Schwarzgrell

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Schwarzgrell

Die undurchsichtige Kapuze über seinem Kopf störte ihn nicht so sehr wie der ständig in seiner Wirbelsäule stechende Zeigefinger des für ihn unsichtbaren Bewachers. Das eintönige Tack-Tack ihrer Schritte, die durch einen imaginären Befehlshaber in einen perfekten Gleichschritt gezwungen wurden, pochte schmerzhaft in seinen Schläfen. Es schien, als würde dieser Gang niemals ein Ende nehmen. Als er sich zu fragen begann, ob er nicht vielleicht schon tot war und dieses in verhüllter Dunkelheit dahinmarschieren durch einen unendlichen Korridor etwa sein Fegefeuer bedeutete, riss ihn jäh eine brutale Hand aus diesem Gleichschritt heraus. Diese Bewegung war einem gesprochenen Befehl gleich. Hart, heftig und Gehorsam erwartend. Sie war verlangend und drohend zugleich und der auf so schmerzhafte Art in die Wirklichkeit Zurückgeholte verstand sofort: Bleib stehen - rühr Dich nicht - sonst..!

Er verfiel sofort in eine selbstsuggestive Starre. Er war ein Brett. Er war unbeweglich. Er war ein totes Monument, hier hingestellt für die Ewigkeit oder solange sein Schöpfer ihn hier stehen ließ. Sein Bewacher ließ ein anerkennendes Grunzen hören. Außer dem harten Tack-Tack der Schritte, dem leisen Knistern der Plastikjacke um seinen Oberkörper und dem aus Schmerzen zusammengesetzten Gongschlag, erzeugt durch einen menschlichen Zeigefingerschlegel, der seinen Körper als Glocke benutzte, war dies die erste Abwechslung in dem ihm endlos scheinenden Geräuschgang. Er sog diese Abwechslung als etwas Neues, Unbekanntes, gerade erst Entdecktes tief in sich ein, kostete es aus wie ein siebengängiges Menü im besten Restaurant einer Stadt, an deren Namen er sich nicht mehr erinnern durfte.

Sein Körper stand still. Sein Geist dagegen gaukelte ihm die Fortführung der bisherigen Bewegung vor. Bevor ihm dieser Zwiespalt zum Verhängnis wurde, drehte ihn die brutale Hand herum. Ein schwacher Lufthauch schwebte wie ein Geist über seine rechte Hand. Dann stieß ihn sein unsichtbarer Bewacher lässig nach vorne.
Er stolperte einige Schritte, blieb stehen, wartete wie gewohnt auf ein Signal, ein Zeichen, einen Befehl. Die Sekunden des Wartens dehnten sich wie Schwingungen in seinem Kopf. Doch je näher sie sich seinem Schädelknochen näherten, desto weiter wurde seine Innenwelt. Dieses sich Nähern und doch nicht Erreichen ließ ihn taumeln. Dieses Taumeln und doch nicht Fallen ließ ihn auf eine Reaktion seines Bewachers warten. Dieses Erwarten und dann doch nicht Geschehende erzeugte in ihm eine langsam aufsteigende Angst, die sich, je mehr sie sich seinem Bewusstsein näherte, in eine Panik steigerte, die ihn nach Luft schnappen ließ. Je schneller er atmete, desto weniger Sauerstoff erreichte seine Lungen. Den eingebildeten Erstickungstod vor Augen, riss er sich ohne nachzudenken die Kapuze vom Kopf.

Mit einem befreienden Schrei warf er sie weit von sich, nur um unmittelbar darauf beinahe wieder in denselben panischen Zustand zu geraten. Die undurchsichtige Kapuze hatte ihm eine begrenzte, endliche und dadurch begreifbare Schwärze aufgezwungen, nun verschwand sie ungesehen in einer unendlichen, von allen Seiten auf ihn einstürmenden massiven Schwärze, deren plötzliche Existenz ihn ohne einen Laut in sich aufnahm. Aber etwas war anders.

Das Erkennen der Andersartigkeit brachte die wiederaufkeimende Panik und seine Vernunft in ein ausgewogenes Verhältnis. Er konnte wieder klar denken. Zum erstenmal seit, er überlegte, seit, seit, ach egal, jedenfalls seit seine Augen nichts mehr gesehen hatten.

Mit großer Erleichterung registrierte er sein Alleinsein in diesem Albtraum und die Gewissheit, diesmal von niemandem einen Befehl zu erhalten. Vorsichtig ging er in die Hocke. Seine Hände tasteten über einen ebenen Boden und mit einem zufriedenen Seufzen setzte er sich hin. Wer immer beschlossen hatte, ihm diese Minuten, dieses Erlebnis zu schenken, er war ihm zutiefst dankbar. Langsam, unendlich langsam ließ er sich nach hinten sinken. Er schlief mit einem Lächeln ein.

Aufwachen! Nein, nicht aufwachen! Aufwachen! Auf dem Bauch liegend, den Kopf auf seinen Unterarmen gebettet, lauschte er seiner inneren Stimme. Mit freudigem Erstaunen registrierte er den von keiner Gewalt unterbrochenen Gedankenfluss. Hellwach, mit immer noch geschlossenen Augen, konzentrierte er sich auf die Welt außerhalb seines Bewusstseins. Doch da war nichts. Lediglich sein Körperkontakt mit dem Boden verhinderte das aufkommende Gefühl, in einem unendlichen Raum zu schweben. Was hinderte ihn also daran, fragte er sich, jetzt einfach aufzustehen und die Augen zu öffnen? Seine Augen, die geöffnet oder geschlossen bisher nur in ein absolutes Schwarz gesehen hatten, sahen durch die Haut seiner Lider etwas Helles. Jetzt, wo das so lange Ersehnte kurz bevorstand, begann er sich davor zu fürchten.

Nach einer Weile holte er entschlossen tief Luft. Diesen Augenblick wollte er genießen, auskosten, sich und seinen Sinnen selber schenken. Mit immer noch geschlossenen Augen erhob er sich langsam, legte den Kopf in den Nacken und breitete beschwörend die Arme aus. In der zurückliegenden Zeit der Dunkelheit und der Qualen hatte ihm sein Unterbewusstsein schützend gelehrt, wie er die unzähligen miteinander verknüpften Ebenen seines inneren Selbst vom Jetzt trennen konnte, um nur noch auf einer einzigen, der schmerzfreien Ebene zu sein. Mit einer leichten Handbewegung verscheuchte er die aufkeimenden Gedanken über seine Folterer, die Dunkelheit, die Spritzen, die Verhöre. Er war bereit. Mit einem Jubelschrei öffnete er weit seine Augen.

Weiß! Blendendes Reinweiß. Gleißend, bohrend, brennend. Sein euphorischer Schrei verwandelte sich übergangslos in einen Ton des Entsetzens. Mit der Wucht des gesamten Universum prallte er in ein glühendes Zentrum komprimierten reinsten Weiß, dessen übermächtige Masse sekundenschnell von seinem Körper und Geist Besitz ergriff. Mit unbeschreiblichen Schmerzen prallten zuerst sein Gesäß, unmittelbar darauf seine Handrücken und Schulterblätter gegen ein massives Hindernis.

Es dauerte lange, bis er sich auf seine einzige schmerzfreie Ebene und dadurch auf sich selbst konzentrieren konnte. Auf dem Rücken liegend registrierte er die durch den Aufprall gelähmten Arme und Hände, die deshalb seine stummen Befehle gefühllos ignorierten sowie schwere Prellungen am Gesäß. Schlimmer, er hatte einen Schock erlitten, der ihm seine selbstsuggestive starre Haltung aufzwang. Gleichzeitig legten blockierte Nervenbahnen die Gesichts- und Beinmuskeln lahm. Schutzlos hatte er das unbehinderte Eindringen der weißglühenden Strahlung durch seine weit aufgerissenen Augen hinnehmen müssen.

Nachdem er sich über seinen Zustand im Klaren war, klangen die Schockwirkungen zwar rasch ab, doch die Intensität des Lichts war selbst bei den nun wieder geschlossenen Augen noch unangenehm. Mit großer Anstrengung schaffte er es, seinen Oberkörper aufzurichten und sich mit seinen Beinen solange nach hinten abzustoßen, bis er in seinem Rücken eine stützende Wand spürte. Die Arme hingen immer noch nutzlos an ihm herunter, doch ein leichtes Kribbeln in ihnen deutete er als ersten Hinweis auf den Rückgang der Gefühllosigkeit und Lähmung. Die Knie in seine Augenhöhlen pressend, verharrte er solange in dieser Stellung, bis es ihm gelang, die Arme anzuheben und als zusätzlichen Schutz gegen das anstürmende Weiß einzusetzen.

Trotz des flimmernden Weiß nickte er immer wieder ein. Als er sich schließlich kräftig genug fühlte, begann er seine Suche nach der weggeschleuderten Kapuze. Auf den Knien langsam an der für ihn unsichtbaren Wand entlangrutschend, tastete er jeden aus dieser Position erreichbaren Fleck ab. Bei der fünften gezählten Ecke beendete er seine ergebnislose Suche. Er hatte den Raum einmal umrundet und in dieser Zeit die wenigen Fakten geordnet, Schlüsse gezogen und nach einem Ausweg gesucht. Seufzend legte er sich wieder auf den Bauch, presste seinen Kopf in die Ecke, schützte mit seinen Armen die Augen und schlief tatsächlich ein.

Dank der antrainierten Disziplin in der Zeit der Dunkelheit bewegte er sich nicht einmal im Schlaf. Nach dem Aufwachen blieb er so liegen und gestand sich die Wahrheit ein. Entweder sie holten ihn irgendwann wieder hier raus oder er würde verdursten. Seit drei Tagen hatte er nichts mehr zu sich genommen, viel Zeit verblieb ihm also nicht.

Die Augen fest geschlossen lehnte er sich wieder mit dem Rücken an die Wand. So blieb er sitzen, Minute für Minute, Stunde für Stunde. Zunächst grübelte er noch zielgerichtet. Doch je mehr Stunden vergingen, desto öfter schweiften seine Gedanken ab. Bis er keine Kraft mehr besaß, sie zurückzuholen. Sein Geist machte sich selbständig. Ihm war es gleichgültig. Irgendwann später stellte er mit leichtem Erschrecken fest, schon länger ohne Probleme mit offenen Augen dazusitzen. So wie er früher die Dunkelheit zu einem Teil seiner Existenz machte, füllte diese Lücke jetzt die weiße Lichtflut aus. Im Gegensatz zu seinen bisherigen Erfahrungen allerdings wurde er so allmählich ein Teil dieser Umgebung.

Sein ungelenkter freier Geist entdeckte in dem gleißenden Flimmern eine chaotische Ordnung, die ihn aufzufordern schien, in diesem Reigen mitzumachen. Satzgebilde wie Das unbewusst Wollende hält das bewusst Seiende am Leben und Die Realisation kann nicht stärker als der ursprüngliche Gedanke sein, da dieser bereits deren Grenzen bestimmt tauchten urplötzlich auf und nisteten sich in einer unbegreiflichen Ordnung bei ihm ein.

Seine Augen durchschweiften die Unendlichkeit der wabernden Helle, er ritt auf sonnenhellen Flimmerteilchen und plötzlich begriff er die Gesetze der chaotischen Ordnung. Voller Ekstase reihte er sich irgendwo ein, machte seine ersten Erfahrungen noch mit einer naiven Freude an dieser Form des Seins. Immer mehr identifizierte er sich als einen Teil davon, immer schneller ließ er Überholtes zurück. Mit einem orgiastischen Schrei, hier ein Abschied, dort eine Begrüßung, überwand er die Grenzlinie. Unendlichfach hörte er: WILLKOMMEN .
 



 
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