Steiniger Weg

Steiniger Weg

Mit geflüstertem Gruß verlasse ich das Bistro und ziehe den Mantelkragen hoch. Stattlich erhebt sich mir gegenüber der verbliebene Rest der Stadtmauer. Ehrfürchtig vor den Geschichten der Geschichte, die niemand kennt, blicke ich hoch und richte mich darin ein und aus, versonnen in meiner Geschichte, die ich mir hererinnere, die ich jetzt auf die Steinwand projiziere. Sie fügt sich ein in die Fugen der Steine, die im Schein der Straßenlampe verschwimmt, sich zu Gesichtern verwandelt, zu Buchstaben, Runen, Hieroglyphen, dann wieder Steine werden, brüchig und fest zugleich, wie das Leben selbst. Wieder Gesichter, nicht mehr fremd, aus den abgelaufenen Zeiten meines schmalen Daseins, eingezwängt von Mauern der Moral und Regeln, über die Buchstaben fließen, tanzen, sich zu Begriffen verbinden, die kurz aufglimmen, dann wieder erlöschen. Hoffnung. Liebe. Glauben. Kurz verziehen sich meine Lippen, setzen zu einem Lächeln an, da erkenne ich mich auf der Wand, zu einem Relief erstarrt, das sich bewegt, die Beine hebt und senkt und auf der Stelle tritt. Bruchstücke irgendeines Jazzsongs holpern aus dem Bistro in die Gasse, streifen mein Gehör. Einen Lidschlag der Augenblicke schweigt die Stadtmauer, als lausche sie diesen oder anderen Klängen oder auf meine Atemzüge und ich sehe mein sich verrenkendes Relief, das versucht zu tanzen. Da torkelt ein Betrunkener die Gasse ab, unverständlich lallend, hin und her. Schwankend bleibt er stehen, stützt sich mit der Rechten an der Stadtmauer ab, dann lehnt er sich kopfwackelnd mit der Schulter an, beugt den Oberkörper und kotzt sich, Spuren hinterlassend, an der Stadtmauer aus. Ein Kommentar zur Weltgeschichte. Lächelnd lehne ich mich zurück, der Trunkenbold schwankt weiter, verschwindet in der Nacht. Damals, kommt mir in den Sinn, hinausgekotzt in die Welt! Mit einem Ruck löse ich mich von der Wand und dem Betrachten, mache mich auf den Weg in die Nacht, die schwer atmet. Die Stadtmauer hinter mir löst sich auf in der Dunkelheit und verschwindet. Langsam, mit kleinen Schritten, betrete ich die Nacht.


Martin Kirchhoff
 



 
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