Seelenbild

3,50 Stern(e) 2 Bewertungen
Seelenbild


Und nun sitz ich hier. Alleine, vor meinem Malblock. Er ist groß, ich habe das größte im Geschäft angebotene Format gewählt. Ich wollte Platz haben. Viel Platz; für mich, meine Gedanken und Gefühle... Ich wollte mein Seelenchaos, meinen inneren Nordpol, der an die Sahara stößt, bildlich darstellen. Grobe, dicke Pinselstriche sollten überwiegen, federleichte Züge sollten im Hintergrund stehen. Mein Bild sollte den Betrachter erschrecken, er sollte die Hand vor den Mund legen und verwirrt zurücktreten. Nein, mein Bild sollte nicht "leicht verdaulich" sein!
Ich wollte mit dem Pinsel in Farbe tauchen, ihn im Blau und Schwarz ertränken und anschließend mit Sonnenstrahlen gegen die bedrohliche Tiefe ankämpften. Das Gelb sollte das Dunkle nicht verdrängen. Es sollte kämpfen, dabei aber ganz klar der schwächere Spieler sein.
Ich wollte kein Stückchen Papier durchschimmern lassen, das Blatt sollte sich mit Wasser voll saugen. Immer mehr Farbe wollte ich auf den Bogen klatschen, Zentimeterdick sollten die Farbschichten aufeinander liegen.
Der Rahmen steht neben der Tür. Ein neuer Glasrahmen, noch in Styropor und Plastikfolie eingepackt. Und mein Blatt ist leer. Weiß. Gähnende Leere.
Das Weiß ist so weiß, so leer, so hell - es ist aggressiv! Es kläfft mich an, bedroht mich fast.
Andererseits lädt es mich ein, es zu gestalten. Schließlich ist es dazu da, bemalt zu werden.



Ich fühle mich leicht, leicht wie eine Feder die vom Flussufer, an dem die Schwanenfamilie ihre Jungen vorführt, über die Frühlingswiesen, auf der erste Krokusse ihre Köpfe aus der Erde strecken, fliegt.



Besteht also doch noch Hoffnung? Werde ich doch etwas malen können? Gefühle sind der Schlüssel zum Unterbewusstsein, zur Seele - oder nicht?

Mutig nehme ich einen Pinsel in die Hand. Den Größten von allen, den mit den meisten und längsten Haaren. Er hat keine Borsten, er hat Haare. Weiche Haare, die sich den Höhen und Tiefen des Untergrundes anpassen, über den sie streichen. Schwanenfedern sind auch weich. Nicht alle, aber die kleinen.
Ich streichle mit dem Pinsel mein Gesicht, schließe dabei die Augen. Ein leichtes Kribbeln durchfährt meinen Körper, ich zucke zusammen und lächle. Noch einmal streiche ich die sauberen Pinselhaare über meine Haut und erstaune, wie sensibel ich bin!
Mit der Erinnerung an dieses Gefühl, tunke ich den Pinsel in die blaue Farbe. Ich halte ihn eine Weile über den Farbtopf, sodass Überschüssiges wieder zurück perlen kann.
Ich will nicht sehen, was ich male - schließlich soll meine Seele sprechen, oder besser gesagt, malen. In der rechen Hand halte ich den Pinsel, mit der linken halte ich den Block. Vorsichtig lege ich den Kopf in den Nacken, gerade so, dass es nicht weh tut, und starre an die Decke. Ich atme tief ein und aus. Beim nächsten Atemzug werde ich den Pinsel über das Papier gleiten lassen.
Einatmen, Augen zu und ... wusch, saust der Pinsel über den Block.
Erleichtert atme ich auf: Ein zwei Finger breiter, blauer Strich teilt das Blatt quer entzwei. Der erste Schritt sei geschafft.
Aber er gefällt mir nicht. Nein, der ozeanblaue Strich auf meinem Blatt gefällt mir nicht! Verdammt! Er wirkt mickrig, schwach - und gerade ist er auch nicht!
Ich bin wütend auf mich. Nicht mal einen Strich kann ich malen! Das, was ich gemalt habe, sieht eher wie die Wasseroberfläche eines siffigen Moores aus, auf dem Autoöl schwimmt und in dessen Grund löchrige Gummistiefel versunken sind. Am Ufer ist das Gras zertrampelt, schon ganz braun, weil es auf dem Gebiet einer großen Automobilfirma liegt. Und dort achtet keiner darauf, ob er mit dem LKW fünf Meter zu weit zurücksetzt.


OK, im Leben hat man immer zwei Chancen. Also auf ein Neues! Woher der Optimismus kommt? Die Sonne wirft ihre Strahlen gerade durch das Fenster auf mein weißes Blatt...
Ich reiße das Blatt, mit dem verhunzten Strich vom Block, atme tief ein und aus, Augen zu und: Ah, das ist gut! Ja, das fühlt sich gut an.
Die Augen immer noch geschlossen, weiß ich, dass ich diesmal zufrieden sein werde. Ich male nicht, ich tupfe! Immer wieder tupfe ich blaue Punkte auf den Bogen. Große und kleine.
nach einer Weile öffne ich die Augen wieder. Der Pinsel muss wieder in Farbe getunkt werden. Und das Bild?
Ja, das Bild ... sieht irgendwie ... komisch aus... So unregelmäßig, aber auch nicht wirr genug um als verworren gelten zu können.


Vielleicht muss man erst lernen nach der Seele zu malen...?
Nein, ich frage jetzt NICHT, WAS eine Seele ist. Das "kann" und "will" ich jetzt verstehen. Wozu auch?
Fest steht: Ich glaube, eine Seele zu haben. Und die will ich jetzt malen, beziehungsweise ich will sie malen lassen.
Bin ich jetzt einen Schritt weiter, oder nur vier zurück und vier vorwärts?


Schwindelig nehme ich ein neues Bild, wasche den Pinsel aus, nehme etwas von der Schwarz und male. Ich summe ein Lied und male schwarz auf weiß. Mein Handballen streicht über das Blatt, die Pinselhaare biegen sich oder schweben über dem Papier - auf meinem Bild wird getanzt! Von Walzer und Cha Cha Cha über Flamenco, Ballett und Derwischtänze - mein Pinsel kann alles! Ich kann alles!
Schon bald bemerke ich ein Lächeln, stelle fest, es fühlt sich gut an. Es ist schön zu lächeln und ich male und male und irgendwann ist das Bild voll. Kein weißes Plätzchen auf dem ein Einzeller Platz hätte ist mehr zu entdecken. Das weiße Blatt Papier ist verschwunden - ein Bild, das vor Blumen, Jonglierbällen und Weihnachtsbäumen nur so strotzt ist entstanden.
Ich kann weder Regeln, noch Regelmäßigkeiten oder Wiederholungen feststellen. Auch sind keine geometrischen Figuren zu entdecken. Nein, es gibt nicht, was mich an irgendetwas erinnert.

So wollte ich es! Genau so und nicht anders.
Zwar kann ich weder den Nordpol, noch die Sahara entdecken. Aber die Krokusse, die kann ich riechen.
 



 
Oben Unten