Teenagerträume
Ein Autokorso rollt in der Nacht mit Martinshorn und Blaulicht in den Kiez von Vogtlandgrün. Tatü tata! Tatü tata! Diese lauten Geräusche gehen mir durch Mark und Bein. Ich drücke beide Handflächen an meine Ohren.
Grelle Scheinwerfer erhellen unsere Wohnstraße mit ihrem maroden Charme. Die Herren des Bereitschaftsdienstes stürzen aus ihren Fahrzeugen. Eine gespenstige Kulisse baut sich vor mir auf. Aus diffusen Umrissen erkenne ich vertraute Ge-sichter. Li steht im Arztkittel an einem Abhang. Mama hebt warnend ihren Zeige-finger. Meine Freundinnen Mona, Margit und Tina reden heftig auf mich ein. Dann lachen sie wieder und schütteln mir Glückwunsch bringend die Hand. Großmama sitzt in ihrem schönsten Kleid auf einer Nebelbank und nimmt mich liebevoll in die Arme. Plötzlich stürze ich in Wasserwogen. Es scheint, als würden mich die Pforten der Hölle verschlingen.
Im nächsten Moment gehen zwei schwarz gekleidete Personen mit Trauermiene bedächtig auf mich zu. In ihren Händen tragen sie ein weißes Tuch. Sie sehen Alf und Bertl, meinen derzeitigen Herzbuben, ähnlich. Das Gesicht eines Dritten zeigt sich schemenhaft, als ein abrupter Szenenwechsel folgt.
Drei männliche, gut aussehende Wesen reiten im halsbrecherischen Galopp zum Ufer. Ihre lockigen Haarmähnen wehen im Wind. Sie bewegen sich rasant auf mich zu. Näher und näher. Gerade so, als wollen sie mich mit ihren Pferden niedertrampeln. Ich will schreien, jedoch meine Stimme versagt.
Ein goldener Schein umhüllt dieses schauderhafte Szenario, als ein engelhaftes Geschöpf mit Bambiaugen auf mich zukommt. Es greift rettend ein, bevor der Teufel sein Licht für mich zündet.
Mit einem Mal sitze ich schweißgebadet im Bett meiner Mädchenkammer. Was war das? Ich fühle mich wie gerädert und im Dämmerzustand verbringe ich die restliche Zeit bis zum Weckerläuten. Danach taumle ich über die knarrenden Erkerdielen zum Außenwaschbecken. Seit Tagen meide ich die elterliche Woh-nung in der dritten Etage. Bewusst. Das Kommunikationsband zu meiner Mutter ist derzeit arg porös.
Die Erinnerung an meinen verwirrenden Traum verblasst innerhalb weniger Stunden am Arbeitsplatz. Ich bin an diesem Freitagvormittag unkonzentriert. Mehrmals unterbreche ich das Fakturieren der Rechnungen, über diverse Spitzen- und Gardinenlieferungen unserer Versandabteilung. Spontan wandert mein Blick durchs Fenster, in das grüne Areal des Hinterhofes unserer Firmenzweigstelle. Dabei trifft mich der vorwurfsvolle Blick meiner sympathischen Chefin. Flugs widme ich mich wieder meiner Aufgabe als Sachbearbeiterin.
In der Mittagspause gehe ich ausnahmsweise nicht mit meinen Kollegen in die Kantine. Stattdessen verlasse ich das Großraumbüro im Souterrain und trete durch die nächste Tür in den beschaulichen Betriebsgarten. Ich hocke mich auf die rustikale Holzbank unter einer schattenspenden Birke, kicke mir die Riem-chensandaletten von den Füßen und lasse meine Beine über den Rasenteppich baumeln. Meine Zehenspitzen berühren die Blütenkelche der Gänseblümchen. Herrlich! Im Wolkenorchester spielt heute die Sonne die erste Geige.
Ich setze mich gedanklich mit diesen dämonischen Traumschlieren auseinander. Was bedeutet diese nächtliche Bildersprache meines Gehirns? Wie soll ich diese pseudonymen Botschaften meines Unterbewusstseins interpretieren? Missgeschi-cke? Katastrophen? Damit bin ich derzeit reichlich bedient. Das wische ich mir schnell von der Backe.
Schicksal halte dich zurück. Bereits als Kindergartenknirps hast du mir einen tiefen Kratzer in meine Seele geratzt. Inzwischen habe ich mich mit meinem Handicap arrangiert, das sicher irgendwann verschwindet.
„Herrje! Welche Macht bestimmt, was mit uns Menschen passiert? Stell dich, du imaginäre Person!“ sage ich laut und schlage mit der offenen Hand auf den Sitz.
Mir wird angst und bange. Aus Erfahrung weiß ich, dass ein Teil meiner Träume stets Wirklichkeit wird. Trotzdem - ich bin Optimist. Die Dinge werden sich in meinem verzwickten Lebenshaus zur rechten Zeit entwickeln. Jawohl!
Nichts wünsche ich mir mehr, als Harmonie im Elternhaus. Das Vertrauen gegenüber meiner Mutter ist durch ihre diversen Schnüffeleinsätze in meinen Freizeitaktivitäten arg geschädigt. Für diesen irreparablen Konflikt muss ich eine Lösung finden, die uns beiden gerecht wird. Es ist doch absehbar, dass ich mein Single-Dasein beende, meine eigene Familie gründe, sobald Mister Right vor mir steht. Hola! Was ist, wenn ich ihn nicht erkenne, machen sich Zweifel breit.
Die Zeit ist mein Freund. Sie führt mich ins ersehnte Ziel. Am Tag X habe ich ein Rendezvous im Standesamt. Hoppla, ohne Bräutigam? Mein Bauchhirn spielt verrückt. Tzas, Klein-Cleo, geht’s noch? Nix überstürzen. Was soll diese Tor-schlusspanik? Ich bin Neunzehn!
Warum ist es so verdammt schwer erwachsen zu werden. Ein Seufzer löst sich aus meiner Kehle. Oh, ich schau auf die Armbanduhr, meine Pause ist vorbei.
Stunden später stürme ich aus dem Betriebstor. Juchhu! Feierabend. Wochenende heißt das Zauberwort.
Meine Füße tragen mich durch die pulsierende Innenstadt. Auf dem steil abfallen-den Fußgängerboulevard, der Bahnhofstraße, quietschen Straßenbahnen, die vom zentralen Gleisdreieck, dem Tunnel, Fahrgäste in alle Stadtteile chauffieren.
„Hei, Cleo.“ Margit wedelt mir aufgeregt am Mühlberg, unweit meines Zuhauses, entgegen.
Die älteren Gebäude links und rechts des Gehweges sehen aus wie Puppenhäuser. In ihren Minifenstern spiegelt sich die pralle Nachmittagssonne.
„Alles im grünen Bereich? Was macht dein Liebes-Roulette?“ Sie stöhnt beim Heraufkraxeln des fast senkrechten Hausberges in unserem Wohngebiet.
„Ach. Es dreht sich. Nur mit meiner Erziehungsberechtigten liege ich derzeit arg im Clinch. Sag mal, kann man seine Mudds zur Adoption freigeben?“ antworte ich im komödiantischen Tonfall.
„Waaaas? Naja, nach all dem Zoff mit deinen rosafarbenen Briefchen und Tage-buch, kann ich deinen Zynismus nachvollziehen. Glücklicherweise hast du deinen Humor nicht verloren.“
„Schade, seit dem Ende unserer Azubi-Ära, sehen wir uns wochentags selten.“
„So ist das Leben, auch uns hat jetzt die Alltagskralle voll im Griff.“
„Stimmt das neueste Freund-wechsel-dich-Gerücht über dich und deinen Ersti-Lover?“ will Margit wissen.
„Das da heißt?“
„Derzeit aus.“
„Derzeit? Diesmal ist Li für immer aus meinem Herzen verbannt“, bejahe ich überzeugt.
„Toi, toi, toi für deine prekäre häusliche Lage. Ich fahre dieses Wochenende zu meiner Schwester. Vielleicht sehen wir uns zum nächsten Tanzknüller“, ruft mir Margit im Weitergehen noch zu.
Versonnen winke ich meiner Schulfreundin nach. Beim Überqueren des Stegs über dem Mühlgraben kann ich mir ein verschmitztes Lächeln nicht verkneifen. Dieser fesche Haudegen Li ist vor Jahren genau an der Stelle stehen geblieben, halte ich am Brückengeländer inne. Ein Mosaik der Erinnerungen zeichnet sich hinter meiner Stirn ab. Jugendliebe ist ein Phänomen, weiß ich heute. Das alte Mühlenrad starrt mich an, während das Bächlein wie eh und je vor sich hinplät-schert. Eilig gehe ich über das Kopfsteinpflaster, bis zu meinem Wohnhaus mit der Nummer 6. Die roten Ziegel der Hoffront blinken hinter der großen Erle im Garten hervor.
In wenigen Monaten begrüßen wir mit Pauken und Trompeten das neue Jahr-zehnt: 1970. Mit welchem männlichen Juwel werde ich wohl zur Silvester-Fete anstoßen? Es gibt da schon ein paar Anwärter …
Als ich meine Giebelkammer betrete, löst dieser Plausch mit meiner ehemaligen Mitschülerin eine Gedankenwulst aus. Mir schwirren die Ereignisse vergangener Jahre durch den Kopf. Im Schnelldurchgang. Ein Bild jagt das andere.
Tja, bisher erlebte ich Liebe und Beziehungen als vergnügliches Herzflattern. Ich spielte mit Worten und Gesten, meine Art Gefühle auszudrücken. Dabei setzte ich meine weißen Steine im Liebesschach mit der kompletten Skala der Emotionen. Ständig verknallt in irgendeinen maskulinen Typ, gönnte ich meinen verliebten Stirnlappen keine Erholungsphase. Seitenweise füllte ich damit meinen Seelentrös-ter, das Tagebuch.
Ich setze mich in Großvaters Sessel unter meiner urigen Wandschräge. Zusam-mengeringelt gönne ich meinen Wimpernschlägen eine Pause. Aber, im nächsten Moment ziehe ich mein Logbuch des Lebens aus der Nachttischschublade. In ihm sind meine Top Zehn Herzblätter akribisch verewigt.
Oh, oh! Dabei ging es mir nicht in erster Linie um Profilierung oder Erfolg, sondern um die Freude am Tun. Es musste mir ein Lachen entlocken und oft erlaubte ich mir selbst zu dramatisieren.
Ich gebe mich vollkommen meinen geschriebenen Zeilen hin und gönne mir das prickelnde Vergnügen, in meiner Vergangenheit zu blättern. Auf die Seiten, fertig, los! Mitten in den Swinging Sixties beginnen meine chronistischen Aufzeichnun-gen.
Ein Autokorso rollt in der Nacht mit Martinshorn und Blaulicht in den Kiez von Vogtlandgrün. Tatü tata! Tatü tata! Diese lauten Geräusche gehen mir durch Mark und Bein. Ich drücke beide Handflächen an meine Ohren.
Grelle Scheinwerfer erhellen unsere Wohnstraße mit ihrem maroden Charme. Die Herren des Bereitschaftsdienstes stürzen aus ihren Fahrzeugen. Eine gespenstige Kulisse baut sich vor mir auf. Aus diffusen Umrissen erkenne ich vertraute Ge-sichter. Li steht im Arztkittel an einem Abhang. Mama hebt warnend ihren Zeige-finger. Meine Freundinnen Mona, Margit und Tina reden heftig auf mich ein. Dann lachen sie wieder und schütteln mir Glückwunsch bringend die Hand. Großmama sitzt in ihrem schönsten Kleid auf einer Nebelbank und nimmt mich liebevoll in die Arme. Plötzlich stürze ich in Wasserwogen. Es scheint, als würden mich die Pforten der Hölle verschlingen.
Im nächsten Moment gehen zwei schwarz gekleidete Personen mit Trauermiene bedächtig auf mich zu. In ihren Händen tragen sie ein weißes Tuch. Sie sehen Alf und Bertl, meinen derzeitigen Herzbuben, ähnlich. Das Gesicht eines Dritten zeigt sich schemenhaft, als ein abrupter Szenenwechsel folgt.
Drei männliche, gut aussehende Wesen reiten im halsbrecherischen Galopp zum Ufer. Ihre lockigen Haarmähnen wehen im Wind. Sie bewegen sich rasant auf mich zu. Näher und näher. Gerade so, als wollen sie mich mit ihren Pferden niedertrampeln. Ich will schreien, jedoch meine Stimme versagt.
Ein goldener Schein umhüllt dieses schauderhafte Szenario, als ein engelhaftes Geschöpf mit Bambiaugen auf mich zukommt. Es greift rettend ein, bevor der Teufel sein Licht für mich zündet.
Mit einem Mal sitze ich schweißgebadet im Bett meiner Mädchenkammer. Was war das? Ich fühle mich wie gerädert und im Dämmerzustand verbringe ich die restliche Zeit bis zum Weckerläuten. Danach taumle ich über die knarrenden Erkerdielen zum Außenwaschbecken. Seit Tagen meide ich die elterliche Woh-nung in der dritten Etage. Bewusst. Das Kommunikationsband zu meiner Mutter ist derzeit arg porös.
Die Erinnerung an meinen verwirrenden Traum verblasst innerhalb weniger Stunden am Arbeitsplatz. Ich bin an diesem Freitagvormittag unkonzentriert. Mehrmals unterbreche ich das Fakturieren der Rechnungen, über diverse Spitzen- und Gardinenlieferungen unserer Versandabteilung. Spontan wandert mein Blick durchs Fenster, in das grüne Areal des Hinterhofes unserer Firmenzweigstelle. Dabei trifft mich der vorwurfsvolle Blick meiner sympathischen Chefin. Flugs widme ich mich wieder meiner Aufgabe als Sachbearbeiterin.
In der Mittagspause gehe ich ausnahmsweise nicht mit meinen Kollegen in die Kantine. Stattdessen verlasse ich das Großraumbüro im Souterrain und trete durch die nächste Tür in den beschaulichen Betriebsgarten. Ich hocke mich auf die rustikale Holzbank unter einer schattenspenden Birke, kicke mir die Riem-chensandaletten von den Füßen und lasse meine Beine über den Rasenteppich baumeln. Meine Zehenspitzen berühren die Blütenkelche der Gänseblümchen. Herrlich! Im Wolkenorchester spielt heute die Sonne die erste Geige.
Ich setze mich gedanklich mit diesen dämonischen Traumschlieren auseinander. Was bedeutet diese nächtliche Bildersprache meines Gehirns? Wie soll ich diese pseudonymen Botschaften meines Unterbewusstseins interpretieren? Missgeschi-cke? Katastrophen? Damit bin ich derzeit reichlich bedient. Das wische ich mir schnell von der Backe.
Schicksal halte dich zurück. Bereits als Kindergartenknirps hast du mir einen tiefen Kratzer in meine Seele geratzt. Inzwischen habe ich mich mit meinem Handicap arrangiert, das sicher irgendwann verschwindet.
„Herrje! Welche Macht bestimmt, was mit uns Menschen passiert? Stell dich, du imaginäre Person!“ sage ich laut und schlage mit der offenen Hand auf den Sitz.
Mir wird angst und bange. Aus Erfahrung weiß ich, dass ein Teil meiner Träume stets Wirklichkeit wird. Trotzdem - ich bin Optimist. Die Dinge werden sich in meinem verzwickten Lebenshaus zur rechten Zeit entwickeln. Jawohl!
Nichts wünsche ich mir mehr, als Harmonie im Elternhaus. Das Vertrauen gegenüber meiner Mutter ist durch ihre diversen Schnüffeleinsätze in meinen Freizeitaktivitäten arg geschädigt. Für diesen irreparablen Konflikt muss ich eine Lösung finden, die uns beiden gerecht wird. Es ist doch absehbar, dass ich mein Single-Dasein beende, meine eigene Familie gründe, sobald Mister Right vor mir steht. Hola! Was ist, wenn ich ihn nicht erkenne, machen sich Zweifel breit.
Die Zeit ist mein Freund. Sie führt mich ins ersehnte Ziel. Am Tag X habe ich ein Rendezvous im Standesamt. Hoppla, ohne Bräutigam? Mein Bauchhirn spielt verrückt. Tzas, Klein-Cleo, geht’s noch? Nix überstürzen. Was soll diese Tor-schlusspanik? Ich bin Neunzehn!
Warum ist es so verdammt schwer erwachsen zu werden. Ein Seufzer löst sich aus meiner Kehle. Oh, ich schau auf die Armbanduhr, meine Pause ist vorbei.
Stunden später stürme ich aus dem Betriebstor. Juchhu! Feierabend. Wochenende heißt das Zauberwort.
Meine Füße tragen mich durch die pulsierende Innenstadt. Auf dem steil abfallen-den Fußgängerboulevard, der Bahnhofstraße, quietschen Straßenbahnen, die vom zentralen Gleisdreieck, dem Tunnel, Fahrgäste in alle Stadtteile chauffieren.
„Hei, Cleo.“ Margit wedelt mir aufgeregt am Mühlberg, unweit meines Zuhauses, entgegen.
Die älteren Gebäude links und rechts des Gehweges sehen aus wie Puppenhäuser. In ihren Minifenstern spiegelt sich die pralle Nachmittagssonne.
„Alles im grünen Bereich? Was macht dein Liebes-Roulette?“ Sie stöhnt beim Heraufkraxeln des fast senkrechten Hausberges in unserem Wohngebiet.
„Ach. Es dreht sich. Nur mit meiner Erziehungsberechtigten liege ich derzeit arg im Clinch. Sag mal, kann man seine Mudds zur Adoption freigeben?“ antworte ich im komödiantischen Tonfall.
„Waaaas? Naja, nach all dem Zoff mit deinen rosafarbenen Briefchen und Tage-buch, kann ich deinen Zynismus nachvollziehen. Glücklicherweise hast du deinen Humor nicht verloren.“
„Schade, seit dem Ende unserer Azubi-Ära, sehen wir uns wochentags selten.“
„So ist das Leben, auch uns hat jetzt die Alltagskralle voll im Griff.“
„Stimmt das neueste Freund-wechsel-dich-Gerücht über dich und deinen Ersti-Lover?“ will Margit wissen.
„Das da heißt?“
„Derzeit aus.“
„Derzeit? Diesmal ist Li für immer aus meinem Herzen verbannt“, bejahe ich überzeugt.
„Toi, toi, toi für deine prekäre häusliche Lage. Ich fahre dieses Wochenende zu meiner Schwester. Vielleicht sehen wir uns zum nächsten Tanzknüller“, ruft mir Margit im Weitergehen noch zu.
Versonnen winke ich meiner Schulfreundin nach. Beim Überqueren des Stegs über dem Mühlgraben kann ich mir ein verschmitztes Lächeln nicht verkneifen. Dieser fesche Haudegen Li ist vor Jahren genau an der Stelle stehen geblieben, halte ich am Brückengeländer inne. Ein Mosaik der Erinnerungen zeichnet sich hinter meiner Stirn ab. Jugendliebe ist ein Phänomen, weiß ich heute. Das alte Mühlenrad starrt mich an, während das Bächlein wie eh und je vor sich hinplät-schert. Eilig gehe ich über das Kopfsteinpflaster, bis zu meinem Wohnhaus mit der Nummer 6. Die roten Ziegel der Hoffront blinken hinter der großen Erle im Garten hervor.
In wenigen Monaten begrüßen wir mit Pauken und Trompeten das neue Jahr-zehnt: 1970. Mit welchem männlichen Juwel werde ich wohl zur Silvester-Fete anstoßen? Es gibt da schon ein paar Anwärter …
Als ich meine Giebelkammer betrete, löst dieser Plausch mit meiner ehemaligen Mitschülerin eine Gedankenwulst aus. Mir schwirren die Ereignisse vergangener Jahre durch den Kopf. Im Schnelldurchgang. Ein Bild jagt das andere.
Tja, bisher erlebte ich Liebe und Beziehungen als vergnügliches Herzflattern. Ich spielte mit Worten und Gesten, meine Art Gefühle auszudrücken. Dabei setzte ich meine weißen Steine im Liebesschach mit der kompletten Skala der Emotionen. Ständig verknallt in irgendeinen maskulinen Typ, gönnte ich meinen verliebten Stirnlappen keine Erholungsphase. Seitenweise füllte ich damit meinen Seelentrös-ter, das Tagebuch.
Ich setze mich in Großvaters Sessel unter meiner urigen Wandschräge. Zusam-mengeringelt gönne ich meinen Wimpernschlägen eine Pause. Aber, im nächsten Moment ziehe ich mein Logbuch des Lebens aus der Nachttischschublade. In ihm sind meine Top Zehn Herzblätter akribisch verewigt.
Oh, oh! Dabei ging es mir nicht in erster Linie um Profilierung oder Erfolg, sondern um die Freude am Tun. Es musste mir ein Lachen entlocken und oft erlaubte ich mir selbst zu dramatisieren.
Ich gebe mich vollkommen meinen geschriebenen Zeilen hin und gönne mir das prickelnde Vergnügen, in meiner Vergangenheit zu blättern. Auf die Seiten, fertig, los! Mitten in den Swinging Sixties beginnen meine chronistischen Aufzeichnun-gen.