Wahr

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Campusanis

Mitglied
»Wir sind zu spät …«
Das war alles, was sie gesagt haben. Und so nutzlos sie für uns gewesen sind, da haben sie recht behalten. Meine Frau hat den Unfall nicht überlebt und kein Sanitäter der Welt hätte das ändern können.

»So gut wie alles auf dich, Junge, bau bloß keinen Mist! So was hab ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen …«
Er nennt mich ›Junge‹ seit ich mit dem Reiten angefangen habe. Ich weiß nicht, seit wie vielen Rennen ich jetzt nicht mehr unter den ersten im Ziel ankomme, aber mein Trainer führt sicherlich genau Buch. Dies mal soll alles anders werden: Das Pferd ist so gut vorbereitet wie noch nie und wir haben uns perfekt auf den Tag eingestellt.
Jetzt stehe ich da in meiner Kabine und warte. Meine Frau hat oft gesagt, ich solle-
Da ist er. Der Startschuss hallt durch die Kabinen, die Türen öffnen sich und ich starte durch. Es sieht gut aus, ich bin ziemlich weit vorn – ich glaube, es ist niemand mehr vor mir. Jemand will an mir vorbeiziehen, wer ist das? Schmerz … Dieser Schmerz ist unerträglich.
Ein Licht vor mir wird immer heller, das kann kein Reiter sein, ich glaube, es ist ein … Gesicht? Ein großes Gesicht, das mich ansieht. Es lächelt. Meine Frau scheint mich anzulächeln, hier, mitten auf der Rennbahn. Aber da ist keine Rennbahn mehr, keine Hektik, keine Bewegung.
Nur noch sie und ich.
»Was soll das?«, frage ich. »Das kann doch nicht wahr sein.«
Sie winkt, wie sie es immer getan hat, als ich zum Rennen gegangen bin. Doch jetzt sitzt sie neben mir. Ich weiß nicht, wie lang. Eine ganze Zeit sitzen wir da, als wäre nie etwas passiert … Dann ist der Schmerz wieder da. Ich-

Ich schlage die Augen auf und jemand starrt mich an. Es muss ein Arzt sein, er hat einen Kittel und um mich herum stehen piepende Instrumente. Er sieht ernst aus.
»Hast du sie gesehen?«, will er wissen. Ich sehe ihn an und er liest in meinem Blick. »Du hast mehrmals ihren Namen gerufen.«
»Aber es war so …«
»Du hattest diesen Moment mit ihr. Egal was es war.«
 



 
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