Wer war er schon

Libell

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Wer war er schon

Wolfgang Koslowski stand auf einer Trittleiter und wechselte Glühbirnen aus. Es war später Nachmittag, die meisten Büroangestellten hatten die Firma bereits verlassen. Koslowski freute sich auf den Feierabend und pfiff leise vor sich hin.

Dr. Andresen kam aus der Direktions-Herrentoilette, schritt wort- und grußlos an Koslowski vorbei, riß die Tür zum Vorstandsbüro auf und verschwand. Wenigstens grüßen hätte er können, Koslowski schüttelte den Kopf. Aber Büroboten grüßt man nicht, wenn man es so weit gebracht hatte wie Andresen: Abitur, Betriebswirtschaft-Studium in Hamburg, zwei Semester an einer amerikanischen Universität, Promotion, Direktionsassistent, Abteilungsleiter. Heute war Andresen Niederlassungsleiter und Koslowskis oberster Chef.

Die beiden Sekretärinnen von Dr. Andresen erschienen auf dem Flur, wünschten Koslowski einen schönen Feierabend und verschwanden im Fahrstuhl. Der Buchhalter aus der Übersee-Abteilung rief Koslowski ein fröhliches: "bis morgen!" zu und verschwand im Treppenhaus. Koslowski beugte sich auf der Leiter etwas vor und spähte aus dem Flurfenster. Die Sekretärinnen und der Buchhalter hielten auf dem Betriebsparkplatz noch ein kleines Schwätzchen, stiegen in ihre Autos und fuhren vom Hof. Jetzt waren nur noch Andresen und Koslowski im Haus.

Koslowski rückte die Leiter zwei Meter weiter und inspizierte die nächsten fünf Glühbirnen, die an einer Deckenschiene angebracht waren. Eine Birne flackerte leicht, er würde sie am besten sofort mit auswechseln. Andresen sollte keinen Anlaß bekommen, mit Koslowskis Arbeitseinsatz unzufrieden zu sein. Andresen war als kritischer Chef bekannt und Koslowski brauchte diese Stelle. Mit 56 Jahren war es fast aussichtslos, einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Wer Arbeit hatte, der klammerte sich daran und nahm Kritik oder Nichtbeachtung klaglos hin. Klaglos hatte er Andresens Geringschätzung hingenommen. Klaglos hatte er ertragen, daß Andresen ihn seit Jahren fast nie grüßte, ihn "Bosowski" nannte statt "Koslowski", ihn sogar einmal angeschrien hatte, als Koslowski aus einem dringenden Bedürfnis heraus die Direktionstoilette zum Pinkeln benutzt hatte: "Sie haben hier gar nichts zu suchen!", hatte er gebrüllt, "wissen Sie nicht, wer Sie sind, Mann?!"

Ja, wer war er schon. Jemand, der es in 40 Arbeitsjahren nur dazu gebracht hatte, als Bürobote und Firmen-Faktotum Befehle und Aufträge anderer auszuführen. Jemand, den der Chef mißachten, drangsalieren und schikanieren konnte. Und dabei waren sie doch einmal in die gleiche Klasse gegangen, Andresen und er. Damals, in der Volksschule. Sie hatten nebeneinander in der dritten Reihe gesessen. Ingo Andresen, der Sohn des Apothekers und Wolfgang Koslowski, Sohn eines Landarbeiters.

Hatte Andresen das ganz vergessen? War ihm niemals der Gedanke gekommen, daß er Wolfgang Koslowski aus längst vergangenen Kindertagen kannte? Wolfgang, der in der Klasse viel beliebter war als Ingo, Wolfgang, der besser turnen konnte als Ingo, Wolfgang, der besser rechnen konnte als Ingo. Und doch hatte Ingo, im Gegensatz zu Wolfgang, von der Lehrerin eine Empfehlung für das Gymnasium erhalten, keine Frage als Sohn des Apothekers. Und was sollte der Sohn eines Landarbeiters schon auf dem Gymnasium? Ingos Weg war vorgezeichnet, Abitur, Studium, Karriere. Wolfgang Koslowski beendete mit 16 Jahre die Volksschule und wurde Lagerarbeiter in einer Papierfabrik, Arbeiter auf dem Schlachthof, Taxifahrer und schließlich Bürobote und "Mädchen für alles" in seiner jetzigen Firma. Als vor vier Jahren der Konzern einen neuen Chef aus der Zentrale in die Provinz schickte und Dr. Andresen sich den Mitarbeitern vorstellte, da hätte Koslowski ihn fast mit "Hallo Ingo!" begrüßt. Zum Glück hatte er sich gerade noch rechtzeitig auf die Zunge gebissen.

Koslowski hatte die letzten Glühbirnen inspiziert und stieg von der Leiter, als er plötzlich aus dem Direktionsbüro ein seltsames Geräusch hörte. Es klang wie ein Keuchen. Koslowski horchte. Jemand stöhnte laut und etwas polterte. Koslowski riß die Tür auf. Dr. Andresen lag auf dem Fußboden mit bläulich verfärbtem Gesicht und rang nach Luft. Sein Brustkorb hob und senkte sich krampfhaft. Ein schwerer Asthmaanfall. Koslowski kannte die Symptome von seinem Vater, der sich als Kettenraucher die Lungen ruiniert hatte. Andresen keuchte, sog pfeifend Luft ein, schien etwas sagen zu wollen. Seine rechter Arm war lang ausgestreckt, die Hand tastete nach etwas. Koslowski sah, was Andresen suchte. Eine kleine Arznei-Plastikflasche – vermutlich ein Asthmaspray – sie war gerade ein paar Zentimeter aus Andresens Reichweite gerollt. "Bosowski, verdammt machen Sie schon, der Spray!", keuchte Andresen.

Im ersten Impuls wollte sich Koslowski bücken, die Flasche greifen, Andresen den lebensrettenden Spray gleich auf die Zunge sprühen.. Aber dann besann er sich eines Besseren. Er stellte ganz leicht seinen rechten Fuß auf die Flasche und entzog sie damit Andresens kraftlos zitternden Fingern, die vergeblich nach der rettenden Arznei tasteten. "Koslowski, nicht Bosowski!", er starrte in Andresens immer bläulicher werdendes Gesicht, und las in dessem glasiger werdenden Blick erst Wut, dann Verwirrung, dann so etwas wie Erkenntnis. Andresens Kopf fiel auf die Seite. Atmete er noch? Der Brustkorb hob und senkte sich nicht mehr. Koslowski gab dem Arzneifläschchen einen kleinen Stoß, so daß es ganz aus Andresens Reichweite kullerte. Er ließ Andresen so liegen wie er lag, zog sich vorsichtig auf den Flur zurück und schloß die Tür zu Andresens Büro. Er hatte nichts gehört und nichts gesehen. Er war schließlich nur Bosowski, der Bürobote.

Koslowski trug die Trittleiter zurück in den Abstellraum, ergriff seinen einsam am Garderobenhaken hängenden Anorak, zog ihn über, nahm seine alte abgewetzte Aktentasche und verließ leise vor sich hinpfeifend das Gebäude.

Dr. Andresen wurde in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages von der Putzfrau gefunden. Der eilig herbeigerufene Arzt konnte nicht mehr helfen. Nach dem Zustand der Leiche war Andresen bereits seit Stunden tot. Offenbar war ihm der rettende Asthmaspray aus der Hand geglitten und unter den Schreibtisch gerollt. Tragisch. Der Arzt schüttelte mitfühlend den Kopf und stellte den Totenschein aus.
 

vreni

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Es gefällt mir. Mit der Vorgeschichte welche du über Koslowski erzählt wird er mir richtig symphatisch, dadurch drückt man ruhig mal beide Augen zu wenn er etwas moralisch inaktetables macht
 

Libell

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yep

Yep, Flammarion, Recht hast Du, werde mir meinen Koslowski vorknöpfen und es ihm ausrichten!

Mich interessieren Menschen in Konfliktsituationen, die sich nicht so verhalten, wie sie sich aufgrund ihres bisher geführten Lebens immer verhalten haben. Mit hinein spielt da die Frage, ob es so etwas wie Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft gibt.

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ingridmaus

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Super, aber...

das koennte fast noch ein bisschen mehr Fiesheit vertragen. Die Vorgeschichte Deines Anti-Helden ist klasse eingefaedelt, Du baust ganz toll eine gespannte Erwartung auf udn dann - ist der Hoehepunkt irgendwie viel zu schnell vorbei. Lass doch Deinen Koslowski den einzigen Triumph, den er im Leben hat, etwas laenger auskosten. Vielleicht zoegert er erst, nimmt das Spray auf, dann kriegt er einen kalten Glanz in den Augen...
Die Geschichte erzeugt jetzt schon ein seltsames Gefuehl im Bauch, das koennte aber noch verstaerkt werden!
Gruss
Ingrid
 



 
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