Tunnelblicke

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Tunnelblicke
oder
Ein Apfel für Adam

Das Zugabteil war fast leer, nur eine junge Frau ließ sich von ihrem CD-Player berieseln. Sie würdigte Uwe keines Blickes. Er überlegte einen Moment, ob er sie ansprechen sollte, doch er ließ es besser. An schnippischen Bemerkungen war er nicht interessiert. Obwohl er verheiratet war, hatte er eine gewisse Scheu Frauen gegenüber nie ganz ablegen können.

Anders sah es aus, wenn man ihm ein wenig entgegenkam. Einige erfreuliche Begegnungen dieser Art gingen ihm durch den Sinn. Bei der nächsten Station stieg eine Dame zu, die sofort sein Interesse weckte. Schätzungsweise eine Mittvierzigerin. Sie setzte sich direkt vis-a-vis. Sie trug eine schicke rote Jacke, die sehr gut zu ihrem halblangen, dunklen Haar passte. Ihr Ohrschmuck war ein wenig groß geraten und irgendwie irritierend; provokant wäre aber zu viel gesagt. Kurz, die Frau war attraktiv.
Ihr Handy klingelte. Das Gespräch war offensichtlich erheiternden Inhalts, doch es wurde durch einen Tunnel unterbrochen.
"Wissen Sie, ich fahre zu einem Klassentreffen nach Stuttgart", sagte sie fröhlich. "Die Truppe wartet schon auf mich".
"Ach nein", bemerkte Uwe. "Ich bin auf dem Wege zu einem Klassentreffen in München".
Der Tunnel war lang, und ein Stoppsignal machte ihn noch länger. Ein Zug rauschte vorbei.
"Vor drei Wochen bin ich durch die Schweiz gefahren; da kam ein Tunnel nach dem anderen", sagte Uwe, um eine Verlegenheitspause zu überbrücken.
"Aber Sie wollen sich doch mit mir nicht nur über die Schweizer Bahn unterhalten?"
"Durchschauen Sie Menschen immer so schnell?"
"Sie machen es mir leicht", sagte sie mit spitzbübischem Blick. War er etwa an eine berufsmäßige Psychologin geraten? Sie bestätigte seine Vermutung.
"Ich habe in Heidelberg eine gut gehende Praxis".
Der Zug erblickte wieder das Tageslicht: ein neuer Versuch mit dem Handy. Jetzt sprach sie mit einem Kurt - gedämpft zwar, aber Uwe konnte sich doch so manches zusammenreimen. Kurt war wohl einer ihrer frühen Verehrer gewesen, den sie nun in Kürze in Stuttgart wiedersehen würde.
Eben hatte sie noch herzlich gelacht - da kam der nächste Tunnel. "Das ist ja jetzt schon beinah peinlich", meinte sie.
Uwe fühlte sich in keiner Weise belästigt. "Ich finde das ausgesprochen amüsant", bemerkte er.
"So, so, finden Sie. Finden Sie etwa auch, ich hätte eine rauchige Stimme?"
"Da möchte ich Ihrem Gesprächspartner nicht widersprechen".
Er erntete vernichtende Blicke, die er nicht ernst nahm. Und peinlich war ihr das Ganze auch nicht, denn am Ende des Tunnels wurde die Plauderei mit Kurt sogleich wieder aufgenommen. Nach einer Weile reichte Kurt weiter an einen anderen von der sie erwartenden Truppe.
"Ja hallo, hier ist Eva", erklärte Uwes Gegenüber.
Aha, Eva ... Das wollte er schon lange wissen.
Sie fühlte sich in ihrem Element. Während der Telefoniererei bedachte sie Uwe immer mal wieder mit einem fast komplizenhaften Lächeln.
Die nächste Unterbrechung ließ nicht lange auf sich warten. Die Strecke zwischen Bruchsal und Stuttgart - für Handybenutzer in der Tat eine Herausforderung.
Sie gab auf und griff zu einer Illustrierten, die ein anderer Reisender liegen gelassen hatte.
Aber warum sah sie ihn auf einmal so prüfend an?
Sie tippte auf ein Foto. "Kennen Sie den?"
Uwe war regelrecht erschrocken. Er war schon einmal einem Fast-Doppelgänger begegnet, doch so viel Ähnlichkeit war einfach zu viel.
"Sie schauen aus, als würden Sie steckbrieflich gesucht", sagte sie belustigt.
Er hatte sich schnell wieder gefangen. "Was nicht ist, kann ja noch werden".
"Sie, so lustig ist das gar nicht. Ich bin mal das Opfer einer Verwechslung geworden".
Und dann erzählte sie Uwe ihre Story. Als sie geendet hatte, kam der Mann mit dem Getränkewagen vorbei. Sie winkte ab, griff in ihre Reisetasche und angelte sich einen Apfel.
"Mögen Sie auch einen?" Sie hatte den zweiten schon in der Hand.
"Bei so einem prächtigen Exemplar kann ich nicht Nein sagen". So ähnlich könnte der erste einem Mann überreichte Apfel ausgesehen haben, dachte er.
Wie gern hätte er jetzt noch mit ihr geflirtet, aber der Zug rollte gerade in den Stuttgarter Bahnhof ein.
"Grüßen Sie Ihren Kurt ... Eva".
Winzige Pause. "Ich wünsch dir viel Spaß in München ... xxxx". Hatte sie Adam gesagt?"
 

wüstenrose

Mitglied
Hallo Eberhard,
dein Text hat schnell mein Interesse geweckt. Kommt unaufdringlich daher und lässt zwischen den Zeilen reichlich Platz für die Phantasie des Lesers. Gefällt mir.

lg
wüstenrose
 
Hallo DocSchneider,

Danke, dass Du mein schon vergessen geglaubtes Werk wiederbelebt hast. Das positive Echo eines Goldenen Mitglieds hat mir besonders gut getan.
LG Eberhard
 
Hallo Wüstenrose,

Und noch ein erfreuliches Urteil aus der goldenen Ecke! Vielen Dank! Vielleicht erfährt ja noch dieses oder jenes meiner früheren Werke eine Auferstehung.
LG Eberhard
 



 
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