VERKLEIDET

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Rakun

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Mein lieber, treuer Freund,

verzeih, ich muss dir schon wieder schreiben, mein Herz ist überfüllt mit allen Gefühlen, ich kann sie nicht allein bewältigen. Ich danke dir, dass du mir gestern spät in der Nacht noch so lange zugehört hast, mein einziger Freund, mein Verbündeter. Ich danke dir für deine Engelsgeduld.
Wie gelingt es dir, dass ich durch dich immer wieder den Mut finde, jeden neuen Tag zu überstehen?
Ich danke dir für den Rat, mich farbenfroh zu kleiden. Man hat mir so viel Höflichkeit und Aufmerksamkeit entgegengebracht und schuld war nur mein verändertes Aussehen. Du hast recht behalten, die Menschen sind so sehr auf Äußerlichkeiten bedacht und übersehen dabei das Wichtigste. Sie haben überhaupt nicht bemerkt, dass ich es war, ich glaube, sie haben mich gar nicht erkannt, sie haben nur meine Hülle gegrüßt.

Die bewundernden Blicke hättest du sehen sollen, manche kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Fast wären ihnen die Augen aus dem Kopf gefallen, die Pupillen waren riesig. Ich glaube, es war Neid, bei einigen zumindest. Aber das durften sie natürlich nicht zugeben, ihre gute Erziehung verbot ihnen, mich zu übersehen, in ihren Kreisen ist man ja lieber höflich als ehrlich. Etikette nennen sie es glaube ich, ist mir aber auch egal.
Warum, frage ich dich, mein bester Freund, gehen sie nicht gleich in ein Bekleidungsgeschäft und sprechen mit gut angezogenen Schaufensterpuppen? Das wäre doch dasselbe.
Was meinst du?
Ich glaube, die meisten wollen sowieso nur Attrappen dann fühlen sie sich sicher vor ihrem Gegenüber. Aber du hast wirklich recht, wenn du sagst, allein mein Name verlangt es, mich etwas auffällig zu kleiden. Ja, mein Freund, ich habe zum ersten Mal das Gefühl erlebt, dass ich bei jedem freundlichen Gruß mehr Gefallen an mir selbst empfand. Im Nachhinein ist es mir ganz egal, ob die Menschen ernsthaft an mir interessiert waren oder nicht. Endlich habe ich für ein paar Augenblicke zu ihnen gehört, war nicht mehr der graue Unbekannte. Danke, danke und nochmals danke.

Nun werde ich dieses Ritual jeden Tag pflegen und ich werde jeden Tag aufs Neue mit allem Stolz meine Stoffreste zur Schau tragen. Liebster, bester Freund, ich habe es dir ja noch gar nicht erzählt. Es war deine Idee, dass ich in dieser dunklen Jahreszeit eine Frühlingsfarbe wählen sollte. Sofort nach unserem Gespräch ist mir meine Lieblingsfarbe grün in den Sinn gekommen.
Ich höre es noch, als du sagtest, man soll wirklich nur das machen, was man gerne mag und gut kann und sich nicht zwingen, nur im äußersten Notfall. Danke, ich habe auch diesen Rat befolgt.
Nun lass mich erzählen, wie ich sie fand, die Krawatte.
Nach unserem letzten langen Gespräch musste ich raus, raus aus den vier Wänden, musste meinen Kopf frei laufen.
Ich weiß nicht, wie lange ich so durch die Dämmerung gegangen bin. Je länger ich allein lief, desto besser fühlte ich mich. Immer hatte ich deine aufmunternden Worte im Ohr.
Auf einmal sah ich eine dieser Kleidertonnen, in denen die Reichen (du nennst sie die Übermäßigen) ihre teuer erkauften Sachen weggeben. Abgeben können sie sicherlich nur, weil sie zu geizig sind, sich neue Schränke zu kaufen. Ich wurde neugierig und wollte nur ihre ausrangierten Kleidungsstücke einmal anfassen. Ihnen nur ein bisschen nahe sein.

Gott sei Dank war es schon so dunkel geworden, dass mich niemand sehen konnte. Und stell dir vor, in dieser reichen Gegend, auf dem Hügel der feinsten Adressen, funktionierte keine dieser edlen Straßenlaternen, über die es so viel Streit in der Stadtversammlung gegeben hat, als sie angeschafft werden sollten.
Da hielt ich plötzlich ein Stück Stoff in der Hand. Es fühlte sich so schön weich an, dass ich es nicht wieder hergeben wollte. Im Dunkeln konnte ich nur wenig erkennen, ich fischte weiter und ertastete noch mehr. Es war mir gleich, was es war und wie es aussah, aber dieses seidige Material hatte es mir angetan. An der nächsten Ecke, wo die Laternen leuchteten, konnte ich erkennen, dass ich alte zerknitterte Krawatten erbeutet hatte. Eine war grün, in meiner Lieblingsfarbe, so ein Zufall.
Sofort musste ich wieder an deine Worte denken, dass ich bald auf einen grünen Zweig kommen würde, ich müsste nur warten, dürfte die Zeit nicht vorantreiben, nichts erzwingen, alles würde sich von selbst ergeben. Das sah ich als Zeichen an, das grüne Zeichen, dass es mir bald besser geht.
Zuerst wusste ich gar nicht, was ich mit diesen Stoffresten anfangen sollte, aber ich konnte sie auch nicht wieder zurückbringen, ich war froh, dass mich niemand erwischt hatte.
Ach, mein lieber Freund, du weißt nicht, wie viel Arbeit ich mir gemacht habe, diese hässlichen Dinger wieder glatt zu bekommen, teilweise musste ich viele winzige Löcher stopfen, aber du weißt, ich habe viel Geduld. Je länger ich an der grünen Krawatte arbeitete, desto genauer wusste ich, sie wird mir Glück bringen. Warum hätte ich sonst meine Lieblingsfarbe im Dunkeln dort herausgeholt? Es musste ein besonderes Zeichen für irgendetwas sein, ich war fest davon überzeugt.

Hässlich habe ich gesagt, jawohl hässlich, die hässlichsten Muster, die du dir vorstellen kannst. Ich habe mich nur auf die grüne Farbe konzentriert, sie sollte mein Glücksbringer sein!
Nach dem ersten Mal mit Krawatte in der Öffentlichkeit wurde ich mutig. Ich habe die anderen auch aufgearbeitet und bin in blau und violett spazieren gegangen. Keiner sollte denken, ich könnte mir nur eine leisten! Ich gehörte zur besseren Gesellschaft. Endlich!

Meine Wirbelsäule schmerzt nicht mehr, denn seitdem gehe ich ganz gerade und aufrecht, beuge mich nicht mehr nach vorn, nein erhobenen Hauptes gehe ich und trage stolz meine Beute aus der Kleidertonne.
Keiner hat es gemerkt, woher meine Krawatten stammen. Vielleicht habe ich den ehemaligen Besitzer zufällig bei einem meiner Spaziergänge getroffen, wer weiß.
Ja, mein lieber Freund, so sind die Menschen, haben sie mal etwas weg geworfen, erkennen sie es nicht wieder, wenn es ihnen begegnet. Weggeworfen heißt für sie, es gibt es nicht mehr. Was für ein Irrtum!
 

Rainer

Mitglied
hallo rakun,

ein unkonstruktiver kommentar - der text ist wunderschön, oder wie heißt es jetzt neuerdings "das werk ist flüssig und mit freuden zu lesen".
besonders ansprechend fand ich die kleinen löcher in den krawatten, denn krawattennadeln wird ja heute keiner mehr tragen.
da ich noch nie einen solch schönen brief bekommen habe (selbstmitleidig seufz), freue ich mich, so etwas wenigstens vom literarischen standpunkt aus einmal (und sicher nicht nur einmal) lesen zu dürfen, auch wenn deine intention sicher eine andere war.

gruß

rainer
 



 
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