Wie eine zu Ende gerauchte Zigarette

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Wie eine zu Ende gerauchte Zigarette

Je länger er darüber nachdachte, desto mehr wurde ihm bewusst, dass er sich von der Realität entfernt hatte.

Paul hörte den rauen Wind gegen das Fenster peitschen. Wie in den Tagen zuvor, sah er machtlos zu, wie dieser mit seinen mächtigen Armen herbstlich goldbraune Blätter in dem Garten aufwirbelte. In diesem Augenblick konnte man meinen, dass all das Schöne der Welt sich aufbäumte, den Ekel von sich abschüttelte und diese Welt, einer kahlen Erscheinung überlies.
Doch Paul wusste, der Wind spielte nur sein Spiel. Er griff sie vom Boden auf und wenn er es wollte, lies er sie wieder fallen. Er überlies sie dem Nichts unter ihnen, noch ehe sie eine Chance hatten dieser Welt zu entkommen.
Er war perfekt, ein Meister seiner Arbeit und er verrichtete sie mit einer erschreckenden Leichtigkeit, die Paul gedanklich zu Boden drückte.

Vor 20 Jahren, auf den Tag genau, hatten Anna und Paul beschlossen der Großstadt den Rücken
zu kehren. Sie wollten Abgas und Fabrikruß hinter sich lassen und in einen fernen Ort, jenseits der Grenzen ziehen. Anna schwärmte zu dieser Zeit von einem Haus mit Garten und einer langen Rutsche, die sie gebrauchen würde, wenn sie von dieser Welt entrücken wollte. Manchmal hatte er den Gedanken, dass diese Rutsche sie in ein Geheimversteck führen sollte, indem sie sich sicher fühlte. Ein Versteck, indem sie niemand finden sollte.

Ein Haus zu bauen hielt Paul nicht für undenkbar, aber der Garten, den sich Anna vorstellte, hatte die Größe eines Nationalparks. In Annas Dimensionen zu denken bereitete ihm oft Schwierigkeiten. Sie konnte Sphären einnehmen, die manchmal nur einem kleinen Schritt vom Wahnsinn entfernt waren. An manchen Tagen hatte sie Angst. An solchen Tagen hatte Anna sogar große Angst und wenn eine Flut des Zitterns über sie hereinbrach, erkannte er sie oft nicht wieder. Sie war wirklich stark, aber in solchen Momenten, scheiterte sie an kleinsten Problemen, indem sie sich aus ihren verschachtelten Gedanken nicht mehr befreien konnte. Einmal hatte sie sich vor lauter Angst unter dem Bett versteckt. Paul hatte sie stundenlang gesucht und als er sie endlich fand, schaffte sie es nicht mehr von alleine hervorzukommen. Anna hatte sich innerhalb weniger Minuten eine eigene kleine Welt unter dem Bett geschaffen, in der sie sich sicher fühlte. Jeder andere Ort stellte in diesen Stunden eine Gefahr für sie dar und ihr dann Weis zu machen, dass sie nun endlich hervor kommen kann, war eine große Mühe für Paul. Ein anderes Mal hatte sie sich in der Mülltonne tagelang versteckt. Aber sie hatte es ertragen, den Gestank, den Schmach der Fremden und der Nachbarn. Nun war es Zeit gewesen, diesen Ort zu verlassen, ehe sie noch mehr Aufmerksamkeit auf sich lenkte.

Gott sei dank geisterte der Splin von der Rutsche nur kurze Zeit in Annas Kopf und kurz bevor sie die Großstadt verließen, hatte sie wieder etwas neues gefunden an dem sie sich festhielt, wie eine Spinne an ihrem Netz. Sie hatte in einem Buch von dem blauen Meer gelesen, von hohen Wellen und von paradiesischer Einsamkeit. Seit dem war sie hin und weg, wollte um alles in der Welt die hohen aufschlagenden Wellen sehen, an der Küste entlangen gehen und Muscheln sammeln. Sie hatte ein konkretes Bild, wie alles aussehen musste und so beschrieb sie ihm das Meer mit einer Genauigkeit, dass er wusste, wie es aussah, wie es schmeckte, wie es war in ihm zu baden ohne jemals dort gewesen zu sein.

So fuhren sie wochenlang in dem Auto, durchkreuzten unzählige Städte, überwanden Berge und Täler , als sie plötzlich stopp sagte und die Landkarte aus der Hand legte.

Sie stieg aus, ging mehrere hundert Meter und blieb für lange Zeit stumm stehen. Im Auto hörte er das Meer rauschen. Er stieg ebenfalls aus und folgte Anna. So standen sie da und sahen auf das stürmische Meer hinaus, hörten die Wellen schlagen, starrten in den endlosweiten Himmel und für einen Moment erschien es ihnen, als gebe es nur sie beide auf der Welt. Sie atmeten den Duft des Meeressalzes ein, die frische Luft, die andere Welt.

Paul legte seine Arme um ihre Schultern und sie drehte sich um und fragte ihn leise, fast zärtlich: “Wärst du bereit, mit mir hier, dein Leben zu verbringen?” Und er hatte mit dem Kopf genickt und ja gesagt. Paul hätte es ihr nie abschlagen können. Er wusste zwar, dass er nur eine Nebenrolle in ihrem Leben spielte. Kein Mensch hätte Anna näher kommen können, als es ihm selber gelang. Anna hatte ihre eigene Fantasie und alles drehte sich bei ihr um örtliche Sicherheit. Ihre Gedanken kreisten manchmal tagelang um eine Frage: Wie kann man sich am besten schützen? Sie hatte oft wirre Gedanken, wenn auch der Umzug ihr eine Weile verhalf, Zuflucht zu finden.

Sie war schon immer fasziniert von Labyrinthen gewesen. Niemand würde sie finden, hatte sie ihm einmal gesagt, wenn die Welt ein Labyrinth wäre. Leider hatte sie nicht gemerkt, dass ihre Art zu denken, sie in dieses Labyrinth gebracht hatte, aus der sie nie wieder herausfinden würde.

Und als er ihr mit “ja” geantwortet hatte, war für Anna ein lange Zeit die Welt in Ordnung. Sie wusste nicht, dass es ihm eigentlich egal war, wo sie zusammen sesshaft wurden. Sie hätte jedes andere Fleckchen Erde aufsuchen können, eine verlassene Insel oder eine Hütte in den Bergen, seine Antwort wäre immer die selbe gewesen, immer und immer wieder, denn er wollte nur eins: Er wollte bei ihr sein.
Er hatte es nie bereut, nicht einen Moment sein Leben mit ihr zu teilen und so zogen die glücklichen Jahre wie Tage an ihnen vorbei.

Er blickte auf den Kalender in seinem Zimmer. Es war Donnerstag, der 23. Oktober 1982. Vor einem Jahr war sie noch bei ihm gewesen. Vor einem Jahr genau. Er hatte sie geliebt, mehr als man eine Frau lieben sollte. Noch heute sieht er sie vor sich mit ihrem lang gelockten Haar, dem unschuldigen Gesicht, den treuenherzigen schutzsuchenden Augen.

Letzten Endes hatte sie den Wind von allen Seiten genommen. Sie hatte versuchte sich auf den Wellen zu halten und mehr mit den Höhen als mit den Tiefen zu gehen.
Aber sie war müde geworden und müde Menschen wollen nichts sehnlicheres als friedlich schlafen. Sie wurde ein Opfer ihrer schwerer Gedanken und selbst der selbe Wind, der in diesen Tagen wieder einkehrte, vermochte sie nicht mehr zu tragen. Er lies sie fallen, so wie er es mit den Blättern in Annas Garten handhabte. Manchmal sollte man den Ballast von sich werfen, wenn der Sturm zu Ende ist.
Der Sturm war zu Ende, die Arbeit des Meisters getan. Er lies Anna fallen und übergab sie dem Ekel der Welt.

Seit Annas Tod war es dunkel geworden. Nicht nur die Häuser hatten ihren Glanz verloren, die Wiesen schienen längst verdorrt zu sein und allmählich begann sich ein Schatten über die Gegend auszubreiten, der nichts mehr gedeihen lies.
Die einstig frische Luft ist nun eisig geworden. Die Menschen in der Stadt verkriechen sich und so scheint die Gegend nicht nur ausgestorben und kalt zu sein, sondern einem Friedhof gleichzukommen.
Und niemand sieht die Mauern, niemand begreift, dass der gewohnte Anblick ein Gefängnis für Paul war, der niemals zu einem Ort der Erlösung werden konnte.
Jede Wolke, sagte er sich, war ein Schaf. Der Schäfer der Wind. Der Schäfer führt die dunkle Herde voran und hinterlässt schwarze, unheimliche Flecke.

Schwarze unheimliche Flecke waren auch über seine Haut, wenn er sich im Spiegel betrachtete. Das Alter macht jedem zu schaffen. Der Spiegel zeigte ihm das Gesicht eines fremden Mannes, eines Greisen, der mit Falten des Zorns überseht war. Seine Stirn wurde von tiefen Furchen gekennzeichnet, die über die Jahre kriegerisch wie Soldaten in Schützengräben sich einnisteten. Der Tod lauert überall. Die Zeit ist rücksichtslos, mit jeder Sekunde, rücken wir dem Zerfall etwas näher. Menschen kommen, Menschen gehen.
Am Ende sind wir Asche. Staub ist wie Asche.
Der Wind treibt Tod voran. Wir atmen ein, atmen aus und leben doch, leben noch.
Je weiter Wünsche rücken, desto näher sind Träume. “Am Schluss werden Träume niemals wahr“, hatte Anna einmal gesagt, als sie ihr Leben nicht mehr für lebenswert empfand.

Wer seinen Ort verlässt, hat neue Träume, neue Ziele, findet neue Wege. Aber Paul ist geblieben, immer noch am selben Ort, im selben Haus, in dem alten Zimmer auf dem modernden Stuhl, und beobachtet durch das schmale Fenster den schaurigen Moment, die Gegenwart und alles was noch kommen wird. Immer noch nach all den Jahren hängt er an diesem Ort, mit jeder Erinnerung, mit jedem Gedanken, mit jedem verlorengeglaubten Augenblick. Nur ein paar Häuser sind hinzugekommen, ein paar Strassen und ein paar Kreuze mehr.

Sie hatten sich nicht verabschiedet, nicht einmal gesehen, als sie gegangen war. Sie ging ohne Warnung, ohne ihm etwas zu sagen. Nur ihre Lieblichkeit hatte sie hinterlassen und er wusste, kein Wind würde ihre Spuren verwischen können und keine Zeit seine Erinnerung verblassen. Kein Wind. Keine Zeit.
Gott weiß wo sie ist, was sie macht, wem sie nun Freude schenkt. Jeder Gedanke an sie tut weh, reißt Wunden auf, wirbelt Staub auf, lässt Unvergessenes so lebendig werden, wie die treibenden Blätter vor seinem Fenster.

Manchmal versiegelt ein Gedanke das Schicksal, verriegelt ein Moment die Pforte zwischen Leben und Tod. Nichts hätte sie aufhalten können. Wer die Hoffnung aufgibt, gibt sich selber auf.

Es war ein windiger Tag. Die Wellen hatten ihren Höhepunkt in diesem Jahr erreicht. Sie liebte das Fliegen, die Schwerelosigkeit, den Fall und so ließ sie sich treiben, wie ein Vogel vom Wind. Es war der letzte Wunsch, den sie sich erfüllte. Sie hatte Anlauf genommen und sich von der Klippe gestürzt. Es war nach vielen Wochen wohl das erste Mal wieder, dass sie frei war, frei wie ein Vogel. Niemand darf darüber urteilen, ob es gut oder schlecht war. Anna hatte ihre eigene Welt, ihre eigenen Probleme und jeder Gedanken löst etwas aus. Er konnte es nicht verstehen, aber letztendlich, dachte Paul, hat jeder das Recht, sein Leben wegzuwerfen, wie eine zuende gerauchte Zigarette.
 

blaustrumpf

Mitglied
Hallo, Herbert Stahlvogel

Nein, so kann man eine solche Geschichte nicht schreiben. Nicht so nebenher vom Leben und Sterben berichten, nicht so in Kleinigkeiten das ganz große Gefühl aufblitzen lassen. Nein, so kann man eine solche Geschichte wirklich nicht schreiben. Außer man kann es, außer man tut es.

Gewiss, ein paar Schreibfehler haben sich eingeschlichen, zuweilen stehen Kommas vorwitzig dort, wo sie nun wirklich nichts zu suchen haben. Ja, und? Herzlichen Dank für eine Geschichte, die ich vielleicht anders erzählen würde, aber die mir im Kopf und im Herzen bleiben wird!

Schöne Grüße von blaustrumpf
 
Hallo Blaustrumpf,
vielen Dank für Dein Kommentar, wenn ich angangs auch etwas verwirrt war. Nach mehrmaligen durchlesen habe ich es dann doch verstanden, was Du mir damit sagen wolltest. :)

Ich nehme es als großes Kompliment an, denn ein solch schwieriges Thema ist, wie Du bereits erwähntest, wirklich nicht leicht in eine Kurzgeschichte zu verpacken.

Für Deine durch aus großzügige Bewertung noch einmal recht herzlichen Dank.

Gruß Herbert
 
G

Gelöschtes Mitglied 5196

Gast
hallo,

ja was soll ich sagen... die gänsehaut hält noch immer leicht an! eigentlich habe ich kaum zeit, doch als ich erst angefangen hatte deine geschichte zu lesen... da war das dann auch egal; konnte dann nicht einfach damit aufhören! jetzt bin ich gedanklich irgendwie ein wenig durch den wind... tja und dafür danke ich dir auch!

lieben gruß,

mye
 

Rhea_Gift

Mitglied
Hi,

eine Geschichte viel zu sehr nach meinem Herzen, meiner Seele geschrieben - wie ein Blick in den Spiegel, dessen Trübung durch die Zeit man schon ahnen kann, dessen dunkle Schatten einen erschauern lassen, obwohl er noch blank ist...

LG, Rhea
 
Hallo Rea_gift und mye,
auch Euch möchte ich für Eure positiven Kommentare danken. Es ist schön zu wissen, dass es noch mehr Menschen gibt, die ähnlich denken und vor allem freut es mich riesig, dass meine Geschichte so gut ankommt.

Die besten Grüße
Herbert
 



 
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