Taubentod

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Daunelt

Mitglied
Taubentod

In der U-Bahnstation an der Konstablerwache, dort wo es am schmutzigsten ist, liegt seit Stunden eine Taube und stirbt. Flach hingeduckt, in grotesk verzerrter Stellung, versucht sie mühsam, den trampelnden Füßen auszuweichen. Zwei heftige Tritte hat sie schon abbekommen, und das ist wenig bei der Hektik hier unten. Es ist nicht Achtung vor der Kreatur, sondern Ekel und Abscheu, die den Schritt eine halbe Sekunde abbremst und zum Ausweichen zwingt. Immer näher ist der Vogel an den Bahnsteigrand gerutscht; da geht es - aus der Sicht eines so kleinen Wesens - tief hinab in die Regionen der Unterwelt. Ratten leben dort in den Abfallhaufen und sammeln Zigarettenfilter für ihre Nester, daß Schienenband hebt sich im Halbdunkel kaum vom verrußten Split und den Glasscherben ab.

Alle drei Minuten im Schnitt fährt ein Zug ein, verbindet die Vororte und Stadtteile mit dem unruhigen Herzen der Stadt. Der Zielanzeiger klappert ohne Pause, die Ansagen, vom Band abgespielt, immer im gleichen Tonfall, weisen die Richtung. Bei diesem Bahnsteig, als er vor so vielen Jahren angelegt wurde, haben die Stadtwerke nicht an Aufwand gespart: sauber wurden hochwertige Bodenplatten Fuge an Fuge verlegt, Papierkörbe in reichlicher Anzahl angebracht, Schautafeln und Piktogramme montiert, die Wände farblich abgestimmt und dekoriert. Jetzt starrt hier alles vor Schmutz und Glibber, Graffitis an allen erreichbaren Flächen, in den Winkeln trocknen Urinlachen. Ein müder Arbeiter, in blau und orange gekleidet, kratzt mit einem Schaber Kaugummis aus den Fugen, schiebt sie mit gleichgültiger Bewegung ins Gleis. Die Taube versucht, auf den verdrehten Flügel aufgestützt, in seine Nähe zu kommen; vielleicht hat sie Glück und er kürzt ihre Qual mit einem Hieb seines Werkzeuges ab. Aber unrealistische Hoffnungen sind trügerisch, und der Mann wendet sich der seit Wochen defekten Rolltreppe zu.

Ach, so sterben, hier im Neonlicht, zwischen Rentnern, Yuppies und Schichtarbeitern, so hatte sie es sich nicht ausgemalt. Auch Vögel wissen, das ihre Tage abgezählt sind. Freilich haben sie mit ihren kleinen Hirnen nicht solch tiefphilosophische Gedanken wie wir Menschen. Sicher sah sie sich auf einer leidlich sauberen Wiese sterben, auf dem Rücken langsam ausatmend, unter dem Himmel, am Abend, beim Licht der ersten Sterne. Da gleichen sich die Schicksale von Menschen und Tauben, die Wirklichkeit holt die Träume ein und erwürgt sie gnadenlos - und sei es nur die Illusion von einem milden Tod.

Die nächste U-Bahn wird angekündigt, Richtung Hauptbahnhof, direkt in den Brennpunkt der städtischen Agonie, mitten zwischen die Nutten und Junkies. Schnell, rasend schnell fährt sie ein, fast könnte man meinen, sie würde durchfahren, der Sog reißt die Taube über den Bahnsteigrand, ein halber Lidschlag nur, wirbelnde Federn, ein rasch trocknender Fleck auf dem Gleis. Die Reisenden drängen in die Wagen, eine alte Frau redet mit sich selber, zwei Jugendliche kicken lachend eine Bierdose vor sich her.
 

hellbender

Mitglied
Hallo, das hat was! Mir gefällt deine Beobachtungsgabe und die Perspektive der Taube. Eine traurige Geschichte, die nachdenklich macht.
Den zweiten Teil würde ich weglassen. Brauchst du den? Ich finde ihn überflüssig, sogar störend.

vlg hellbender
 
N

nobody

Gast
Gleicher Ansicht wie Hellbender. Und wenn dann noch die paar kleinen Rechtschreibfehler ausgemerzt würden, wäre das für mich ein richtig guter Text - wenn nicht gar ein "Spitzentext"!
Franz
 

Daunelt

Mitglied
Hallo,

Danke für die Kommentare, freut mich, daß Euch der Text gefallen hat. Schade nur, daß der zweite Teil nicht ankommt. Ich hatte diesen Part mit der etwas religiösen Note beim Schreiben gerade als besonders "stark" und bewegend empfunden. Aber da alle Rückmeldungen es anders sehen, habe ich es herausgenommen, auch die zwei (mehr fand ich nicht) Rechtschreibfehler korrigiert.

Einen schönen Restsonntag wünscht

Daunelt
 
N

nobody

Gast
Einige subjektive Anmerkungen:
...da geht es - aus der Sicht eines so kleinen Wesens - tief herab (m. E. sollte es tief [blue]hinab [/blue]heißen) in die Regionen der Unterwelt. Ratten leben hier (nicht hier, sondern [blue]dort[/blue], weil unten) in den Abfallhaufen und sammeln Zigarettenfilter für ihre Nester, [strike]daß [/strike](objektiver Rechtschreibfehler: [blue]das[/blue]) Schienenband hebt sich im Halbdunkel kaum vom verrußten Split und den Glasscherben ab.
auf dem verdrehten Flügel aufgestützt
= mir würde "auf den verdrehten Flügel gestützt" besser gefallen.

Aber unrealistische Hoffnungen sind trügerisch und er wendet sich der seit Wochen defekten Rolltreppe zu.
= perspektivisch korrekt sollte es heißen:
"Aber unrealistische Hoffnungen sind trügerisch ([blue]Komma[/blue]) und [strike]er [/strike][blue]der Arbeiter [/blue]wendet sich der seit Wochen defekten Rolltreppe zu.

Ansonsten: Der Text hat durch die Streichung des letzten Absatzes enorm gewonnen
Gruß Franz
 

Daunelt

Mitglied
Hallo Franz,

nochmals Danke. Habe entsprechende Änderungen vorgenommen. Den falschen Einsatz von das/daß wirst Du bei mir noch des öfteren finden, stehe damit seit der Grundschule auf Kriegsfuß ;-)

Bis demnächst

Daunelt
 
O

Orangekagebo

Gast
Gut geschrieben Daunelt, aber was mich mitunter stört, ist die Perspektive. Taube oder Erzähler? Einerseits die Bitterkeit des Federviehs, andererseits die überflüssige dritte Person. Entweder ich schlüpfe in die Taube und leide mit, oder ich bin als Mensch betroffen über das einsame Schicksal.

Vielleicht wäre es besser, komplett bei der Taube zu bleiben. Zu viel Theorie drum herum.
z. B. ... Alle drei Minuten fährt ....

Aus der Sicht der Menschen ist es dreckig am Bahnsteig. Ist eine Taube so intelligent, das ebenso zu sehen? Für die Taube ist alles Nahrung usw. Ich glaube, dass es authentischer wäre, die Gedanken des Tieres zu kürzen, zu versimpeln.

Also, Daunelt, ich kann mich dem Lob der Vorredner nicht so einfach anschließen. Guter Ausdruck und auch Traurigkeit im Kern, aber die Umsetzung sollte nochmals überdacht werden - aus meiner Sicht.

LG, orangekagebo
 

Daunelt

Mitglied
Hallo Orangekagebo,

über Deine Anregung habe ich nachgedacht, weiß aber nicht so recht, ob ich dem folgen kann (will). Die Worte sind schon die einer dritten Person, eines Menschen, der dass Sterben der Taube beobachtet und sich darüber - menschliche - Gedanken macht. Rein biologisch gesehen kann die Taube nicht nur den Bahnsteig nicht als schmutzig empfinden, sondern auch nicht über ihren Tod reflektieren, es bedarf demnach aus meiner Sicht des Erzählers, sonst würde eine ganz andere Sache daraus.

Liebe Grüße und einen guten Start in die Woche

Daunelt
 
O

Orangekagebo

Gast
... aber dann vermischen sich die Gedanken des Tieres zu sehr mit denen des Erzählers.
Es würde vielleicht deutlicher werden, wenn Du den Erzähler personifizierst. Einer, der beobachtet, leidet und sich den Schmerz der kleinen Taube vorzustellen vermag. Dann wird der Text "für mich" emotionaler. Vielleicht ein Jüngling, der den Todeskampf beobachtet, den Wahn der Menschheit um sich sieht ohne Zeit für die Tragik der Taube. Ein hektisches Gewusel, dem wir alle verfallen sind ohne Sinn für den Augenblick.

So was in der Art von "Karl, der Käfer". Ich weiß nicht, ob Du das Lied noch kennst. "Karl, der Käfer, wurde nicht gefragt. Er wurde einfach davon gejagt..."

Auch Dir einen Guten Start in die Woche, Daunelt.
 



 
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