Schicksalhafte Begegnung
Teil 2 von 5
Teil 2 von 5
Über zwei Wochen dauerte der Albtraum nun schon an, und er schien kein Ende nehmen zu wollen. Nach der rüpelhaften Befragung durch das FBI hatte man sie in eine Zelle der Flughafenpolizei gesteckt, in der es dreckig war und unerträglich nach Fäkalien stank.
Einige Stunden hatte sie dort ausharren müssen, bevor sie von Beamten der örtlichen Polizei abgeholt wurde, die ohne große Umschweife zur Tat schritten. Während man ihr mit strengem Tonfall den offiziellen Wortlaut verkündete, daß sie sich ab sofort in polizeilichem Gewahrsam befände, bis ihre Schuld bewiesen oder die Anklage gegen sie fallengelassen worden sei, wurden ihr zur Überführung Handschellen und eine Fußkette angelegt. Niemals zuvor hatte sie sich fürchterlicher gefühlt als in diesem Moment. Man behandelte sie wie einen Schwerverbrecher, und der Schock über die menschenverachtende Beschneidung ihrer Bewegungsfreiheit ließ sie vor Angst kein einziges Wort mehr hervorbringen.
Wie ein kleines Kind hatte sie unkontrolliert zu weinen begonnen, während man sie durch das Gebäude bis zu einem Seitenausgang führte, vor dem ein Polizeiwagen bereits wartete, und sie hatte sich noch immer nicht beruhigt, als sie nach einer schier endlos scheinenden Fahrt endlich das Polizeirevier erreichten und sie wieder in einer Zelle gelandet war.
Ein U.S. Marshal hatte sie tags darauf übernommen und hierher nach Kalifornien gebracht, wo sie der örtlichen Polizei übergeben und erneut in eine Zelle gesteckt wurde. Der Deputy-Marshal war bis dahin als einziger ein wenig höflich gewesen. Er hatte sich sogar für die Notwendigkeit der Restriktionen entschuldigt und war ihr zu verschiedenen Gelegenheiten mit einer unterstützenden Hand behilflich, wannimmer die kurze Schrittweite ihrer Fußfesseln sie hätte stolpern lassen können. Während des Fluges hatte sie ihm in kurzen Worten umschrieben, was geschehen war und dabei mehrfach ihre Unschuld beteuert. Der blau uniformierte Marshal hatte ihr geduldig zugehört und sie dann mit angenehm tiefer Stimme beruhigt, daß sie nichts zu befürchten hätte, wenn sie die Wahrheit sagte und nur etwas Geduld aufbringen müsse, bis sich alles aufklärte.
Ab dem dreißigsten Tag in Untersuchungshaft schlug ihre Furcht in blanke Wut um. Mit haßerfülltem Blick und angespannten Muskeln kauerte sie in der hintersten Ecke auf ihrer Pritsche mit angewinkelten Beinen, die sie mit ihren Armen fest umschlungen hielt und starrte durch die Streben auf die unifarben getünchte Betonwand des Flurs. Das tägliche Procedere war eintönig und das Essen schlecht. Abwechslung gab es keine. Ihre persönliche Habe nebst Kleidung hatte sie abgeben müssen, und nach einem flüchtigen medizinischen Check war ihr nichts anderes übrig geblieben als diese gräßlich praktische Gefängniskleidung anzulegen.
Es war Duschtag und neben dem gemeinsamen Essen eine der wenigen Gelegenheiten, in denen sie Kontakt zu anderen bekam. Die unteren Ebenen waren vom Rest des Gebäudes hermetisch abgeriegelt. Daher wurden die Hände der zu eskortierenden Insassen vor dem Körper fixiert und nicht, wie bei ihrer Überstellung, seitlich an einer Kette um die Taille oder hinter dem Rücken. Auf die Fußkette wurde vollständig verzichtet.
Und dennoch. Kein Schritt außerhalb der Zelle ohne Begleitung. Keine Tür, die nicht gesichert war und erst elektronisch entriegelt werden mußte, dessen immer gleiches Geräusch des Summers sich in ihr Gehirn einbrannte wie ein Alarmsignal. Und keine Verjüngung oder Treppe, an der sie nicht irgend jemand am Oberarm faßte und führte, als ob sie nicht alleine zu gehen vermochte. Es war grauenvoll, erniedrigend und demütigend, und sie ertrug es wie alle anderen, wortlos und ohne Gegenwehr - aber hoffentlich mit etwas mehr Würde. Mit stolz aufrechtem Gang hatte sie sich sogar ein verhaltenes Lächeln abgewinnen können, mit dem sie den jeweils diensthabenden Beamten zu imponieren versuchte. Insgeheim stellte sie sich dabei vor, daß man voller Ehrfurcht von ihr sprach, der kühlen Engländerin, die sich nichts anmerken ließ und ihr Schicksal mit Fassung trug.
Die heiße Dusche empfand sie als wohltuend und erfrischend zugleich, allerdings erst, nachdem sie ihre Scham abgelegt hatte. In der Schule oder im Sportverein hatte sie sich vor anderen entblößt, aber das waren Kameradinnen gewesen. Diese Frauen hingegen waren ihr völlig fremd. Selbst die Hautfarbe der Weißen war gegenüber ihrem blassen Hautton deutlich dunkler, und auch deren Sprache - obschon ursprünglich englisch - schien nicht die gleiche zu sein. Manche Ausdrücke oder Umschreibungen hatte sie noch nie zuvor gehört, und deren Bedeutung konnte sie allenfalls erahnen. Ihr war, als machte man sich lustig über sie, und sie fühlte sich begafft wie ein absonderliches Wesen aus einer anderen Welt.
Dann kam der große Tag: der erste Verhandlungstag. Der rothaarige Duncan Ferguson empfing sie im seitlichen Treppenhaus des Gerichts und begleitete die kleine Gruppe auf ihrem Weg zum Gerichtssaal, während er unablässig auf sie einredete. Die eskortierenden Beamten und auch die angelegten Restriktionen, mit denen ihre Bewegungsfreiheit erheblich eingeschränkt war, schien er nicht wahrzunehmen. Das erhebende Gefühl, endlich wieder normale Straßenkleidung zu tragen, wenn auch nur vorübergehend, hätte sie beinahe übersehen lassen, daß ihr Pflichtverteidiger an diesem Tag kein dunkelblaues Hemd trug wie sonst üblich sondern ein weißes.
Das unaufhörlich auf sie einprasselnde Gerede klang aufgeregt und war geprägt von der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit. Sie hörte ihn zwar reden, aber sie hörte nicht wirklich hin. Einzelne Begriffe wie „Gutachten“, „Aussage“ und „Bericht“ blieben noch hängen, aber erst als die Restriktionen entfernt worden waren und sie neben ihm auf der Anklagebank saß, nahm sie wieder ganze Sätze bewußt wahr.
»Sie dürfen nur nicht den Mut verlieren«, appellierte er mit einem wohltuenden Lächeln. »Es ist wichtig, daß Sie das auch nach außen zeigen. Verstehen Sie?«
»Zuversicht demonstrieren. Ja, ich verstehe, Mr. Ferguson«, antwortete sie mit einem unerklärlichen wie unbeschreiblichen Ausdruck an Gelassenheit. »Werde ich heute aussagen?«
»Nein, Mrs. Bellings, heute ist der Tag der Staatsanwältin. Sie wird mit den Zähnen fletschen, und wir werden das so unbeeindruckt wie möglich über uns ergehen lassen. In Ordnung?«
Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht, bevor sie zustimmend nickte.
Den Vorsitz führte Richter Benjamin T. Ushtley, ein korpulenter Mann in den Mittsechzigern, dessen verbliebene Haartracht fein säuberlich mit Pomade trappiert nur einen Teil des ansonsten blanken Kopfes bedeckte, und dessen Brille mit altmodischem Chromgestell ständig zwischen Hand und Nase hin und her wechselte.
Nach den üblichen Formalitäten im Rahmen der Begrüßung und der Klärung von Verfahrensfragen erfolgte zunächst das langatmige Procedere der Bestandsaufnahme. Vivian konnte den vielen juristischen Fachausdrücken nur schwerlich folgen und mußte sich auf Ihren Verteidiger verlassen, der dann und wann den vorgetragenen Anträgen der mondän und selbstbewußt auftretenden Staatsanwältin zustimmte.
Den vorläufigen Höhepunkt hatten sich die Paragraphenfechter vermutlich aus dramaturgischen Gründen für den Schluß aufgehoben, und ihr Verteidiger statuierte auf die Frage nach dem Bekenntnis der Angeklagten in ihrem Namen „Nicht schuldig, Euer Ehren“. Die Staatsanwältin nahm dies erwartungsgemäß ohne sichtliche Gefühlsregung zur Kenntnis.
Es folgte der erste Teil der Beweisaufnahme. Nach einer einführenden Ansprache der Staatsanwältin wurden Zeugen gehört, beginnend mit den Beamten verschiedener Ermittlungsbehörden bis hin zu renommierten Kräften angesehener Institute. Der Inhalt von Untersuchungs- und Prüfberichten, Protokollen und Gutachten wurde kurz umrissen wiedergegeben und gegebenenfalls von dem zuständigen Zeugen erläutert. Im Falle von Bildmaterial kam eine Art Overheadprojektor zum Einsatz, der ein gestochen scharfes Bild an die Leinwand schräg hinter dem Zeugenstand warf.
Die Staatsanwältin wurde ihrem Ruf mehr als gerecht. Ihr Vorgehen glich einem flächendeckenden Bombardement einer unbefestigten Stellung, welche dem übermächtigen Angreifer nichts entgegenzusetzen hatte. Keine der pausenlos einschlagenden und in der Reihenfolge ihrer Darlegung sorgfältig ausgewählten Indizien verfehlte ihr Ziel und beschädigten das ohnehin wackelige Gerüst der zwangsweise den ersten Ansturm abwartenden Verteidigung irreparabel, noch bevor es errichtet werden konnte.
Erst nach über sechs Stunden wurde die Sitzung vertagt.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, versprühte Ferguson bemüht unbeeindruckt seinen Optimismus und lächelte seine Mandantin dabei an. »Das ist nur das übliche Vorgeplänkel. Schon bald sind wir am Zug. Okay?« suchte er in ihren Augen nach einer Bestätigung, die nach dem unerwartet umfangreichen wie aussagekräftigen Material der Gegenseite aber nur zögerlich erfolgte.
- Ende von Teil 2 -