Weltempfänger

4,00 Stern(e) 2 Bewertungen
Weltempfänger
„Sie fressen uns aus den Händen! Und Sie, Sie sind ihr Dompteur! Glückwunsch!“
Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Dabei erkannte ich eine blasse Narbe über der linken Augenbraue.
„Natürlich können Sie stehen bleiben, ich habe nichts gegen Standhaftigkeit!“ Sie lachte auf. Es klang ein wenig ordinär. „Aber wenigstens Ihren Mantel könnten Sie ausziehen. Übrigens ein ganz besonderes Stück, wie mir scheint!“
„Ich weiß, wie Sie das meinen. Er ist second hand. Finden Sie das schwach? Irgendwie brauche ich das. Habe als Kind eigentlich nur abgelegte Sachen getragen.“
Es war warm genug in ihrem Büro, in der Luft hing der süßliche Geruch von Toner und erhitzten PC-Verkleidungen. Trotzdem wollte ich den Mantel anbehalten. Und vor allem hatte ich nicht vor, mich zu setzen. Ich hörte, wie sich der Anrufbeantworter auf ihrem Schreibtisch mit einem dezenten Klicken in Gang setzte.
„Hat Sie das zum Menschenfeind gemacht? Klingt gut! Irgendwie wie Literatur. Ihr Zynismus ist eindeutig Ihre starke Seite. Mit der neuen Methode konnten wir unsere Ergebnisse unglaublich steigern. Um fast 40 Prozent! Das sind zweihundert zusätzliche Zusagen. Ich liebe Ihre Verachtung!“
Ihr triumphierender Gesichtsausdruck wurde mir zu unangenehm, daher löste ich meine Blicke von ihm und ließ sie im Büro hin- und herwandern. Die Wände waren weiß, fast unnatürlich weiß, der Teppich eher silbern als grau getönt. Es gab viel freie Fläche, für die sich Hydrokulturen oder ähnliches angeboten hätten, aber die Abwesenheit von Pflanzen schien mir geradezu demonstrativ gewollt. An der Wand hinter ihr hing ein Poster hinter Glas. Ich glaube, ich hatte es seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Es waren die Pyramiden von Gizeh – das Poster, das seinerzeit zur Pink-Floyd-LP „Wish you where here“ gehörte.
„Pyramiden sind ewig. Mich interessiert vor allem die Spitze!“
Sie erhob sich mit überraschender Behändigkeit und trat um den Schreibtisch herum auf mich zu, wofür sie nur sehr wenige Schritte benötigte. Ich vermutete einige hundert Tennisstunden dahinter, in denen um jeden einzelnen Ball gekämpft wurde. In diesem Augenblick nahm der Anrufbeantworter wieder seinen Betrieb auf. Lächelnd wies sie auf den Schreibtisch.
„Jetzt sind es schon zweihundertzwei!“
Ihre linke Hand legte sich um meinen Unterarm, den sie sanft zu sich heranzog, während sich ihre Rechte zwischen die Finger der meinen drängte. Alle Provokation war aus ihren Zügen gewichen. Sie sah einfach nur noch hübsch aus. Für Sekundenbruchteile überkam mich die Vorstellung, dass hinter der Maske ihres Gesichts eine Zelle verborgen lag, in der jemand an den Gitterstäben rüttelte.
„Nennen Sie mich Nadine!“ Sie machte eine kurze Sprechpause. „Und kommen Sie morgen Abend doch mit ins „Beal Street“! Wir treffen uns mit ein paar Freunden. Sie sollten dazugehören!“
Ich senkte den Blick und betrachtete ihre weiße, schlanke Hand, die ich mit meinen Fingern umklammert hielt. Ihre Haut fühlte sich warm und ein wenig feucht an, was ich als ein wenig aufdringlich empfand – aber nicht als unangenehm. Durchaus nicht.
„Gut! Wir werden beide da sein. Ich und meine Verachtung!“

í

Als ich beim Gehen den Eingangsbereich des Gebäudes erreichte, sah ich den Pförtner in seinem kleinen Glasstall sitzen. Wieder einmal war ihm das Kinn auf die Brust gesunken. Hoffentlich würde er nicht anfangen zu schnarchen, dachte ich, während ich durch die sich automatisch öffnende Schiebetür ins Freie trat.
„Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Freizeit und acht Stunden Schlaf! Genau! Aber bitte hintereinander und nicht alles gleichzeitig, ihr blinden Maulwürfe!“
In gedämpfter Lautstärke vor sich herschimpfend war der Hausmeister in seinem grauen Kittel damit beschäftigt, ein Graffiti auf der Marmorfassade zu beseitigen. In der linken Hand eine Sprühflasche, ließ er mit der Rechten einen Putzlappen über der Marmorfläche rotieren, wobei sein ganzer Körper, vor allem die Hüften, in Schwingungen geriet. Es schien sich um einen sehr speziellen Graffiti-Typ zu handeln, der erst vor kurzem hier in der Gegend aufgetaucht war. Es sah eher aus wie eine komplizierte, sehr detailreiche technische Zeichnung.
„Haben wir einen neuen Künstler im Ort? Diese Sorte ist in der letzten Zeit häufiger geworden!“
„Kann sein! Auf jeden Fall ist eines eines zuviel!“ stieß er in abgehackten Worten hervor, ohne sich zu mir umzudrehen. In diesem Moment klingelte sein Handy in der Kitteltasche. Während er es in die Hand nahm und ans Ohr hielt, drehte er sich um zu mir. Ich war überrascht, wie alt er war. Im ersten Augenblick hätte ich sein Haar für blond gehalten, aber es war durch und durch grau.
„Lampen? Natürlich auch für Lampen! Aber ich muss schon wissen, wo und was! In diesem Gebäude gibt es nämlich unter anderem Energiespar-, Halogen-, Neon- und Wolframlampen!“
Während er eine Sprechpause einlegte, musterte er mich mit einem ungnädigen Gesichtsausdruck. Sehr von oben herab. Er war beeindruckend groß.
„Nein! Ich kann Ihnen sagen, dass ich komme, aber ich kann Ihnen nicht sagen, wann ich komme! Und ich werde kommen! Das kann ich Ihnen sagen!“
Kopfschüttelnd schob er das Handy zurück in die Tasche.
„’Sie müssen uns helfen! Unsere Lampe ist kaputt!’ Ich sage es Ihnen: Ohne mich wird diese Firma in Finsternis versinken. Ich hin hier der Lichtbringer, verstehen Sie? Der Lichtbringer! Oder soll ich sagen, der Lichtträger?“
Ich vermutete, dass er die Geräusche, die er auf seine letzte Bemerkung hin ausstieß, als Lachen verstanden wissen wollte, auch wenn sie eher wie der gescheiterte Versuch klangen, einen Dieselmotor zu starten.
„Arbeiten Sie hier?“
Während ich meine Augen aus der Schussbahn seiner Blicke manövrierte, hob ich die Schultern.
„Tatsächlich weiß ich das gar nicht so ....“
„Bedenkliche Informationslücke! Aber Sie haben hier aber mal gearbeitet, nicht wahr? Immerhin sind Sie der einzige mit Baskenmütze, schlechtem Haarschnitt und einem Mantel, der schon vor dreißig Jahren unmodern war. So etwas prägt man sich ein! Fangen Sie wieder an?“
„Hab ich glaube ich schon! Aber ich weiß nicht, ob ich wirklich bereit ...!“
„Gut! Ich muss mich ums Licht kümmern!“
Obwohl ich in dieser Hinsicht nicht sehr eitel bin, empfand ich seinen rasanten Abgang ein wenig brüskierend. Als ich mich umwandte und zur Bushaltestelle trottete, habe ich wahrscheinlich einen Schmollmund gemacht.
Das Bürogebäude der Telnet lag am Stadtrand. Ihr gegenüber, auf der anderen Seite der vierspurigen Verbindungsstraße zur Autobahn, erstreckte sich ein ausgedehnter Park, der weitgehend naturbelassen war. Hauptattraktion für die Jugendlichen stellte eine Halfpipe dar, wo sie sich so oft auf den Hintern fallen lassen durften, wie sie Lust hatten.
An der Bushaltestelle warf ich noch einmal einen Blick auf die Firma. Das Grafitti war zwar stark verwaschen aber nicht verschwunden und bildete einen hässlichen blassen Farbklecks. Die Stahlkonstruktion über dem Portal, die die metallenen Lettern des Firmennamens trug, wirkte wie ein Spinnennetz.
Als ich mich im Bus niederließ und aus dem Seitenfenster schaute, bemerkte ich, dass auch eine Scheibe der Bushaltestelle dieses eigenartige Graffiti trug. Es erinnerte mich an etwas, ich wusste nur nicht, woran.
Als ich zwanzig Minuten später aus dem Bus stieg, war es noch ziemlich hell, obwohl der Himmel vollständig von Wolken bedeckt war. Irgendwie hatte ich Probleme mit dem Himmel. Schon, wenn ich einen in großer Höhe fliegenden Abfangjäger oder eine Linienmaschine verfolge, überfällt mich mit erbarmungsloser Vorhersagbarkeit ein heftiger Drehschwindel. Danach bedarf es immer mehrerer Minuten, bis ich mir wieder sicher sein kann, wo unten und wo oben ist.
Hier auf der Erde ging es. Vor mir schlurften Omis mit grauen Locken über den Gehweg. Sie trugen billige, blaue Strickjacken und führten unförmige Hunde mit abgewetztem Fell und dicken, schaukelnden Hoden an der Leine.
Aber über unseren Köpfen begann die Zone der geheimen Dienste und der elektromagnetischen Bluthunde, das Medium der Satelliten, die endlose Salven verdichteter Aufklärungsdaten und dazwischen das digitalisierte Wispern der Verschwörer hin- und herschossen. Über uns lag die verbotene Ebene, aus der manchmal Flugzeuge auf Wolkenkratzer fielen.
Bei mir zu haus schaltete ich die Anlage an, legte mich aufs Sofa und setzte die Kopfhörer auf. Das italienische Konzert von Bach. Ich konnte es kaum abwarten bis zum letzten, schnellen Satz. Die beste denkbare Linderung für meine Informationsallergie. Wenn ich die Augen geschlossen hielt, leuchteten die Akkorde des Cembalos wie Lichtpunkte vor mir auf. Die Welt löste sich auf in Hell und Dunkel, in binäre Sensationen. Mathematischer Urschleim. Manchmal sah ich Ketten von Nullen und Einsen vor meinen Augen vorbeiziehen, bar jeder Bedeutung. Und bisweilen gelang es meinem Vorstellungsvermögen sogar, diese Ketten im Rhythmus der Musik Wellen schlagen zu lassen. Das waren die Momente, in denen ein Windstoß durch den Schleier der Maya ging.

í

Seine große, beharrte Hand verkrallte sich in ihre Pobacken, während sich sein Arm auf ihre Schultern senkte. Sie mochte es. Kichernd legte sie den Kopf in den Nacken, damit er ihr den Hals abknabberte. Er war viel größer als sie, seine Cowboyboots und die Lederjacke waren nicht gerade geeignet, seine Wuchtigkeit zu kaschieren. Die Statuetten der schwarzen Jazzmusiker auf dem Fensterbrett verfolgten diese Szene mit breitem, wohlgefälligem Lächeln.
Ich wandte meinen Blick von ihnen ab und betrachtete die Eiswürfel in meinem Whiskyglas. Als Kind hätte ich mir sicherlich den Spaß gemacht, mir vorzustellen, wie ich auf der Spitze dieses Minieisberges stand und auf einen Miniozean aus Whisky schaute. Heute stellte ich mir das nicht mehr vor. Ich wollte nur dieses fürchterliche Zeug in mich hineinzwingen, bevor ich meine Gastgeber beleidigte. Ich wollte es hinter mich bringen. Damit ich Zeit hatte für neue traurige Gedanken.
Oft spielten sie Big-Band-Swing im Beal Street, hatte ich mir sagen lassen, heute war aber ganz offensichtlich Blues-Tag. Big Bill Broonzies erregte, sehnsuchtsvolle Katerstimme flutete wie blutrote Nebelschwaden durch die Boxen. Für einen Moment drehte sich Nadine zum Pärchen um.
„Es gibt für Sandro also immer noch interessantere Dinge als die Projektarbeit. Der Kerl ist absolut unverwüstlich! Sieht er nicht prachtvoll aus? Dabei war er vor ein paar Wochen noch so ein richtig schlabberiger Hip-Hop-Skater!“
Der andere, Nadine hatte ihn mir als Vincent vorgestellt, saß mir am Tisch gegenüber. Er schien mich nicht zu mögen. Auf seinen hageren Wangen zeichneten sich die Kaumuskeln ab, wenn er an seinem Zahnstocher nagte. Sein schwarzes, zurückgekämmtes Haar war derart mit Gel vollgesogen, dass es wie eine Art Kunststoffhelm an seinem Kopf klebte. Während Nadine ihre Augen, die sie mit so viel Lidschaden eingefasst hatte, dass es aussah wie die Fellzeichnung eines exotischen Tieres, auf ihn richtete, deutete sie mit dem Cocktailglas auf mich.
„He, Vinzent! Warum lässt du dir von Peter nicht einmal erzählen, wie man heute ein Call Center führt? Er kann dir sicher eine ganze Menge beibringen!“
Er verzog die Mundwinkel, aber anscheinend beabsichtigte er zu gehorchen.
„So? Und? Sind Sie wirklich dieses Gehirntier, von dem man sich so erzählt?“
Seine Stimme klang rau und bösartig.
„Na, komm schon, Peter! Sag ihm, wie wir es machen!“
„Wir ...“, aufgeschreckt rutschte ich auf meinem Stuhl in eine respektablere Körperhaltung, „wir arbeiten mit neuen Methoden ...“
„Mit deinen neuen Methoden!“
„Ja, mit denen! Unsere Agenten sprechen nicht mehr in Echtzeit mit den Kunden. Das, was sie sagen, wird auf Band aufgenommen und mit einer minimalen Zeitverzögerung durchs Telefon gespielt.“
„Ist ja wahnsinnig! Und was bringt das?“
„Diese Millisekunden Verzögerung reichen, um die Aufzeichnung zu bearbeiten, sie wird sozusagen neu gemischt. Wir verstärken die Stimmfrequenzen, die besonders angenehm, besonders sexy wirken.“
Wahrscheinlich wollte er etwas sagen, aber er hob nur die Augenbrauen. Die rotierende Beleuchtung pflanzte einen verschwommenen blauen Lichtfleck auf den Ärmel seines Sakkos, den er mit schmalen Augen registrierte. Die Musik änderte sich, ein lautes, aggressives Saxophon, das sich von einem ungehobelten Schlagzeug begleiten ließ, drängte sich in mein Bewusstsein.
„Außerdem können wir die Stimmen unser Agenten zerhacken. Für den Kunden ist das nicht hörbar, aber die Stimme seines Gesprächspartners wird rhythmisch gegliedert und dem Hirnstromrhythmus, der für Entspannung und wohlige Gefühlslagen typisch ist, angepasst. Wir gingen davon aus, dass der Zuhörer unbewusst und aus reinem Reflex anfängt, in seinem Hirn selber diese Muster zu produzieren, wenn er diesen Rhythmus vernimmt. Damit wollen wir ihn eine als angenehm empfundene Stimmung versetzen. Es scheint zu funktionieren!“
„Verarsche also?“
„Die Agenten - die Technik kann nur von Leuten mit spezieller Ausbildung angewandt werden - haben noch andere Möglichkeiten. Sie können die Lautstärke und das Signal-Rausch-Verhältnis regulieren. Das heißt, wenn der Kunde sich in unserem Sinne ungünstig verhält, wird er ein bisschen bestraft. Das Gespräch wird ein wenig undeutlich, die Stimme des Agenten möglicherweise einen Hauch unsympathischer. Wenn er Dinge sagt, die wir hören wollen, wird er mit Sex, Obertönen und Alpharhythmen belohnt. Und mit einer superklaren Stimme, die ihn nicht anstrengt, auf die er sich nicht konzentrieren muss. Das ist keine Verarsche, dass ist so etwas wie eine Minutenhypnose!“
Ich hob den Blick zur Decke und schaute der bespiegelten Discokugel zu, die über uns rotierte wie ein kleines, kitschiges Planetchen und dabei zarte Lichtreflexe auf uns abschoss. Nadine schnalzte mit der Zunge.
„Vierzig Prozent mehr! Für unser Event an der Halfpipe haben wir alle Zusagen, die wir brauchen. Sie werden alle kommen! Große Namen! Das wird eine wirklich starke Schau! Und es wird mehr davon geben!“
Während ich spürte, wie sie mein Knie tätschelte, ließ meine Nase einen sachten Luftstrom passieren, in den sich das Aroma ihres Parfüms verwoben hatte.
„Sie hypnotisieren Leute? Sind sie ein gefährlicher Mann?“
Sein Gesichtsausdruck ließ mich ahnen, was er am liebsten mit Leuten anstellte, die ihm gefährlich werden könnten.
„Meine Idee war ursprünglich, die Gespräche kürzer und konstruktiver zu halten. Manchmal hatte ich das Gefühl, mich nicht in einem Büro aufzuhalten, sondern im Tierheim, wo in jedem Zwinger ein anderer Hund krakelt. Ja! Es war Manipulation! Aber sie sollte helfen!“
„Peter war sich nicht sicher, wie weit wir sie anwenden sollten. Ihr Erfolg bei den Offensiven war verdammt überzeugend. Er selber war darüber gar nicht so glücklich! Weißt du: Peter verachtet das Geschäft. Ich fürchte, er hält sich für so etwas wie einen Denker. Deshalb hatte er so eine Art Krise. Ich freue mich, dass er jetzt wieder dabei ist!“
„Eine Krise? Sind schon scheiße solche Krisen, wie?“
Grinsend schob er sich den Zahnstocher wieder zwischen die blinkenden Zahnreihen. Dass ich als Waschlappen enttarnt war, schien ihm Oberwasser zu verleihen.
Ich wandte mich von ihm ab, wobei ich hoffte, dass es souverän wirken mochte. Das Pärchen war sich mittlerweile noch ein wenig näher gekommen. Wie es aussah, rotierte seine Zunge mit hoher Umdrehungszahl in ihrer Mundhöhle.
Plötzlich fühlte ich mich erschöpft und depressiv. Auch meine Augen spielten nicht mehr mit. In letzter Zeit wurden meine visuellen Sinneseindrücke sehr verschwommen und grobkörnig, wenn die Augen ermüdeten, so, als seien sie mit einem schlechten Film geschossen. Zwar konnte ich diesem Zurückweichen der Realität mehr und mehr abgewinnen, trotzdem wurde es gelegentlich auch unheimlich. Aber vielleicht gelänge es mir ja eines Tages, auch meine Gefühle fremd und grobkörnig zu machen. Gefühle aus Einsen und Nullen wären keine Gefühle mehr. Wieder legte mir Nadine ihre Hand aufs Knie.
„Vinzent ist ein kleiner Idiot. Er versteht es, Leute anzubetteln und unter Druck zu setzen. Aber von Strategie hat er keine Ahnung ...“
In einer ruckartigen Bewegung löste sich das Pärchen voneinander. Sandro wandte sich von dem Mädchen ab, sank auf die Knie und schlug die Hände vors Gesicht. Er schien zu weinen. Ich warf einen Blick auf Nadine, die die Szene mit kühler Neugier Bewegung verfolgte.
„Es ist nicht schön, an seine Grenzen erinnert zu werden“, murmelte sie. „Aber schließlich wusste er es vorher!“
„Was wusste er?“
„Dass nicht alles geht! Nicht mehr! Weil er es in sich hat!“
„In sich hat?“
„Diesen kleinen, unerfreulichen Retro-Virus. Aids!“
Ihr Gesicht näherte sich meinem, bis sich unsere Nasenspitzen berührten. Sie lächelte.
„Du hast deine Grenzen noch lange nicht erreicht! Du bist noch nicht einmal gestartet!“
Sie fasste mein Kinn mit den Fingerspitzen und presste ihre Lippen gegen meine. In dem Moment, in dem ich meine Zunge nach vorn schieben wollte, spürte ich einen schmerzhaften Stich in meiner Unterlippe. Knurrend packte ich ihre Schultern und schob sie von mir weg. Als meine Zunge die Stelle auf der Lippe ertastete, berührte sie einen warmen, bitteren Blutstropfen. Im Aufschauen erkannte ich, dass ihr Lächeln sehr rätselhaft geworden war.
„Blutsbrüderschaft!“
í

Als ich Telnet vor einigen Monaten verlassen hatte, wollte ich die Aufzeichnungen über die Probeläufe unserer neuen Methode nicht behalten. Andererseits spürte ich auch keine Neigung, sie jemandem auszuhändigen, der direkt am Projekt beteiligt war. Und vernichten wollte ich sie auch nicht. Daher habe ich sie der Archivierungsabteilung übergeben.
Diese Abteilung bestand in der Hauptsache aus dem eineiigen Zwillingspaar Doreen und Dorette Schmeckenbecher, zu deren unverwechselbaren Kennzeichen blonde Turmfrisuren über breiten Gesichtern gehörten. Zusammen dürften sie mittlerweile auf über hundert Jahre kommen.
Ihr Arbeitsbereich war nur durch eine Art Wagenburg aus hohen metallenen Aktenschränken vom übrigen Büro abgetrennt. Ich hörte sie schon, bevor ich durch die Lücke zwischen den Schränken in ihr Gesichtsfeld trat.
„Ich glaube, die trifft sich auch privat mit denen!“
„Was sagt denn der Chef dazu, wenn Prinzeschen aus der Spur läuft?“
„Soll ja angeblich auf Geschäftsreise sein!“
„Seit zweiundhalb Wochen?“
„Mehr! Wieso funktioniert mein Scanner nicht? Jedenfalls: Klattke sagt, er habe ihn das letzte Mal vor dieser komischen Sache gesehen!“
„Was für einer Sache?“
Na ja, diese Sache mit Nadine! Was will er denn jetzt schon wieder? Diese neue Technik macht mich noch ganz affig!“
„Was war das mit Prinzeschen? Was will er denn überhaupt gesehen haben?“
„Habe ich dir doch schon einmal alles erzählt: Dass er sie spät abends auf dem Parkplatz am Park gesehen hat. War sehr verstört, Klamotten total durcheinander und hat an der Stirn geblutet!“
„Und?“
„Wie gesagt: Sie - zack! - gleich ins Auto und weg. Aber Klattke schwört, dass er ein paar Gestalten gesehen hat, so ganz schattenhaft, verstehst du, die schnell weggelaufen ...“
„Guten Tag die Damen!“
Seit dem letzten Mal hatten sie sich ein wenig verändert. Sie trugen jetzt Brillen. Offensichtlich beide das selbe Modell. Im Radio lief „Falling“ von Enya.
„Was können wir für Sie tun, junger Mann?“
„Vielleicht erinnern Sie sich noch: Vor ein paar Wochen habe ich Ihnen ein paar Unterlagen ...“
„Genehmigung dabei?“ fragte Doreen oder Dorette.
„Genehmigung?“
„Für alle Zugriffe aufs Archiv benötigen wir eine schriftliche Genehmigung durch die Geschäftsleitung!“ antwortete Dorette oder Doreen.
„Seit wann denn das?“
„Seit kurzem. Spielt auch keine Rolle. Auf jeden Fall brauchen wir sie.“
Gut, gut, gut! Ich möchte Ihnen folgenden Vorschlag machen: Sie holen mir die Sachen aus dem Archiv, und ich reiche die Genehmigung nach! Abgemacht?“
„Erst die Genehmigung!“ antworteten sie im Chor.
„Gar nichts zu machen?“
Synchronisiertes Kopfschütteln. Ich sah mich gezwungen, über diese eigenartige Entwicklung nachzudenken. Daher ließ ich meine Blicke zur Fensterfront wandern, durch die ich auf den Innenhof schaute. Ich erkannte den Hausmeister, der vor der Außenwand des neuen Bauteils stand. Dort prangte ein neues Graffiti. Eines von dieser komplexen Sorte. Zuerst dachte ich, dass er versuchte, es zu entfernen. Aber dann erkannte ich es: Er fuhr mit dem Zeigefinger die verschiedenen Linien nach, als ob er sie entziffern wollte.
„Gut! Ich werde jetzt nach haus gehen, aber morgen bin ich wieder da. Mit Genehmigung!“
Als ich mich von den beiden abwandte, spürte ich ihre Blicke wie eine Art Nachhall auf meinem Rücken.
Auf dem Weg zur Bushaltestelle kam ich diesmal nicht am Kiosk vorbei. Ich hatte es mir in den letzten Wochen sehr gut abgewöhnt, aber diesmal spürte ich ein geradezu schmerzhaftes Bedürfnis nach einem Schokoladeriegel.
Mit gerundeten Backen kauend stand ich neben zwei Jugendlichen. Es waren ziemlich extreme Hip-Hop-Leute, die wahrscheinlich gerade von der Halfpipe kamen. Sie hatten sich ihre absurd großen Wollmützen tief in die Stirn ihrer schimmernden Milchgesichter gezogen. Irgendetwas bewegte mich dazu, genauer in ihr Gespräch hineinzulauschen. Obwohl sie ziemlich eindeutig nach Deutschen aussahen, konnte ich sie nicht verstehen. Nicht ein einziges Wort. Ich lauschte noch ein wenig angestrengter, wobei ich es vermied, in ihre Richtung zu schauen. Mir wurde immer klarer, dass sie sich in einer Sprache unterhielten, die ich noch nie zuvor gehört hatte. Einer der Satzfetzen klang ungefähr wie torak ajum.
Als ich in den einlaufenden Bus stieg, warf ich ihnen noch einen Blick zu, den sie überraschend erwiderten. Sie waren genauso ausdruckslos und abweisend wie die der Zwillinge. An diesem Abend fingen die Kopfschmerzen an.
í

Ich sehe ihn am Reck. Er hat einen richtigen Bizeps. Obwohl er nicht älter ist als ich. Dreizehneinhalb. Er sieht gut aus. Die Mädchen sind alle verliebt in ihn. Der Name ist so schnell da, als hätte man auf einen Lichtschalter gedrückt: Karsten Fischer. Ich spüre, wie sehr ich ihn beneide.
Die Szene ändert sich. Ich bin auf einem Familienfest. Meine Tante lächelt mir zu. Ihr Gesicht wird immer kleiner, bis es verschwindet.
Jetzt sehe ich Karsten wieder. Auf dem Schulhof. Seine modischen Klamotten sind wirklich ein Hit. Wieder schiebt sich meine Tante dazwischen, wieder wird sie kleiner, wieder verschwindet sie. Ich schaue an mir herunter. Meine aufgetragenen Hosen sind eindeutig zu weit. Sie werden mir noch einmal herunterrutschen.
Ich bin im Schulzimmer. Es ist völlig leer. Bis auf Andrea. Ich bin unendlich verliebt in sie. Sie sitzt auf dem Stuhl in der ersten Reihe und beobachtet mich nur. Das Sonnenlicht verfängt sich in ihren blonden Haaren. Ich stehe an der Tafel und denke, dass mir die Hose gleich rutschen wird. Ich spüre die Angst.
Dann fällt mir ein, dass ich das alles schon einmal gesehen habe. Nicht in Wirklichkeit, sondern in einem Traum. Die Hose fängt an zu rutschen. Da ich den Traum kenne, weiß ich, wie es weitergehen wird. Sie rutscht immer tiefer. Andreas Gesicht ändert sich nicht.
Plötzlich bin ich ganz woanders. Ich befinde mich in einer Art Ei. Eine warme, dickflüssige Masse umgibt mich. Ihre Farbe ist ... komisch, diese Farbe habe ich noch nie gesehen, mir fällt kein Wort dazu ein. Die Masse ist nicht überall. Über mir sind irgendwelche Strukturen, dünne, sich überkreuzende Leitungen. Sie erinnern mich an die Graffiti. Vor mir befindet sich eine Art Bildschirm, auf dem viele kleine Lichtpunkte zu sehen sind. Auch ihre Farben erscheinen eigenartig. Von einer Sekunde zur anderen bin ich wieder raus aus dem Ei.
Die Hose gleitet an meinen nackten Beinen entlang zu Boden. Gelangweilt beobachtet das Mädchen mein nicht gerade imposantes Glied. Von irgendwo her erhebt sich ein vielstimmiges Flüstern. Warum wache ich nicht auf? Früher bin ich an dieser Stelle aufgewacht! Warum kann ich mich so gut daran erinnern? Ich fühle die Scham in mir hochsteigen, mein Herz hämmert gegen die Rippen. Ein Arzt im weißen Kittel steht neben mir und fühlt meinen Puls. Jetzt bemerke ich, dass mein Glied erigiert ist. Der Arzt nimmt es in die Hand und befühlt ihn, als ob es ein Bruch oder eine Schwellung wäre. Dann lässt er es los und presst die Handfläche gegen meine Brust - so, als ob er meine Atembewegungen ertasten wolle. Ich sehe Andreas Gesicht. Es ist so bewegungslos wie ein Videostandbild. Die Szene ist demütigend und lächerlich. Sie tut weh! Und sie scheint ewig zu sein. Oh, mein Gott, warum wache ich nicht auf? Das Flüstern verstummt.
Als ich die Augen aufschlug, wusste ich, dass ich mich über diesen eigenartigen Traum eigentlich erschrecken müsste. Aber ich tat es nicht. Ich fühlte mich einfach nur leer. Räuspernd verschränkte ich im Liegen die Arme unter meinem Hinterkopf. Es war der vierte merkwürdige Traum in Folge. Es kam mir vor, als wollte mein Gedächtnis all meine Scham, alle Ängste und Neurosen auf einmal an die Oberfläche spülen. Was war das? Platzmangel im Gehirn? Fingen so psychische Erkrankungen an? Wieder setzte der Kopfschmerz ein.
í

Nadine war nicht da. Sie käme in zwei Tagen wieder, hatte mir Vinzent gesagt, der anscheinend alle Anrufe für sie entgegennahm. Da ich kein eigenes Büro hatte, war ich provisorisch am Arbeitsplatz von Schmalenbach, dem Assistenten des Controllers, untergebracht worden, der vor kurzem gekündigt hatte.
Es gab nichts für mich zu tun. Bis vor ein paar Minuten war ich mit dem Versuch beschäftigt, irgendwelche Dokumente aus den Netzdateien zu öffnen, aber sie waren alle über Passwortabfragen gesichert. Das hatte es vor ein paar Wochen noch nicht gegeben. Ich fühlte mich schlecht. Ohne Arbeit würde ich verrückt werden, dachte ich. Der Druck in meinem Kopf war noch etwas stärker geworden, nicht viel, aber spürbar. Vor allem kam er nicht mehr in Intervallen, sondern war jetzt ständig da. Sogar mein Heißhunger auf Schokoladenriegel hatte gelitten. Mein kleiner Vorrat in der Schreibtischschublade war seit gestern unangetastet geblieben. Ich beugte mich über die Tastatur und massierte mir mit beiden Händen die Stirn.
„In diesen Tagen kann man nicht vorsichtig genug sein. Die Keime lauern überall!“
Als ich mich umdrehte, erkannte ich den Hausmeister, der durch die Tür, die ich offen gelassen hatte, eingetreten war. In der Rechten trug er eine Neonröhre, die er wie ein Zepter hielt, während er sich eine kurze Aluminiumleiter unter den linken Arm geklemmt hatte.
„Der Neue soll nächste Woche anfangen. Diese Frischlinge wohnen ja zuerst fast im Büro. Wird sich sicher über etwas Licht freuen!“
Ungefähr einen Meter von meinem Platz entfernt stellte er die Leiter auf und begann, die Röhre einzusetzen.
„Immer nur Lampen und Graffiti! Das strengt doch mit Sicherheit an, oder? Ich kann Ihnen einen Schokoladenriegel anbieten.“
„Ich esse nicht!“
Er hatte mich nicht angeschaut. Deshalb sah es fast so aus, als unterhielte er sich mit seinem Schraubenzieher.
„Und ich esse zuviel. Bin quasi süchtig danach! Wenn ich weiß, dass ich nicht noch irgendwo einen Riegel in der Wohnung gelagert habe, kann ich abends nicht einschlafen.“
„Ich schlafe nicht!“
„Oje! Sie essen nicht, Sie schlafen nicht? Dann möchte ich mich lieber nicht nach Ihrer Frau erkundigen!“
Er stieg von der Leiter und schaute mir direkt ins Gesicht. Sein Blick wirkte stählern. Instinktiv hob ich die Hände zur Abwehr.
„Entschuldigung! Das war ... ein ziemlich blöder Witz! Entschuldigung! Ich ...“
„Nein, nein! Als Witz war das durchaus erträglich. Nicht eben brillant, aber besser als das meiste, was ich hier jeden Tag zu hören bekomme.“
Er machte noch einen Schritt auf mich zu.
„Das Problem ist: Ich mache mir nichts aus Witzen. Ich bin eine sehr, sehr ernste Person!“
Ich ließ meinen Blick auf die Auslegware sinken.
„Sie sind krank! Der Kopf, nicht wahr? Ich habe etwas für Sie!“
Ich schaute auf die kleine graue Pastille, die er mir zwischen Daumen und Zeigefinger hinhielt. Als er sie auf meine Handfläche fallen ließ, betrachtete ich sie genauer. Sie war porös und unregelmäßig geformt. Irgendwie wirkte sie wie ein Stück uraltes Meteoritengestein - wie etwas, das geradewegs aus dem Weltall auf meine Hand geplumpst war.
„Es hilft besonders bei akuten Anfällen! Zögern Sie nicht zu lange!“

í

Die Polizisten standen vor dem Loch und wunderten sich. Die Riesenameisen hatten einfach die hölzerne Außenwand des Frachtwaggons durchbrochen, um an die Zuckerladung zu gelangen. Und natürlich roch es nach Ameisensäure.
Schwarzweiß war gut. Irgendwie ließ es einem mehr Aufmerksamkeit für den Plot. Und dies war eine absolut gelungene Szene. Trotzdem konnte ich mich nicht konzentrieren. Der Druck waberte in einem eigenartigen Rhythmus durch meinen Schädel. Mit der Fernbedienung stellte ich den Ton im Fernsehgerät ab und erhob mich von meinem Sessel. Dabei musste ich feststellen, dass es durch Bewegung nur noch schlimmer wurde. Im Stehen stützte ich mich auf der Sessellehne ab und legte vorsichtig den Kopf in den Nacken. Der Schmerz hörte auf, aber plötzlich war dieses Gefühl da. Wie ein Sturm brauste es durch mein Gehirn. Das Gefühl vollständiger Fremdheit. Und dann fing es an. Es war da! Ich weiß nicht, ob ich die Buchstaben vor meinem geistigen Auge sah, oder ob ich meine innere Stimme buchstabieren hörte. Aber es war da!
„AAGATCAGATCAGGT ...“
Ich gebe zu, dass ich in diesem Augenblick geschrieen habe. Ich warf mich zu Boden, presste die Handflächen gegen die Schläfen und wälzte mich hin und her.
„CCATGAATTAGG ...“
So ging es eine Minute, zwei, drei. Die Monotonie begann, meinen Schock zu lindern. Mir wurde klar, dass ich meinen Verstand anscheinend nur partiell verloren hatte. Ich würde den Versuch unternehmen können, irgendwie nachzudenken.
Ächzend nahm ich auf dem Teppich die Schneidersitzhaltung an und schaute zum Fernseher. Es war die Szene, in der die Frau mit dem fragwürdigen Doppelleben verhört wurde. Ich konnte mich erinnern. Sehr gut erinnern! Gleich würde die Ehefrau eines der Opfer der Riesenameisen in den Raum gebeten. Sie würde einen rührenden Kontrast zum dem Luder abgeben. Ich war also nicht verrückt, jedenfalls nicht richtig! Trotzdem sollte ich zum Arzt.
„GCCATACCGTA ...“
Mein Blick wanderte über den Tisch vor dem Sessel. Dort lag diese Pastille vom Hausmeister. Ich wusste nicht, was ich von ihm halten sollte – ob er ein Asket, ein Mystiker, ein Sektierer oder einfach nur ein Wahnsinniger war. Aber ich würde sie jetzt probieren. Denn ich war mir absolut sicher, dass sie irgendeine ziemlich harte Droge enthielt, die mir unter Umständen helfen könnte. Diese alten Spinner liebten harte Drogen. Weiche Sachen waren ihnen viel zu kindisch. Die Pastille schmeckte noch etwas schlimmer als sie aussah.
Der Brechreiz kam sehr überraschend. Ich hatte nur noch die Zeit, mich zu entscheiden, die Augen zu schließen und es kommen zu lassen. Ein Teil des Stoßes zweigte sich ab und fauchte durch meine Nase. Ich hatte das Gefühl, dass mein Kopf um ein Haar zersprungen wäre. Aber jetzt war Stille in mir. Zögernd öffnete ich die Augen. Ein paar Speicheltropfen, mehr nicht. Bis auf ... irgendwie hatten mich die letzten Erlebnisse vermutlich abgehärtet, jedenfalls erschrak ich nicht mehr, ich wunderte mich bloß noch. Vor mir auf dem Teppich lag ein kleiner Wurm aus einer gallertartigen Masse. Er bewegte sich nicht, aber der einzelne dunkelbraune Augenfleck zog sich in pulsierenden Intervallen zusammen. Jedenfalls war ich mir sicher, dass es ein Auge war.

í
„Ein Auge?“
„Denke ich, ja!“
Ich schaute an Nadines mürrischem Gesichtsausdruck vorbei und versuchte, mich auf das Poster mit den Pyramiden zu konzentrieren.
„Und? Wo ist das Ding?“
„Ich ... ich habe es runtergespült! War wohl nicht der klügste Einfall, aber ich konnte es einfach nicht mehr sehen!“
„Und diese Pastille, die hattest du vom Hausmeister?“
Ich nickte wortlos.
„Was hast du gegessen?“
Weiß ich nicht. Doch! In meiner kleinen Tante-Ema-Schlachterei. Schöpfnudeln!“
„Schöpfnudeln? Weiße gallertartige Masse also!“
„Nein, das war ... das war kein ...“
„Ich denke, du solltest mir im Moment nicht erzählen wollen, was ist, was nicht ist oder was wie ist!“
„Wie meinst du das?“
„Du bist angeschlagen! Du hörst Dinge, du siehst Dinge, du interpretierst Dinge. Du siehst Graffiti und glaubst, es hätte eine Bedeutung! Ich sehe jeden Tag hundert Graffiti. Und ich werde dir jetzt sagen, was sie bedeuten: Nichts! Rein gar nichts! Sie bedeuten, dass da ein Graffiti ist. Mehr nicht! Schluss. Punkt. Aus!“
„Nein, nein! Mache es dir nicht zu einfach! Warum komme ich an keine Informationen mehr heran? Was ist mit diesen beiden Hip-Hop-Leuten? Diese komische Sprache? Das sind eindeutig zu viele Zufälle! Ich weiß nicht, was es bedeutet. Aber irgendetwas bedeutet es! Viel mehr als nur „Da ist ein Graffiti!“
„Kannst du georgisch?“
„Nein.“
Kannst du – ich weiß nicht, wie man das sagt – kannst du kasachstanisch?“
„Kasachisch? Nein.“
„Gibt es hier bei uns nur Leute, die Deutsch sprechen?“
„Nein.“
„Hörst du Stimmen? Ich meine innere Stimmen?“
„Habe ich gehört, ja. Wie gesagt: Einmal!“
„Hast du schlechte Träume?“
„Ja.“
„Fühlst du dich im Moment körperlich schlecht?“
„Ja.“
„Und psychisch?“
„Auch.“
Für eine Sekunde schaute sie auf ihre gefalteten Hände, die auf der Schreibtischunterlage ruhten. Dann hob sie den Kopf und versuchte ein weiches Lächeln.
„Im Grunde machen es mir deine Verschwörungstheorien leichter. Vermutlich wirst du es nicht gern hören, aber ich finde meine Entscheidung richtiger als je zuvor.
Peter, wir werden uns beruflich trennen! Ich glaube, dass du dich im Team nicht wohl fühlen würdest. Du warst selber eher skeptisch, erinnere dich! Außerdem halte ich dich im Moment für nicht sehr belastbar.“
„Du bist sehr schnell!“
Ihr Lächeln wurde immer künstlicher. Sie schien keine sehr starke Verpflichtung mehr zu spüren, die Fassade aufrechtzuerhalten.
„Das wird von mir erwartet! Vielen Dank für alles!“

í

Ich war froh, dass ich es gemacht hatte. Es würde ihnen ganz erheblich schaden. Aber das würden sie mir nicht öffentlich vorwerfen können. Dafür hatten sie selber zu viel Dreck am Stecken. Die „neue Telefonmethode“ würde den meisten Leuten einfach zu unheimlich erscheinen.
Mit meiner Aktion hatte ich gewissermaßen die Scheidung eingereicht. Aber das war gut so. Warum haben sie mir nicht alles sagen wollen? Es lag in ihrer Verantwortung, dass wir keine gemeinsame Basis mehr hatten.
Einmal habe ich im Fernsehen gesehen, wie ein Fohlen auf der Weide den Fahrern der Tour de France nachgelaufen ist. Einfach so – aus schierer Lebensfreude. Es war ein Bild, das mir das Herz in der Brust an eine andere Stelle rückte. Aber für mich hatte es jetzt keine Gültigkeit mehr. Ich wollte niemandem mehr hinterher rennen.
Ich drehte mich auf meinem Sofa auf den Rücken und presste mir sacht die Kopfhörer gegen die Ohren. Der letzte Satz. Lichtpunkte in der Dunkelheit. Das Große und Ganze würde immer unverständlich bleiben. Es reichte, wenn die Muster schön waren. Warum habe ich mich nie intensiver mit Physik und Mathematik beschäftigt, mit Kosmologie? Die Ursache der Welt nur noch begreifbar durch mathematische Gleichungen. Angst, Enttäuschung und Verzweiflung nichts als lokale Kräuselungen an einer winzigen Stelle innerhalb eines gigantischen, hinreißend schönen Musters.
Eine unangenehme Musik drang vom Treppengang in meine Wohnung. Sie musste enorm laut sein, denn sie infiltrierte sogar das Cembalosolo in meinem Kopfhörer. Dabei war es schon kurz vor Mitternacht. Es war ein aggressiver, selbstgefälliger Macho-Singsang, der mit archaischen Beats unterlegt war. Hip-Hop.
Irgendjemand klopfte an meine Tür. Sehr, sehr heftig. Ich erschrak und riss mir hastig die Hörer vom Kopf. Noch einmal ein Klopfen, das meine Wohnungstür zum Vibrieren brachte. Derartige Lautstärken konnten nur erzeugt werden, wenn jemand völlig ohne Rücksicht die geballte Faust einsetzte. Allein dieses Klopfen reichte mir. Ich würde nicht öffnen. Irgendwann brach das Hämmern ab - auch die Musik wurde leiser, zog sich zögernd aus meinem Zimmer zurück. Die Klänge des Cembalos, die aus dem Kopfhörer auf dem Kissen neben mir drangen, waren zu einem dünnen, heiseren, ein wenig erbärmlichen Klingklang zusammengeschmolzen.
Ein paar Sekunden später hatte ich genug Mut gesammelt, um die Wohnungstür zu öffnen und in den Flur zu spähen. Bis auf einen Nachbarn, der ruckartig den Kopf in das schützende Gehäuse seiner Wohnung zurückzog und die Tür ins Schloss fallen ließ, war niemand zu sehen. Obwohl ich wusste, dass es sinnlos war, rannte ich die Treppe hinunter und trat ins Freie. Die Straße war menschenleer. Was hatte ich mir überhaupt vorgestellt? Einen kleinen harmlosen Jungen mit Ghettoblaster auf der Schulter? Woher konnte ich so sicher sein, dass er wirklich harmlos gewesen wäre? Oder dass es keine Begleiter gab? Vielleicht hatte ich ja einfach nur ziemliches Glück, dass ich ihm oder ihnen nicht mehr begegnet bin.
Ich drehte mich um, um in die Wohnung zurückzugehen. Dann sah ich das Graffiti an der Wand neben dem Hauseingang. Als ich direkt davor stand und es mit der Spitze des Zeigefingers berührte, konnte ich seine frischen chemischen Ausdünstungen riechen.

í

Die Programmzeilen auf dem Monitor wirkten wie ein endloser Kamm mit lauter abgebrochenen Zinken. Der Bildschirm bildete die einzige Lichtquelle im Büro. Sein Lichtkegel war so minimal, dass ich sogar die Tastatur näher zu mir heranschieben musste, um die Buchstaben zu erkennen. Die Welt hatte sich zu einer winzigen Lichtblase voller Angst und Panik verdichtet, die vom Grundrhythmus meines angespannten Atems durchzogen wurde. Ich spürte den Schweiß auf meiner Stirn.
Mit vorgebeugtem Oberkörper lauschte ich in die Dunkelheit des Flures. Es war erstaunlich, wie viele Geräusche ein menschenleeres nächtliches Bürohaus hervorbringen konnte – besonders wenn sich immer wieder Windböen erhoben.
Der Lichtstrahl traf mich so unerwartet, dass ich einen leisen Schrei ausstieß. Nachdem es mir gelungen war, dem Zentrum des Strahls auszuweichen, verrieten mir die Konturen der großen Gestalt, dass es der Hausmeister war.
„Warum so dunkel? Sie könnten sich die Augen verderben!“
Während das Licht der Taschenlampe hin und her hüpfte, folgte ein schwaches Nachglühen ihrer Bahn. Fast wie ein Kometenschweif.
„Entschuldigung. Ich wollte nicht, dass mich jemand sieht und sich irgendwie Gedanken macht. Wollte einfach niemanden stören. Daher kein Licht!“
„Sie sind ein wahrer Altruist!“
„Werden Sie’s jemandem sagen?“
„Ich glaube nicht, dass das Ihre einzige Befürchtung ist!“
„Wie meinen Sie das?“
„Wie ich das meine? Mit Ihrer Erlaubnis: Ich rieche Todesangst!“
„Das ... das ist sehr interessant! Wie kommen Sie darauf?“
„So besser?“ fragte er, während die Neonröhren mit einem eigenartig federnden Geräusch ansprangen. Die Lippen zu einem feinen, ironischen Lächeln verzogen, lehnte er sich gegen den Türrahmen. Ich fragte mich, wie ich das Gespräch in Gang setzen könnte.
„Das war eine eigenartige Tablette, die Sie mir letztens gegeben haben!“
„Ohne die würden Sie jetzt nicht da sitzen. Oh, nein! Ich sage nicht, dass Sie jetzt tot wären, aber auf keinen Fall würden Sie jetzt hier sitzen und sich mit mir unterhalten. Was machen Sie eigentlich da?“
„Ich ... ich korrigiere Fehler!“
„Sie können gern genauer werden. Niemand, mit dem Sie den letzten Wochen gesprochen haben, hört Ihnen mit so viel Bereitschaft zu wie ich!“
Ohne eine Sekunde lang nachgedacht zu haben, hörte ich mich selber mit dem Erzählen beginnen.
„Vielleicht haben Sie von dieser Veranstaltung gehört. An der Halfpipe. Eine Einladung an Prominente, Semi-Prominente, dazu Leute von der Wirtschaft und den Medien. Eine Show mit Skateboardern inklusive Büffet und Party im Freien. Public Relations halt!“
„Weiter!“
„Es muss der Geschäftsleitung enorm viel bedeutet haben. Sogar mich haben sie reaktiviert. Für die telefonischen Einladungen.“
„Wegen Ihrer speziellen Handhabung des Telefons, wie ich hörte!“
„Genau! Es gab Ärger. Ich weiß nicht, warum: Aber vorgestern nacht war ich schon einmal hier. Konnte mich tatsächlich durch die Passwortabfragen durchmogeln. Sogar die Liste mit den Zusagen habe ich gefunden. Dann habe ich einen Serienbrief entworfen, mit dem die Veranstaltung wieder abgesagt wird. Mit einer programmierten Zeitverzögerung. In einer Stunde wären ein paar hundert Briefe gedruckt und versandt worden ...“
„Warum haben Sie es sich dann anders überlegt?“
„Man hat mir Zeichen gegeben! Zeichen, dass ich am besten niemanden, der an der Sache beteiligt ist, in irgendeiner Weise auf die Zehen treten sollte!“
„Aber warum haben Sie den Brief überhaupt installiert?“
„Ich muss zugeben: Ich weiß es nicht! Gekränkte Ehre wahrscheinlich. Weil sie mir die Tür vor der Nase zugeschlagen haben.“
„Sie sind ein bemerkenswert schlechter Lügner. Daher frage ich Sie noch einmal: Warum wollten Sie die Party sabotieren?“
Ich schaute zu Boden.
„Ich hatte Angst. Angst, in eine sehr eigenartige Sache verwickelt zu sein. Angst, die Kontrolle zu verlieren!“
Während ich den Oberkörper noch weiter nach vorn beugte, verkrallten sich meine Hände in meinem Kopfhaar.
„Zeichen! Immer nur Zeichen! Es ist, als spräche die Welt nur noch in Zeichen zu mir. In völlig unverständlichen Chiffren!“
„Wirklich völlig unverständlich?“
Ich richtete mich auf.
„Alles, was ich wusste, war, dass es irgendwie bedrohlich werden könnte!“
„Hatten Sie manchmal das Gefühl, sich alles nur einzubilden? Langsam aber sicher den Verstand zu verlieren?“
„Eigentlich ständig.“
„Dann werde ich Ihnen jetzt eine kurze, aber überraschende Geschichte erzählen, die all Ihre Chiffren restlos entschlüsseln kann.“
Er löste sich vom Türrahmen, schritt an mir vorbei zum Fenster und schaute durch die Lamellen der Jalousie in die Nacht.
„Wir haben lange auf sie gewartet. Vor ungefähr drei Wochen sind sie dann tatsächlich gekommen. Das Landemodul haben sie in einem Waldstück im Park versteckt. Nahe der Halfpipe. Ich glaube nicht, dass der Landeplatz dem Zufall überlassen war. So ein Call Center ist ein durchaus vielversprechender Angriffspunkt!“
„Wer ist gelandet?“ fragte ich ihn in den Rücken.
„Der Name ist nicht so entscheidend. Es handelt sich um eine äußerst eusoziale Spezies. Sie können sie gut mit den hiesigen Schleimpilzen vergleichen. Falls es erforderlich ist, sind sie in der Lage, sich in kleine Untereinheiten aufzuteilen und bei Bedarf wieder zu großen Organismen zu aggregieren.“
„Sie sprechen von Außerirdischen, ja?“
„Das ist ein merkwürdiger Ausdruck. Schließlich sind sie ja hier – auf der Erde! Diese kleinen zellartigen Untereinheiten verfügen über die Fähigkeit, sich untereinander zu einer Art von neuronalen Netzen zu verweben, die Information speichern und an den Hauptorganismus weitergeben können, wenn sie wieder an ihn andocken.“
Langsam verschränkte er die Arme hinter seinem Rücken.
„Auch können sie menschliche Organismen infiltrieren und sich in deren Nervensystemen etablieren. Sie bauen einfach synaptische Verbindungen zu den Nervenzellen ihre Wirte auf. Durchtriebene kleine Parasiten, nicht wahr?“
„Sie können die Psyche von Menschen kontrollieren?“
Sie können es, sie wollen es, sie machen es! Haben Sie eigenartige Träume gehabt in den letzten Tagen?“
„Ja! Auf jeden Fall vor dieser Sache mit der Pastille!“
„Träume von Angst und Scham?“
„Ja.“
„Sie haben Ihre Schwächen abgetastet!“
„Einmal war ich in einer Art Ei oder so!“
„Vermutlich haben sie Ihnen da versehentlich eigene Erinnerungen in Ihr Gehirn gefunkt. Gedächtnisspuren vom Anflug, wie ich denke!“
„Und diese Buchstaben?“
„Da werden sie die DNA-Sequenz irgendwelcher Hirnproteine oder ähnlichem analysiert haben. Sie sind ganz ungewöhnlich neugierig.“
„Und Sie? Wer sind Sie? Wer hat Sie geschickt?“
Noch immer hielt er mir den Rücken zugewandt.
„Ihr Raumschiff landete im Park. Während der Dunkelheit, vermute ich. Ein Voraustrupp hat dann ein paar Skater infiziert. Eines Nachts haben die sich dann auf Ihre Chefin gestürzt. Sehr gezielt. Wahrscheinlich war sie vorher ausgespäht worden. Es sind vor allem die Graffiti! Sie kommunizieren damit! Auch Nadine – so war ihr Name, ja? – auch sie wurde von diesen Parasiten befallen. Wahrscheinlich wurde sie vorher von den Jugendlichen vergewaltigt, soweit ich das richtig beobachten konnte. Sie achten sehr genau darauf, dass sie ihren Wirtsorganismen immer wieder einmal einen Happen zur Belohnung hinwerfen. Damit wollen sie Immunreaktionen vorbeugen.“
Er drehte sich um und schaute mich mit seinen großen, blauen Augen an.
„Erst ein paar Skater, dann ein Call Center. Und morgen? Mehrere hundert einflussreiche Persönlichkeiten im Park! In der Höhle des Löwen, gewissermaßen. Sie geben sich nicht mit Petitessen ab!“
Er spähte an mir vorbei in den Flur. Von dort drang das Trappeln hastiger Schritte an mein Ohr.
„Ich glaube, es wird spannend!“
Er packte mich am Arm.
„Tun Sie genau das, was ich Ihnen sage! Und nur das!“

í

Die Riesenameise trug das Skelett bis an den Rand des Eingangs des unterirdischen Röhrenganges und ließ es den Abhang hinabrollen. Dorthin, wo schon mehrere andere lagen. Schmatzend zerknüllte ich die Folie des Schokoladenriegels und warf sie auf den Boden. Dorthin, wo schon mehrere andere lagen.
Ich wurde immer dicker. Ich schaute immer mehr Video. Und ich schlief immer besser. Ich fühlte mich gut. Die Vorstellung, irgendwann einmal wieder arbeiten zu müssen, empfand ich offengestanden als etwas bedrückend. Aber irgendwie erschien sie mir auch sehr, sehr irreal. Vielleicht würde ich als Hausmeister anfangen. Bei Telnet. Die Stelle sei kürzlich frei geworden, wie man mir sagte.
Sie waren zu dritt gekommen in jener Nacht. Sandro, Vinzent und Nadine. Die beiden Männer waren bewaffnet. Sie richteten ihre Automatikpistolen auf den Hausmeister, der völlig regungslos dastand und die beiden mit gelangweilter und überheblicher Mine musterte.
Nadine schritt auf mich zu. Diesmal war ihr Lächeln echt. Vermutlich, weil es voller Triumph war. Sie legte ihre Hände um meinen Hals und zog mein Gesicht an ihres. Ich konnte ihr Parfüm riechen.
„So, so! Du wolltest meinen Kuss also nicht? Du weißt, dass ich mir das nur einmal gefallen lasse!“ flüsterte sie mir ins Ohr. Dann küsste sie mich. Und natürlich biss sie wieder zu. Vorher war meine Zunge in ihre Mundhöhle eingedrungen. Der Hausmeister hatte Recht gehabt.
„Willkommen!“
Während ich mir das Blut von den Lippen wischte, schaute ich zum Hausmeister, dessen starrer Blick Nadine fixiert hielt. Dann fing er an zu sprechen.
„Wahrscheinlich werden Sie gleich gewisse Veränderungen an sich feststellen, Nadine! Sie sollten wissen, dass der Stoff auch durch die Mundschleimhaut aufgenommen wird.“
Ihre Stirn begann, Falten zu bilden.
„Sie verstehen nicht? Ich erkläre es Ihnen gern! Peter hat sich die Zunge und die Mundhöhle mit ein paar Pastillen präpariert! Vor nicht mehr als einer Minute!“
Sie warf mir einen Blick zu. Mit den rundesten Augen, die ich jemals gesehen habe. Ich befürchte, dass ich diese Augen nie wieder vergessen kann. Dann stürzte sie ... und dann ... hier gelang es mir, meine Erinnerung auszublenden.
Die kurzen trockenen Schläge, mit denen der Hausmeister die beiden Kerle entwaffnete und zu Boden beförderte, waren fast zu schnell für das menschliche Auge gewesen. Als er zu mir hinüberschaute und mir zurief, dass ich gehen solle und er alles weitere allein regeln würde, auch die Sache an der Halfpipe, war es das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe.
Auch Sandros und Vinzents Spuren verlieren sich hier. Meine Absagen sind rausgegangen – genau wie ich es programmiert hatte. Niemand hat mich jemals danach gefragt. Wenn ich bei Telnet anrufe und mich wie beiläufig nach Nadine erkundige, heißt es meistens, dass es ihr schon wieder ein kleines bisschen besser gehe und die Ärzte damit rechnen, dass sie bald aus dem Koma erwache. Ich bezweifle das. Wahrscheinlich war der Parasit zu groß und zu fest implantiert, als dass er hätte flüchten können, ohne das Gehirn ernsthaft zu beschädigen.
Der Film war zuende. Der Text des Abspanns war in einer freundlichen, soliden Schreibschrift verfasst. Ich mochte das sehr. Den Hintergrund bildete die Kulissenmalerei eines Abendhimmels. Obwohl es Schwarzweiß war, wusste ich, dass die Wolken in einem wunderschönen Rot erstrahlten.
 



 
Oben Unten