Über Fünf-Minuten-vor-Ladenschluss-Einkäufer

Muffin

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Über Fünf-Minuten-vor-Ladenschluss-Einkäufer

Der vordere Wühltisch war ein einziger Berg aus Klamotten. Vom Tisch war nichts mehr zu sehen. Wie eine riesige Pyramide stapelten sich die reduzierten T-Shirts vom Boden bis zur wackligen Spitze, auf der das Schild „Reduziert“ schwankte.
Heute Morgen war das ein ordentlich gefalteter Stapel gewesen, jetzt sah man weder etwas von „ordentlich“ noch von „gefaltet“ noch vom „Stapel“.
Es war eine Stunde vor Feierabend und wir hatten alle schon lange genug. Wir begnügten uns damit die Sachen vom Boden aufzuheben, an richtig Aufräumen war nicht zu denken. Der Laden war immer noch zum Bersten voll. Wenn man einmal am Boden war, um eine Bluse oder eine Hose aufzulesen, kam man nie wieder hoch. Zumindest nicht ohne dass einem fünf Leute auf den Fingern standen und einem mindestens ein Kinderwagen über den Fuß gefahren war. Ich nestelte einen Rock unter den Füßen von etwa zehn Kunden hervor, dann eilte ich zu meinem Platz an den Umkleiden zurück. Auf dem Tisch davor stapelten sich schon wieder ein Duzend Hosen und doppelt so viele Blusen.
„Darf ich ihnen das hier einfach hinlegen?“ fragte eine Kundin. Sie wartete die Antwort gar nicht ab und legte mir gut sechs Sachen zusätzlich auf den Tisch. Mache niemals einen Stapel. Er wird immer größer.
„Sicherlich,“ sagte ich und zwang mich zu einem Pseudolächeln.
„Haben sie die Hose noch in 38?“
„Bestimmt,“ sagte ich und lief zu dem entsprechenden Regal. Nichts. Also nicht eine Hose. Da war heute Morgen noch ein enormer Stapel gewesen. Ich hätte mein letztes Hemd darauf verwettet, nicht mehr als zwei verkauft zu haben. Hemden waren übrigens auch nicht mehr da. Zumindest nicht mehr an ihrem angestammten Platz. Das war wie Zucker in Wasser. Du weißt genau, dass er eben noch am Grund des Wasserglases gewesen ist, aber kaum hast du einmal umgerührt, ist er wie vom Erdboden verschluckt. Er ist hundertprozentig noch da, aber sehen kann man ihn nicht mehr. Das Regal hatte aus blauen Hemden und grauen Hosen bestanden, jetzt war es eine bunte Mischung aus gelb, grün und rot.
Der ganze Laden sah aus als wäre ein Hurrikan der schlimmsten Sorte durchgerast, gleich nach einem verheerenden Erdbeben und einer Flutkatastrophe von gigantischen Ausmaßen. Wir brauchten einen Katastrophentrupp, um hier jemals wieder Ordnung zu schaffen.
Der Trick beim Aufräumen ist, schneller zu falten, als es der Kunde wieder auseinandernehmen kann. Davon abgesehen, dass Auseinandernehmen lange nicht so viel Zeit braucht wie Zusammenlegen, sind die gegen einen arbeitenden Kunden in der Überzahl. Es kamen im Moment auf jeden Verkäufer etwa zwanzig Kunden.
Vor ungefähr einer halben Stunde hatte ich den Versuch gestartet und ein komplettes Regal aufgeräumt. Als ich vor zehn Minuten an diesem Regal vorbei kam, sah es wieder aus wie vorher.
Eigentlich sollte man nun meinen, dass Aufräumen vollkommen sinnlos ist, aber wenn ich dieses Regal nicht aufgeräumt hätte, sähe es jetzt noch viel schlimmer aus. Wahrscheinlich wäre da gar kein Regal mehr.
Das war das Problem. Man räumt und räumt und räumt und sieht kein Ergebnis.
Am Besten sind die „Eine-halbe-Stunde-vor-Ladenschluss-Einkäufer“. Was sind das für Menschen? Man sollte meinen, dass sie sich einfach nicht bewusst sind, dass es schon so spät ist, aber nein, sie beeilen sich sogar. Sie beeilen sich so sehr, dass sie nicht mal mehr in der Lage sind ihre Sachen aus den Umkleiden zu räumen.
Das ist immer der Höhepunkt im Leben eines Verkäufers. Man hat gerade den gigantischen Stapel vor den Umkleiden weggeräumt und will beiläufig den Vorhang einer Kabine zur Seite ziehen und wird dabei gewahr, dass die gesamte Umkleide, vom obersten Harken bis zum Boden unter dem Hocker voll mit Klamotten ist. Da kriegt man Hass. Mit riesigen, verzweifelt weit aufgerissenen Kulleraugen steht man dann da, dermaßen erregt, das man einen Krankenwagen braucht, und starrt in ein Chaos, das größer nicht sein könnte. Es kommt übergangslos die Frage auf, wie der Kunde noch in diese Kabine gepasst hatte und wenn dann noch jemand hinter dir steht und fragt, ob er in diese Umkleide dürfte, dann lächelst du freundlich und sagst: „Moment ich räume sie ihnen eben noch aus.“
Man sollte glauben, dass es schlimmer nicht geht. Das Gegenteil beweisen die „Eine-Viertelstunde-vor-Ladenschluss-Einkäufer“. Diese Kunden schaffen es nicht einmal mehr die Sachen selbst zu holen. Die krallen sich dann jeder einen Verkäufer und lassen sich die Sachen zur Umkleide bringen. Meistens auch noch aus dem Lager, der Laden ist ja so unordentlich, dass man da nichts mehr findet. Viele sind dann dazu übergegangen einfach zu sagen, dass wir das nicht mehr hätten, aber wer noch schnell was verkaufen möchte, um dann doch noch das Tagesziel zu erreichen, muss dann wohl oder übel laufen. Gut, dass wir bei Women keinen eigenen Zugang zum Lager haben. Man muss also nun aus Women raus, über die Passage nach Men rein, sich bei Men durch die Menschenmassen schlagen („Eine-Viertelstunde-vor-Ladenschluss-Einkäufer“), bis hinten durchlaufen, durch die Tür auf der Privat steht, die Treppe rauf, am Büro vorbei, ums Men-Lager herum ins Women-Lager, um da dann die passende Bluse zu suchen, sie in den Aufzug stecken und runter in den Laden fahren zu lassen, der, welch ein Zufall, genau da drunter ist, dann zurück aus dem Women-Lager ums Men-Lager herum, am Büro vorbei, die Treppe runter durch die Tür an der Privat steht, sich durch Men kämpfen, über die Passage zurück nach Women, am Kunden vorbei durch den ganzen Laden zum Aufzug und zurück zum Kunden, der mittlerweile gegangen ist, weil er seine Zeit ja schließlich auch nicht geschenkt bekommt. Und dann steht man da, mit seiner Bluse in der Hand. Aber nein, man schmeißt die Bluse dann nicht wütend zu Boden und hüpft bösartig schreiend auf ihr herum, man drückt sie einfach einem „Zehn-Minuten-vor-Ladenschluss-Einkäufer“ in die Hand. Der freut sich dann nämlich. Da ist dann keine Sicherung dran, weil sie ja aus dem Lager kommt und da spart er sich die Arbeit sie abzumachen. Der „Zehn-Minuten-vor-Ladenschluss-Einkäufer“ nimmt nämlich immer viel mit, meistens ohne zu bezahlen.
Fünf Minuten vor Ladenschluss bekommt der Laden dann den Gnadenschuss von den „Fünf-Minuten-vor-Ladenschluss-Einkäufern“. Die kommen jetzt nämlich wirklich nur zum Auseinandernehmen. Sie nehmen dabei nicht nur T-Shirts und Hosen auseinander, sondern auch Umkleiden, Regale und Tische. Während an der Kasse zum zehnten Mal das EC-Cash Gerät abgestürzt ist und nur noch Barzahlungen möglich sind, werden von den übrigen Verkäufern die ersten Notfallmaßnahmen eingeleitet.
Als erste Maßnahme wird die Musik abgeschaltet und ein fröhlicher Glockenton erklingt. Die Kunden sehen daraufhin auf, geraten in Panik und haben drei Sekunden später schon wieder vergessen, dass sie sich beeilen wollten.
Es ist faszinierend, dass selbst wenn die Musik verstummt ist, noch immer Leute in den Laden strömen. Um das zu verhindern wird Maßnahme zwei eingeleitet. Wir lassen das Rolltor so weit runter, dass man noch so eben aufrecht darunter durch gehen kann. Die Leute, die draußen sind kommen jetzt nicht mehr rein, zu mindest die einigermaßen Anständigen, die Leute, die schon drin sind, stört das gar nicht, die denken: „Och, die werden uns schon nicht einsperren“ und machen weiter wie zuvor.
Maßnahme drei geht arbeitsteilig vonstatten. Zwei bleiben vorne bei der Kasse und kassieren die Leute ab, damit sie endlich gehen. Drei fangen hinten mit Faltbrettern an aufzuräumen und der Rest hat die Kunden freundlich aus dem Laden zu komplimentieren.
Dabei gibt es mehrere Methoden:
Songül sagt gerne: „Entschuldigung? Wir schließen!“
Finan sagt: „Könnten sie sich ein wenig beeilen? Wir wollen jetzt schließen.“
Ich sage meistens: „Kann ich ihnen noch irgendwie helfen?“ und bekomme ein reichlich gereiztes: „Ja ja, ich geh ja gleich.“ zurück. Allerdings beschränken sich solche Kunden meist auf die verbale Zustimmung und machen keinerlei Anstalten wirklich zu gehen. Wenn ich fünf Minuten nach Ladenschluss immer noch nicht geschafft habe meine Kundin aus dem Laden zu vergraulen, drängt sich Songül schnaubend und kopfschüttelnd an mir vorbei, nuschelt etwas wie: „lass mich mal“, nimmt der Kundin das T-Shirt aus der Hand und sagt: „Wir schließen!“, worauf sich die Kundin umdreht und ebenfalls schnaubend den Laden verlässt, und irgendwer macht schnell das Tor runter. Ich stehe dann da, die Augen weit aufgerissen, voll Bewunderung als hätte Songül gerade Arnold Schwarzenegger k.o. geschlagen und alles, was sie sagt ist: „Steh nicht rum, räum auf!“
Denn wo für viele der Einkaufstag beendet ist, fängt er bei uns erst richtig an. Die Aufgabe: den Laden in den Ausgangszustand zurückversetzen. Das heißt: Aufräumen, fegen, Spiegel machen, Kasse zählen, countern, Kassenabschluss, EC-Cash Abschluss, Belege abheften, Kundenzähler abrechnen, Gutscheine abheften, Türwächter ausschalten, Licht aus, Tür zu, nach Hause gehen.
Das klingt so einfach, aber da steht man dann vor einem Wühltisch, der mehr Wühl als Tisch ist und weiß nicht, wo man anfangen soll. Dennoch, sobald die Kunden aus dem Laden sind steigt die Stimmung wieder. Man schneidet sich gegenseitig Grimassen oder tut so als würde man sich übergeben und die beste Vorstellung, bekommt das meiste Gelächter. Klamotten-Catchen ist absolut beliebt. Es gibt nicht Schöneres, als jemandem, der gerade seinen Tisch aufräumt hat, einen weiteren Stapel aus dem Umkleiden auf den Tisch zu werfen. Die meisten Punkte gibt es für den, der es schafft, dass auf der anderen Seite auch noch ein Stapel auf den Boden fällt. Wenn man an seinem Leben hängt macht man das allerdings nicht bei Songül.
Nachdem Berge von Müll und Staub zusammengefegt, Kinderhände und Eisreste von den Spiegeln gewischt sind, man sich zehnmal bei der Kasse verzählt und immer noch neunhundert Euro zu viel hat, nachdem die Pläne der Verteilung des Geldes fertig und der Fehler in der Rechnung aufgefallen ist (man hat zehn mal zehn Euro gleich tausend gerechnet), nachdem man das letzte Kleidungsstück aufgehoben und den letzten Kaugummi vom Boden gekratzt hat, nachdem das Licht aus und die Tür zu ist, nachdem das Geld weggeschlossen und alle Taschen kontrolliert sind, wenn es eine Stunde nach Ladenschluss und die letzte Bahn einem vor der Nase weggefahren ist, dann und nur dann ist Feierabend.
 



 
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