XP
Silvester 2002
Am 31. Dezember 2004 beschloß ich, die vergangenen beiden Jahre aus meinem Leben zu streichen. In diesen zwei Jahren war alles schief gelaufen.
Begonnen hatte es damit, daß ich am 2. Januar 2003 Zeugin eines Banküberfalls geworden war. Der Täter entkam mit einigen tausend Euro und mit meinem Portemonnaie, in dem nur zwei Zehnmarkscheine steckten. Um diese umzutauschen, war ich nämlich in die Bank gekommen. Die Videoüberwachung funktionierte nicht und alle Bankangestellten wurden blind vor Schreck, als sie in die Mündung seiner Pumpgun blickten. Ich selbst behielt die Nerven, vielleicht weil er auf mich nicht anlegte. Er ließ sich alles Bare in der Kasse in einen weißen Toppits-Müllsack packen und knöpfte mir noch die Geldbörse ab, wohl in dem Glauben, ich hätte gerade eine Abhebung gemacht.
Am Ende war ich die einzige, die eine brauchbare Täterbeschreibung liefern konnte. Der Täter hatte eine Glatze gehabt und riesige, rote Hände, richtige Maurerpratzen. Einen Seehundschnurrbart und buschige Augenbrauen. Und auffallende Tränensäcke.
In den folgenden Monaten verbrachte ich unzählige Stunden im Polizeipräsidium und schaute mir Fotos von registrierten Bankräubern an. Es gab Tausende und Tausende. Man hätte meinen können, jeder Bankräuber ließe sich registrieren, bevor er loslegte. Das Verbrecheralbum war eine bebilderte Moritat von der Pionierzeit des Bankraubs in der Banco di Roma auf dem Forum Romanum bis heute. Doch mein Bankräuber war nicht dabei. Immer neue Fotos kamen hinzu. Aus aller Welt trafen Porträts von Bankräubern ein, mexikanischen, neuseeländischen, hawaiianischen, irischen, senegalesischen und finnischen. Meiner war nicht dabei.
„Wir dürfen nicht aufgeben“, sagte mein Kommissar immer wieder. „Jetzt haben wir schon so viele angeguckt, da wäre es Dummheit, wenn wir aufhörten, wir schauen die übrigen auch noch an.“ Das Jahr verging, das darauffolgende begann mit neuen Verbrecheralben. Nachts träumte ich von Galgenvogelgesichtern neben einer schwarzweißen Meßlatte und von edel gestylten Visagen über perfekten Krawattenknoten. Alle hielten ein Schild mit einer zwölfstelligen Registrierungsnummer vor sich hin.
Manchmal träumte ich von meinem Bankräuber. Dann nahm ich schnell einen Kugelschreiber und malte einen Rahmen um ihn herum wie eine Arrestzelle. Aber wenn ich morgens aufwachte, war er jedesmal entkommen. Hin und wieder träumte ich auch von dem Banküberfall. Ich stand im Schalterraum und suchte in meiner Handtasche nach den zwei Zehnmarkscheinen, die ich umtauschen wollte, da kam er herein und sagte laut und höflich: „Guten Morgen, mein Name ist Heimüller, Vorname Eugen, Eugen Heimüller. 42 Jahre alt, Familienstand ledig, Religion römisch-katholisch. Ich wohne in Kassel, Beethovenstraße 108, zweiter Stock links. Ich möchte bitte diese Bank ausrauben.“
Am 31. Dezember 2004 hielt ich es nicht mehr aus. Ich ging zu einem Hypnotiseur, Spezialgebiet XP, und bat ihn, mein Leben zwei Jahre rückzusetzen.
Er nötigte mich in den Behandlungsstuhl, klebte mir Elektroden an den Kopf und leuchtete mir mit einem Stablämpchen in die Ohren. Wann denn die letzte Systemprüfung gewesen sei, wollte er wissen, und ob ich alle Daten gesichert hätte. Ich gab genaue Auskünfte. Den Virenscan hatte ich regelmäßig vorgenommen, die Defragmentierung aber sträflich vernachlässigt. Er rüffelte mich milde. „Aber das machen alle“, murmelte er, „es ist immer dasselbe, immer dasselbe.“
Er ließ mich sein Lämpchen fixieren und nuschelte beruhigende Worte. Nach kurzer Zeit wachte ich heute morgen wieder auf.
Ich kaufte für das Silvesteressen ein und besorgte spanischen Sekt. In der Innentasche meines alten Wintermantels fand ich zwei Zehnmarkscheine und legte sie behutsam in den Kamin.
©Anna Rinn-Schad
Silvester 2002
Am 31. Dezember 2004 beschloß ich, die vergangenen beiden Jahre aus meinem Leben zu streichen. In diesen zwei Jahren war alles schief gelaufen.
Begonnen hatte es damit, daß ich am 2. Januar 2003 Zeugin eines Banküberfalls geworden war. Der Täter entkam mit einigen tausend Euro und mit meinem Portemonnaie, in dem nur zwei Zehnmarkscheine steckten. Um diese umzutauschen, war ich nämlich in die Bank gekommen. Die Videoüberwachung funktionierte nicht und alle Bankangestellten wurden blind vor Schreck, als sie in die Mündung seiner Pumpgun blickten. Ich selbst behielt die Nerven, vielleicht weil er auf mich nicht anlegte. Er ließ sich alles Bare in der Kasse in einen weißen Toppits-Müllsack packen und knöpfte mir noch die Geldbörse ab, wohl in dem Glauben, ich hätte gerade eine Abhebung gemacht.
Am Ende war ich die einzige, die eine brauchbare Täterbeschreibung liefern konnte. Der Täter hatte eine Glatze gehabt und riesige, rote Hände, richtige Maurerpratzen. Einen Seehundschnurrbart und buschige Augenbrauen. Und auffallende Tränensäcke.
In den folgenden Monaten verbrachte ich unzählige Stunden im Polizeipräsidium und schaute mir Fotos von registrierten Bankräubern an. Es gab Tausende und Tausende. Man hätte meinen können, jeder Bankräuber ließe sich registrieren, bevor er loslegte. Das Verbrecheralbum war eine bebilderte Moritat von der Pionierzeit des Bankraubs in der Banco di Roma auf dem Forum Romanum bis heute. Doch mein Bankräuber war nicht dabei. Immer neue Fotos kamen hinzu. Aus aller Welt trafen Porträts von Bankräubern ein, mexikanischen, neuseeländischen, hawaiianischen, irischen, senegalesischen und finnischen. Meiner war nicht dabei.
„Wir dürfen nicht aufgeben“, sagte mein Kommissar immer wieder. „Jetzt haben wir schon so viele angeguckt, da wäre es Dummheit, wenn wir aufhörten, wir schauen die übrigen auch noch an.“ Das Jahr verging, das darauffolgende begann mit neuen Verbrecheralben. Nachts träumte ich von Galgenvogelgesichtern neben einer schwarzweißen Meßlatte und von edel gestylten Visagen über perfekten Krawattenknoten. Alle hielten ein Schild mit einer zwölfstelligen Registrierungsnummer vor sich hin.
Manchmal träumte ich von meinem Bankräuber. Dann nahm ich schnell einen Kugelschreiber und malte einen Rahmen um ihn herum wie eine Arrestzelle. Aber wenn ich morgens aufwachte, war er jedesmal entkommen. Hin und wieder träumte ich auch von dem Banküberfall. Ich stand im Schalterraum und suchte in meiner Handtasche nach den zwei Zehnmarkscheinen, die ich umtauschen wollte, da kam er herein und sagte laut und höflich: „Guten Morgen, mein Name ist Heimüller, Vorname Eugen, Eugen Heimüller. 42 Jahre alt, Familienstand ledig, Religion römisch-katholisch. Ich wohne in Kassel, Beethovenstraße 108, zweiter Stock links. Ich möchte bitte diese Bank ausrauben.“
Am 31. Dezember 2004 hielt ich es nicht mehr aus. Ich ging zu einem Hypnotiseur, Spezialgebiet XP, und bat ihn, mein Leben zwei Jahre rückzusetzen.
Er nötigte mich in den Behandlungsstuhl, klebte mir Elektroden an den Kopf und leuchtete mir mit einem Stablämpchen in die Ohren. Wann denn die letzte Systemprüfung gewesen sei, wollte er wissen, und ob ich alle Daten gesichert hätte. Ich gab genaue Auskünfte. Den Virenscan hatte ich regelmäßig vorgenommen, die Defragmentierung aber sträflich vernachlässigt. Er rüffelte mich milde. „Aber das machen alle“, murmelte er, „es ist immer dasselbe, immer dasselbe.“
Er ließ mich sein Lämpchen fixieren und nuschelte beruhigende Worte. Nach kurzer Zeit wachte ich heute morgen wieder auf.
Ich kaufte für das Silvesteressen ein und besorgte spanischen Sekt. In der Innentasche meines alten Wintermantels fand ich zwei Zehnmarkscheine und legte sie behutsam in den Kamin.
©Anna Rinn-Schad