwächten und gefährlichen Zustand, mein Kind.“, murmelte er. Wortlos schnitt er das erste saubere Stück am spitzen Ende der Wurzel ab und hielt es ihr hin. „Iss.“
Zögernd biss Tindra in die trockene, zähe Wurzel. Wozu sollte sie das essen, sie fühlte sich doch fit, vor allem, nachdem er sie geheilt hatte! Trotzdem vertraute sie dem Mann auf geheimnisvolle Weise und betrachtete sein von Runzeln durchfurchtes Gesicht genauer. Sie fand darin keinen Hinweis auf Machtgier oder davon, dass er eine Partei in diesem Krieg vor einer anderen bevorzugte. Das erstaunte sie. Arbeitete nicht ihr Schützling, dieser Elding, für die Elfen? Auf der anderen Seite konnte die Freundlichkeit und Gelassenheit in seinem Gesicht bloss eine Maske sein, um die Leute in die Irre zu führen. Womöglich verbarg sich dahinter ein Drahtzieher des Krieges!
„So, wir sind da.“, rissen Enginns Worte sie aus ihren Gedanken. Inzwischen hatte sie unbewusst die gesamte Wurzel verzerrt, spürte aber noch keine Veränderung ihres Zustandes. Ob er mit dem Zeugs richtig lag? Oder vielleicht wirkte es bei Menschen einfach nicht? Neugierig lenkte sie aber ihre Aufmerksamkeit ihrer Umgebung zu. Sie standen vor einer mittelgrossen Lichtung inmitten des inzwischen bedrohlich dunklen Waldes. Auf dem harten Boden sprossen nur wenige zähe Gräser, doch der hölzerne Tisch mit passender Bank, die Feuerstelle sowie das niedliche, strohgedeckte Haus liessen gar die Bäume freundlicher erscheinen. Ein Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. „Komm, machen wir uns eine leckere Suppe, und dann erkläre ich dir einiges, was du als Trägerin des Rings wissen solltest.“, verkündete der alte Mann freundlich und schritt mit ihr im Schlepptau auf das kleine Haus zu.
Erst als sie mit einer dampfenden Schüssel Gemüsesuppe mit geschnetzeltem Rehfleisch in den Händen hielt und Enginn sich neben sie vor das Feuer setzte, kam er auf seine Ankündigung zurück: „Wie ich bereits sagte, das Reisen geht nicht spurlos an den Trägern der Ringe vorbei. Offenbar wirkt deiner auf dieselbe Weise, wenn auch etwas abgeschwächt. Sonst hättest du ohne jahrelange Erfahrung und viel Training die heutige Reise nicht überlebt.“ Er hielt kurz inne, um von seiner Suppe zu löffeln und seine nächsten Worte zu wählen. „Der Grund, weshalb du dich heute nach der Ankunft im Wald nicht mehr so schwach gefühlt hast lag ganz allein daran, dass ich dir eine Illusion vorgetäuscht habe.“
„Illusion?“
Er seufzte. „Ja. Damit sagte dir dein Gehirn, dass alles in Ordnung sei und dein Körper konnte sich wieder bewegen. Eine Kehrseite hat diese Methode allerdings: Irgendwann kann so ein Körper dann auch nicht mehr, denn es ist ja nicht der Körper, der geheilt wurde, sondern die Signale dringen einfach nicht mehr zum Bewusstsein durch. Es sind schon mehrere Menschen und andere Wesen dran gestorben.“
„Gestorben.“, wiederholte Tindra leise, bevor sie ihm einen scharfen Blick zuwarf. „Wieso bringst du mich in diese Gefahr? Du hattest kein Recht dazu! Wenigstens informieren hättest du mich können. Was wäre, wenn du mich falsch eingeschätzt hättest? Wenn ich schwächer gewesen wäre?“ Ihre Worte bohrten sich in sein Gedächtnis ein. Genugtuung stieg in ihr auf, als sie die Reue in seinem Gesicht erkannte.
„Ich habe es nicht gerne getan.“
„Und dennoch ohne Zögern.“, konterte sie hart, und auch seinem suchenden Blick hielt sie locker stand. Sie hatte nicht den blassesten Schimmer, woher diese Selbstsicherheit kam. Vielleicht lag es daran, dass seit gestern sie jeder für etwas Besonderes hielt. Vielleicht aber war sie einfach so. Schliesslich ging es um ihre Sicherheit, um ihr Leben. Was hatten Leute aus anderen Sphären schon damit zu tun, und was konnten Elfen schon über sie entscheiden?
Enginn seufzte und wich ihren Augen aus. „Es gibt einen Weg, um sich vor solchen Täuschungen zu wappnen, doch die meisten lernen es nie. Deshalb ist es vielleicht auch keine gute Idee, wenn ich dir das beizubringen versuche.“ Es dauerte lange, bis er seinen Blick von den Flammen nahm und seine inzwischen leere Schüssel auf den Tisch neben sich stellte. „Vielleicht brauchst du das jedoch. Immerhin ist es die beste Möglichkeit, sich vor Magie zu schützen. Denn Magie ist nichts anderes als Illusion. Magie… Magie war einmal mehr. Manche Zauberer konnten wirklich Wunden heilen und Wasser herbeirufen oder auch ganze Armeen mit nur einem Gedanken zerstören. Doch dieses Wissen ist wie so vieles verschwunden und nicht mehr aufzufinden. Die Herrscher aller Völker verboten die Zauberei, und liessen Schriften und Magier verbrennen. Allen voran die Elfen.“ Ein wenig Wehmut schwang in seiner Erzählung mit und Tindra spürte einen Hauch von Mitgefühl in sich. „Nach Jahrzehnten, nein, Jahrhunderten haben sie die Magie ‚wiederentdeckt‘. Doch das war alles nur Schwindel. Was sie entwickelt haben war eine einfache Methode, die Wahrnehmung der Wesen zu beeinflussen, und das ist nun bekannt als Magie. Doch die uralte Zaubereiskunst beherrscht niemand mehr. Ein wenig steckt vielleicht noch in den Ringen, ein bisschen noch in den starken Emotionen der Liebe und des Hasses, oder aber auch der Freundschaft. Aber sonst dürfte alles verschwunden sein.“ Er seufzte abermals, holte dann aber tief Luft, bevor er aufstand und eine tönerne Flasche aus einem der vielen, winzigen Wandschränke an den tanzenden Schein des Feuers holte. In der anderen Hand hielt er zwei Becher, die er füllte und ihr einen schweigend hinhielt.
Zögernd nahm sie das tönerne Gefäss und roch an der goldenen Flüssigkeit. „Wie kann man sich denn vor diesen Illusionen schützen?“, fragte sie leise. Womöglich sprach sie mit der einzigen Person, die ihr diese Methode beibringen konnte – oder wollte.
Seine Brust hob sich unter einem tiefen Atemzug. „Im Grunde genommen gibt es zwei Wege. Beiden Arten ist gemein, dass sie das Unterbewusstsein als Schlupfloch nutzen, da dieses von den Illusionen nicht beeinflusst werden kann. Jedenfalls hat das noch niemand versucht, da es eigentlich auch nicht notwendig ist. Einerseits kann man versuchen, sein Bewusstsein in die Bereiche des Unterbewusstseins zu verlagern, andere bevorzugen einen Teil des Unterbewusstseins in ihrem Bewusstsein zu haben.“
Tindra schüttelte ungläubig den Kopf. „Und es gibt tatsächlich Leute, die das beherrschen? Normalerweise hat man doch keine Kontrolle über das Unterbewusstsein! Wie soll man das denn trainieren?“
„Tja, das gerade ist die Schwierigkeit. Es gibt tatsächlich Elfen, die behaupten, sie könnten Illusionen von Wahrheit unterscheiden, doch noch nie konnte mir das auch nur einer glaubwürdig beweisen. Ehrlich gesagt, glaube ich nicht daran. Es ist wie du gesagt hast: Das Unterbewusstsein lässt sich nur mit grösster Anstrengung kontrollieren, falls überhaupt.“ Sie bemerkte nicht wie er den Blick von den Flammen löste, um ihn auf ihrem Gesicht ruhen zu lassen. „Doch für dich ist es von allergrösster Wichtigkeit zu wissen, wann dich jemand manipulieren will!“ Gedankenverloren drehte er den Becher in seiner Hand. „Sicherlich klärten die Elfen dich über die Macht der Ringe auf und damit auch über deine eigene, zentrale Position in diesem Durcheinander. Für sie ging ein Stern am Himmel auf, als sie dich fanden, eine neuer Hoffnungsschimmer in der immer kleiner werdenden Auswahl der Ringe. Du sollst ihnen weitere Ringe schmieden, während sie ihre Waffenmeister in ungemeiner Hast auf die Ambosse einschlagen. Sie wollen dich zur effektivsten Waffe in diesem Krieg machen.“
Erregt sprang sie auf. „Niemals!“, stiess sie heftig aus. „Niemals werde ich für sie zu einer Waffe! Diese Ringe können mir gestohlen bleiben!“ Eilig griff sie an ihren linken Ringfinger. Ihre Finger fuhren ungeschickt über das warme Gold, doch sie hielt inne, als Enginn ihr eine Hand auf den Arm legte.
„Nicht doch, mein Kind.“ Er schmunzelte gutmütig. Ergeben liess sie sich wieder in den Sessel sinken und hörte aufmerksam zu. „Es gibt eine Gruppe von Leuten, die dich gerne zum Werkzeug des Friedens machen würde.“ Aufmerksam beobachtete er ihre Reaktion, doch Enttäuschung breitete sich auf seinem Gesicht. Nicht die kleinste Regung, dass sie sich eher für diese Variante erwärmen konnte.
„Ich will nur nach Hause.“, erklärte sie leise. „Mit dieser Sphäre hier habe ich nichts am Hut, die Leute sind mir egal. Niemand hat mich gefragt, ob ich hierher kommen will, doch jeder erwartet Wunder von mir. Dabei bin ich nichts anderes als ein Mädchen, das selbst mit ihren eigenen, unbedeutenden Problemen nicht fertig wird, und da soll ich in einem Krieg eine Schlüsselrolle spielen?“
„Noch ist es ja noch kein Krieg.“
„Doch egal was ich tun werde, es wird Krieg geben wenn ich Einfluss nehmen würde. Die Elfen würden mit meinen Ringen die anderen Völker überfallen, die Zwerge würden sich gegen die Elfen auflehnen, kämen meine Ringe in ihre Hände. Und wenn ich nun dieser Friedenstruppe helfen würde, was würde das schon ändern? Sie würden die Elfen und Zwerge und wen auch immer davon überzeugen wollen, dass Frieden am besten ist, doch erreichen sie dieses Ziel nicht mit Worten wrd sicherlich auch wieder Gewalt eingesetzt!“, wiedersprach sie energisch. Wenn sie auch nicht wusste worum sich hier alles genau drehte, so ahnte sie dennoch, dass einem Krieg nicht mehr auszuweichen war.
Enginn seufzte. „Ich verstehe dich ja. Du bist nicht die Einzige, die eine solche Entwicklung fürchtet, ganz im Gegenteil.“
Mit ruhiger Stimme unterbrach sie ihn: „Woher nehmt ihr denn alle die Gewissheit, dass ich nochmal einen Ring schmieden kann?“ Offenbar verschlug es ihm die Sprache. Er war nicht wütend, auch nicht verletzt oder gar traurig, nein, er schien bloss überrascht. Sie hielt ihm ihre rechte Hand vors Gesicht – zur besseren Wahrnehmung ihrer eigentlichen Umgebung hatte sie den Ring kurz nach ihrer Ankunft im Wald an einen anderen Finger gesteckt – und liess ihn ihr Meisterstück einen langen Moment bestaunen. „Ich glaube nicht, dass ich das noch einmal schaffen würde!“ Etwas entspannter lehnte sie sich wieder zurück. „Deshalb helfe ich hier wohl niemandem. Ich möchte nur zurück. Wirst du mir dabei helfen?“
Die direkte Frage irritierte ihn, und deutlich war seinem angespannten Gesicht und den Falten auf seiner Stirn anzusehen, dass er damit nicht gerechnet hatte. „Das kann ich nicht. Dafür bedeuten mir mein Zuhause und meine Freunde zu viel. Wenn ich dich zurückbegleiten würde hiesse das doch nur, dass ich die Chance, die neben mir sitzt, nicht nutzen würde. Mit deiner Hilfe könnte ich meine Freunde und mein Zuhause schützen.“
„Was, wenn ich es auf eigene Faust versuchen würde?“
Er lachte kurz auf. „Du würdest zu viel Energie verlieren bei all den Versuchen. Du weisst nicht, wie kräfteraubend sich eine solche Reise durch die Dämmerung gestaltet.“ Die winzige Pause tat ihre Wirkung und Tindra wurde noch neugieriger als sie schon war. Doch sie liess es sich nicht anmerken. „Die Dämmerung, der Raum zwischen den Sphären, ist ein Reich der Nebel und Schemen, ein Reich, welches viele Opfer gefordert hat und noch viele fordern wird. Nur wenige schaffen es, die Dämmerung zu durchqueren. Die meisten Skuggar, wie man die Dämmerungsreisenden nennt, wandern stundenlang in Wäldern ähnlich diesem, in einem Dämmerzustand sowohl ihres Körpers, ihres Geistes und der Umgebung. Nichts schläft und nichts wacht, nichts lebt und nichts ist tot.“ Seine Schilderung liess einen kalten Schauer ihren Rücken hinunterfahren. „Dass dies jemand ohne Hilfe und Anleitung geschafft hat so wie du, grenzt an ein Wunder und an deiner Stelle dankte ich allen Göttern für dein Glück!“
„Ich tat nicht mehr als einen Schritt, so wie heute.“, versicherte sie ruhig.
Enginn verschlug es die Sprache. Erst als der Schock langsam nachliess, sank er kraftlos in seinen Stuhl. „Dieser Ring sei verflucht!“, murmelte er. „Vermutlich liegt es daran, dass du das Netz der Kraftflüsse sehen kannst. Im Grunde genommen sind diese Kraftflüsse nicht mehr als ein Netz von Wanderwegen und natürlichen Pfaden. Je öfters einer benutzt wird, desto einfacher wird er begehbar.“ Unvermittelt brach er ab. Tindra vermutete, dass er tatsächlich eingesehen hatte, dass sie niemals in dieses Machtspiel mit eingreifen wollte, da bemerkte sie seine angespannte Haltung. Beunruhigt setzte sie sich auf und beobachtete Enginn genau. Er schien zu horchen. „Trolle!“, zischte er. Dann drehte er sich zu ihr um, packte grob ihr Handgelenk und zerrte sie mit ungeahnter Kraft hinter sich her in seine Vorratskammer. Am anderen Ende des hoffnungslos vollgestopften Raums stiess Enginn eine weitere Holztür auf und stiess sie hinaus. „Nimm den offensichtlichsten Weg hier und folge seinem Sog!“, zischte er schnell, „Keine Angst, der Weg ist einfach und wird dich nicht viel Kraft kosten. Und jetzt los, geh, du hast nicht mehr viel Zeit, bis die Trolle hier sind!“ Ohne ein weiteres Wort knallte er die Tür hinter sich wieder zu und liess sie in der Nacht alleine.
Tindra nahm den Ring von der rechten Hand, hielt dann aber inne, ehe sie ihn wieder an den rechten Ringfinger steckte. Woher wollte sie denn wissen, dass Enginn sie nicht übers Ohr hauen wollte? Auf leisen Sohlen schlich sie sich am Haus entlang und wagte einen vorsichtigen Blick auf die Lichtung. Noch nichts war zu sehen, doch nun vernahm auch sie die schweren Fusstritte und das laute Gebrüll, welches im Wald wiederhallte. Schon bald traten acht unförmige, dunkle Gestalten ins schwache Laternenlicht vor dem Haus. Die dunkelgraue Haut der Kreaturen spannte sich hart und dick über die muskulösen Arme und Schultern bei jeder ihrer Bewegungen und verstärkte den düsteren, rauen Allgemeineindruck. Dicke, trockene Lippen stachen aus jedem Gesicht hervor, die Augen verschwanden zwischen kräftigen Wangenknochen, einer knolligen Nase und buschigen Augenbrauen. Abgesehen davon schien ihre Körperbehaarung mässig und die wenigen Haarsträhnen hingen in fettigen Zotteln auf die Schultern herunter. Überraschenderweise unterschieden sie sich am meisten in der Grösse: Während zwei ausserordentlich kräftige Trolle wahrscheinlich doppelt so gross waren, überragten die meisten sie um nur eine Haupteslänge, vielleicht ein wenig mehr. Nur einer der Gruppe verschwand zwischen den Beinen der anderen und mühte sich offensichtlich den anderen zu folgen.
Tindra bemerkte Enginn mit der Laterne am Hauseingang. Freundlich begrüsste er die Neuankömmlinge, bevor er sie mit einer Handbewegung in sein Haus einlud. Doch der zweitgrösste Troll brummte drohend etwas zwischen seinen aufgesprengten Lippen hindurch, was Tindra nicht verstehen konnte, bevor er drei seiner kleineren Kameraden zurück in den Wald schickte und einen weiteren Schritt auf Enginn zuging. Tapfer blieb der Alte stehen auch als der Riese sich zu ihm hinunter beugte und ihn am Kragen packte, doch Tindra zitterten die Knie. Vorsichtig schlich sie sich wieder zurück in den dunklen Schatten des Hauses, während sie den Ring von ihrer rechten Hand nahm.
In diesem Moment spürte sie etwas an ihren Rücken. Flink legte sich eine raue Hand mit kurzen, dicken Fingern auf ihren Mund und liess ihren Schrei noch in ihrer Kehle verstummen. Mit all ihrer Kraft kämpfte sie gegen das Wesen an, doch der Troll zerrte sie immer weiter ins Dickicht als ob sie bloss Händchen hielten. Mit zwei glücklichen Tritten schaffte sie es dennoch, den Griff zu lockern und einige Schritte vom Angreifer weg zu stolpern. In dieser Zeit schaffte sie es, den Ring an ihren linken Ringfinger zu stecken und einen Pfad in ihrer Nähe zu entdecken. Keuchend rannte sie durch den dichten Wald und achtete nicht auf die vielen Verletzungen durch zurückschnellende Äste und Dornen oder auf die Steine und Wurzeln in ihrem Weg. Sie wollte bloss zum Pfad, zu ihrer Rettung! Die schnellen, schweren Schritte des Trolles dröhnten in ihren Ohren, trieben sie zu Höchstleistungen an.
Erleichtert setzte sie den ersten Fuss auf den Pfad, der zweite folgte sogleich, doch im selben Augenblick spürte sie den kräftigen Griff des Trolles an ihrer Hand, bevor alles vor ihren Augen schwarz wurde.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
zu

erst einmal herzlich willkommen auf der lupe.
obiges ist ja wohl nur der anfang einer längeren geschichte. ich hoffe, der rest folgt noch.
ganz lieb grüßt
 

faeldyon

Mitglied
Ein Mädchen mit blonden Haaren und grünen Augen ist in ihrer Gegend nichts Gewöhnliches. Aber das macht Tindra nicht besonders. Auch nicht, dass sie eine Lehre bei einem Schmied macht. Besonders wird sie durch die Ringe, die sie schmiedet, Ringe, die Pfade durch die Schatten in andere Sphären öffnen und sie das Abenteuer ihres Lebens erleben lassen. Mit neuen Freunden und merkwürdigen Wesen bereist sie eine Welt, aus der sie den Heimweg noch nicht gefunden hat, und erkennt bald, dass es hier um mehr geht als nur zurückzukommen.

Ich bin immer noch an den Fortsetzungen dran und hoffe, dass nicht allzu lange Pausen zwischendrin entstehen!:)

Sorry, bin noch nicht so vertraut mit den Sachen hier...

Ankunft
 

faeldyon

Mitglied
Ein Mädchen mit blonden Haaren und grünen Augen ist in ihrer Gegend nichts Gewöhnliches. Aber das macht Tindra nicht besonders. Auch nicht, dass sie eine Lehre bei einem Schmied macht. Besonders wird sie durch die Ringe, die sie schmiedet, Ringe, die Pfade durch die Schatten in andere Sphären öffnen und sie das Abenteuer ihres Lebens erleben lassen. Mit neuen Freunden und merkwürdigen Wesen bereist sie eine Welt, aus der sie den Heimweg noch nicht gefunden hat, und erkennt bald, dass es hier um mehr geht als nur zurückzukommen.

Ich bin immer noch an den Fortsetzungen dran und hoffe, dass nicht allzu lange Pausen zwischendrin entstehen!:)

Um Bewertungen und konstruktive Kritik bin ich sehr froh!!

Ankunft
 

faeldyon

Mitglied
Ein Mädchen mit blonden Haaren und grünen Augen ist in ihrer Gegend nichts Gewöhnliches. Aber das macht Tindra nicht besonders. Auch nicht, dass sie eine Lehre bei einem Schmied macht. Besonders wird sie durch die Ringe, die sie schmiedet, Ringe, die Pfade durch die Schatten in andere Sphären öffnen und sie das Abenteuer ihres Lebens erleben lassen. Mit neuen Freunden und merkwürdigen Wesen bereist sie eine Welt, aus der sie den Heimweg noch nicht gefunden hat, und erkennt bald, dass es hier um mehr geht als nur zurückzukommen.

Ich bin immer noch an den Fortsetzungen dran und hoffe, dass nicht allzu lange Pausen zwischendrin entstehen!:)

Um Bewertungen und konstruktive Kritik bin ich sehr froh!!

Ich weiss ja nicht, wie das bei euch ist, aber wenn ich bei mir auf den Titel unten (Ankunft) klicke, öffnet sich nur wieder dasselbe Fenster, von welchem aus ich geklickt habe. Könnt ihr das erste Kapitel lesen? Oder wie kann ich das beheben?? :-S

Ankunft
 

Fallanda

Mitglied
Hallo faeldyon,

bei mir öffnet sich auch die Einleitung. Vielleicht versuchst du nochmal zu verlinken oder schreibst eine Mail an einen Forenredakteur hier.

Habs trotzdem geschafft, es unter Lange Texte zu finden und mir auch mal ausgedruckt, weil es ja doch recht lang ist.

Habe es leider noch nicht komplett gelesen, weil es sich meiner Meinung nach etwas 'zieht'. Ich hatte so etwa nach dem Fest aufgehört. Die Fastvergewaltigung, die Rettung und das plötzliche Vertrauen in den, der zu Tindra immer so schrecklich unfreundlich war (auch wenn er sie gerade gerettet hat), ließ in mir Zweifel aufkommen. Das ist etwas zu viel Klischee und auch irgendwie unwahrscheinlich.

Das aber nur so als Vorabmeldung. Meld mich dann nochmal, wenn ich es komplett gelesen habe.
Übrigens,die Idee an sich gefällt mir und bin schon gespannt darauf, inwiefern alles zusammenhängt bzw. zusammengeführt wird.

Viele Grüße
Fallanda
 



 
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