Seelenvirus.

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rocketboy

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Seelenvirus.

Ich konnte mir selbst nie Schmerzen zufügen, dazu fehlte mir der Mut. Mich selbst zu schneiden, das habe ich nicht geschafft. Oft stand ich mit dem Messer da, hatte es angesetzt an der weißen Haut meines Unterarmes, und versuchte deren Oberfläche zu ritzen. Aber über einen schmalen weißen Strich, an dem meine Haut ein wenig aufgeraut war, bin ich nie hinausgekommen. Deshalb genieße ich es jetzt so, mit der Katze zu spielen. Klar, die Kratzer auf meinem Arm sehen nicht besonders schlimm aus. Sie sind auch nicht sonderlich tief, haben kaum geblutet. Aber zubeißen kann die Katze ganz schön fest. Wenn ich sie ein wenig reize, und ihr den Bauch kitzle, dann packt sie mein Handgelenk, verbeißt sich in meiner Handfläche und tritt mit den Hinterbeinen gegen meinen Arm, auf dem ihre Krallen kleine Wunden hinterlassen. Auch wenn es weh tut, höre ich nicht auf, sie weiter zu ärgern und entziehe ihr nicht meine Hand. Irgendwann beißt sie mit ihren Zähnen so fest in meinen Daumenballen, dass ich nichts mehr fühle, abgesehen von diesem körperlichen Schmerz. Wenn du so einen großen außerordentlichen Schmerz verspürst, dann ist alles andere auf einmal weg, es ist nicht nur einfach überdeckt, für einen Moment sind all diese anderen verdammten Gefühle irgendwo außerhalb deines Inneren und huschen dir erst wieder ins Gemüt, wenn die Konzentration des körperlichen Schmerzes nachlässt.

Es ist ja nicht mal so, dass mich ein seelisches Leiden sehr stark bedrücken würde. Es ist eher so, dass da dieses Gefühl ist, und das ist so unheimlich traurig, so blechern und hohl, so nass von Tränen, die ich noch nicht geweint habe. Wenn du in dieses Gefühl hineinrufst, dann verschlingt es deine Stimme wie ein hungriges schwarzes Loch, und wirft dir keine Antwort zurück, geschweige denn dein Echo. Es kann deine Gedanken auffressen und wenn du nicht aufpasst, dann saugt es auch deine Blicke, deine Worte, dein Wesen auf, so als wärst du der letzte Idiot auf Erden, der weder reden noch schweigen kann. Das Tückische an diesem Gefühl ist seine Virulenz. Lange lauert es tief in dir drinnen, und wenn du abgelenkt bist, mit Freunden deine Tage verbringst und im Rausch deine Nächte, wenn du Spaß hast und dir einen guten Ich-Zustand attestierst, dann merkst du gar nicht, dass es da ist. Aber wehe, du verlebst einen fad schmeckenden Sonntag alleine bei dir zuhause, erträgst seit langer Zeit deine eigenen vier Wände zum ersten Mal wieder mit der Gewissheit, dass du ihnen nicht auskommst, denn wohin könntest du auch gehen? Das eigenartige Licht, das durch den wolkenbedeckten Himmel gefiltert wird, dringt weiß durch deine Jalousien und ätzt dir jede Fähigkeit, eine Entscheidung zu treffen, weg. Und dann, wenn du das dritte Buch weglegst, weil du dich doch nicht darauf konzentrieren kannst, wenn du zum wiederholten Mal den Fernseher aufdrehst, nur um ihn wieder abzudrehen, wenn du das Telefon ansiehst, als könnte es allein dir sagen, wen du anrufen sollst, genau dann kommt dieses Gefühl in dir hoch und schwemmt dich weg.

Stell dir einfach vor, du würdest auf dem Grund eines ausgetrockneten Brunnens sitzen. Du weißt zwar, dass es Luft ist, die du atmest, aber kämst du dir nicht doch so vor, als würdest du gerade ertrinken, weil du Wasser in deine Lungen saugst? Auch wenn schon lange keiner mehr von diesem Brunnen trinken konnte, allein das Wissen von der Existenz des Wassers, das da vor dir war, hält es lebendig und in der einen Realität atmest du Luft, in der anderen aber, von der du merkst, das sie nur durch eine kleine Verschiebung im Raum-Zeit-Kontinuum zu erreichen wäre, atmest du Wasser. Jetzt sag mir, würdest du nicht an der Luft ertrinken? Genauso verhält es sich mit dem ach so traurigen Seelenvirus, der in mir steckt. Ich verrecke an ihm, egal ob er an meiner Hautoberfläche kratzt oder im letzten Winkel meines Körpers sitzt und schweigt. Weißt du was? Es ist ganz einfach.

Ich beschließe zu sterben, jeden Tag ein bisschen.
 

Herzog

Mitglied
Sehr genau beobachtet ...

... und unprätenziös beschrieben: Dieses Hintergrundggefühl eines abgesicherten und vielleicht gerade deshalb ins Leere laufenden Lebens. - Diese Unfähigkeit, sich selbst zu akzeptieren, mit sich selbst im Reinen zu sein, Selbstgewissheit zu verspüren auch ohne das Echo der Außenwelt! Dieses Empfinden von Isoliertsein! Dieser Wunsch nach Außenbeziehung, nach Berührung mit der Welt, sei es auch um den Preis der eigenen Verletzung!

Angefangen von dem Milchtritt und Milchbiss des Kätzchens bis hin zu dem Gefühl des tageweisen Dahinsterbens - alles Erfahrungen, die von mir geteilt werden.

Deshalb und wegen der bemerkenswerten sprachlichen Präzision uneingeschränkte Anerkennung für deinen Text.

Gruß, Herzog
 



 
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