Zaverristra auf dem Bücherberg

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Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
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Kapitel 1
Es begab sich der Tag, da Zaverrisstra nicht mehr allein auf seinem Bücherberg bleiben sollte.
„Flieht, Meister!“ Aus hohen Lüften tönte der Ruf seines Gefährten Geier, „viel umtriebiges Volk seh ich die Flanke besteigen!“

„Wehe Dir, rachsüchtige Schreiberlinge wollen Dich ans Kreuze schlagen!“ Zitterte Wurm, ehe er sich in eine tausendseitige Schwarte bohrte.
Doch Zaverrisstra las ungerührt weiter.
Eine erste Schar verwegener Gestalten erreichte den Gipfel, viele folgten und bald war jedes Buch besetzt. Noch immer saß Zaverrisstra in seine Lektüre vertieft, nicht achtend der tausend Augenpaare, die auf ihm ruhten. Endlich blätterte er die letzte Seite, schlug das Buch zu und warf es hinter sich. Da wagte einer zu sprechen: „Meister, wir sind gekommen, Deine Jünger zu sein.“

Verwundert sah Zaverrisstra sich um, als bemerke er erst jetzt die Menge um ihn, die ihn erwartungsvoll anblickte. Solche Narren, dachte er bei sich, wie sie vor mir knien, sich gar in den Bücherstaub werfen! Kleine Geister, schnell gewogen und zu leicht befunden! Widerwille bäumt sich in mir, solchem Pöbel die ätzende Feder zu lehren.
Doch Zaverrisstra wusste auch, dass er alt war, nur wenige Jahre blieben, ehe die zitternde Hand, die sie führte, vom Rad der Zeit zermalmt würde. Wer würde dann an seiner statt den Bücherberg nähren?
Laut aber sagte er: „Gleich Tausend auf ein Mal? Ungeheuer ist mir die Menge, ist sie auch würdig?“
Ein unwilliges Raunen ging durch die Reihen, Zaverrisstra hob die Hand, bedeutete zu schweigen. „Ich will euch den Wortbrei verkosten, ob eure Zunge empfindsam genug, die Mandel zu finden.
Also geschah es.


Am nächsten Tag nahm Zaverrisstra ein Blatt aus einer Mappe auf der sein Name geschrieben stand, gab es dem Nächsten und hieß ihn lesen. Mit offensichtlichem Ergötzen wollte dieser dem Meister gefallen, lobte mit Überschwang das geistreiche Stück. Doch Zaverrisstra schüttelte nur traurig den Kopf und schickte ihn fort. Der Folgende wollte klüger sein, trug deutlich Ekel während der Lektüre und warf sie dem Meister vor die Füße. Zornig wies Zaverrisstra ihn vom Bücherberg. So ging es viele Tage, bald so, bald so, bis alle tausend vertrieben waren.
Da setzte sich Zaverrisstra nieder und weinte bitterlich.

„So groß die Zahl, so klein die Geister! Soll dieser Bücherberg nach meinem Ende verlassen bleiben? Niemand der ihn weiter nährt? Zu Staub zerfallen, dass der Wind ihn verweht?“ Jammerte Zaverrisstra, auch Geier und Wurm vermochten ihn nicht zu trösten.



Kapitel 2


Als die Morgenröte Zaverrisstra aus traumlosem Schlummer weckte, war sein Geist kristallklar und heiter sein Gemüt.
Ei, sprach er, als er sich aufsetzte und den Schlaf aus den Augen rieb, was bin ich für ein törichter Narr! Suchte ich nach Schülern, die schon Meister sind! Ja, kann das Küken denn fliegen? Ward ich selbst als Weiser geboren? Wahrhaftig, ich bin ein alter Greis, der ich nicht erinnerte, dass auch mein Berg mit einem Buch begann!

Lachend schalt sich Zaverrisstra ob seiner Torheit und erhob sich von seinem Lager, die Schüler zu finden. Nicht länger Meister suchend, eilte er, seine Gefährten zu wecken.

Geier war schon fort, das Lamm zur Morgenspeise holen. Doch Zaverrisstras Schlag auf den Buchdeckel riss Wurm in seinem papiernen Bett aus bösem Alb, er hatte am Vortag schwere Kost genossen.
„Welcher Trübsinn schaut da aus dem Loch,“ verspottete ihn der Meister. „Lockst Du mir mit Melancholie die Adepten? Ach ich fürchte, dafür mangelt es Dir an Feinheit des Ausdrucks, werden die Lehrlinge doch kaum After und Mund zu unterscheiden wissen!“

Darüber kam Geier zurück, in seinen Krallen einen Beutel.
Schon von weitem rief er: „Eine Morgengabe bring ich Euch!“
Verwundert öffnete Zaverrisstra den Beutel, der war angefüllt mit feinen Kuchen und frischen Früchten. Da klopfte er sich vergnügt auf die Schenkel, tanzte und sang:

„Die Nebel steigen
der Tag hat begonnen
Aurora grüßt mich:
Erkenntnis gewonnen!

Bauch sei still!
Auch Du sollst bekommen.
Sind Zaverrisstra
die Gönner heut’ wohl gesonnen!

An Leib und Seele gelabt
Mag der Tag ruhig kommen!
Macht mich das Glück
jetzt schon benommen!

Also sang Zaverrisstra.

Kapitel 3


Seine Wanderung nicht mit träger Sattheit zu beschweren, aß Zaverrisstra von jedem eines und gab den Rest in den Beutel, tat hinzu die leichte Rüstung aus abgerissenen Buchdeckeln, auch sein Festkleid aus gelungenen Rezensionen, mit erlesenen Sentenzen vernäht.
Als Zaverrisstra den Beutel verschließen will, hielt er plötzlich inne. Still lächelnd erinnerte er sich der Wärme unter den Menschen und legte obenauf noch ein leicht Gewand aus dünnen Manuskriptfahnen. Sodann gürtete er seinen Leib mit Fortsetzungsromanen, steckte das Tintenhorn hinein, seine spitzesten Federn dazu.

Den Beutel umgehängt, sah Zaverrisstra zum Abschied nach den Gefährten. Geier breitete zum Gruß die Schwingen, doch nirgends fand er Wurm. „Gewiss irrt er in parallelen Handlungssträngen,“ sprach der Reisebereite zu sich. „Doch soll mich Sorge halten? Gewiss auch, dass Wurm nichts unverdaulich, fraß sich noch in jedem Werk zum Ende, wo Ekel mich lang speien ließ. Treuer Tischgenosse!“
So lobte Zaverrisstra den Wurm.

Am Rande der Gipfelebene begann er den Pfad zu den Menschen suchen, doch so sehr Zaverrisstra auch spähte, fand er nur steile Klüfte aus schroffen Formulierungen und das lose Geröll geschriebener Belanglosigkeiten. So wanderte er den Abgrund entlang, bisweilen einen Steig versuchend, der stets zur Umkehr zwang.
Der Abendwind blätterte die Seiten zu seinen Füßen, da er schließlich die Runde vollendet, ohne den Weg zu den Menschen zu finden.
Müde sank Zaverrisstra auf einen Stapel Heftromane.
„Siehe, Zaverrisstra, wie meisterlich Du Dir Deinen Kerker errichtet! Kunstvoll Buch auf Buch getürmt, was gut und haltbar schien. Edles zum Thron geschichtet, Dich zum Olymp zu erheben. Auf Wort und Silbe jeden Band gewogen, nur Urgestein erwählt. Schlugst mit dem Hammer an, lauschtest auf Klang und Güte. Was zerbrach? Warfst Du zur Seite.
Fürwahr, Babel ist vollendet, nur schuf ich statt des schlanken Turmes einen Berg aus Schund!“
Also klagte Zaverrisstra sich an.

Kapitel 4


Kein Mond und keine Hoffnung erhellte Zaverrisstras Nacht und als er sich niederlegte, floh ihn lang der Schlaf, ehe er in schwerem Traum versank:
Er, auf seinem Bücherthron, Geier harrend, der noch auf Jagd nach der Lektüre, als ungeheurer Schatten die Sonne verfinstert. Es braust und stürmt um ihn, dass Seiten, ganze Bände fliegen, will ihn vom Throne fegen. Unbändig die Angst im Herzen, klammert und krallt Zaverrisstra mit Händen, mit Füßen, fast wird er fortgeweht.
Mit einem Male – Stille.
Vor ihm steht ein gewaltiger Drache, die papiernen Flügel faltend. Wie Donnerhall klingt des Lindwurms Stimme:
„Zaverrisstra, was fürchtest Du mich? Bring ich dir doch was du begehrst, mit einem Mal so viel als Geier in tausend Jahren.“ Sodann schüttelt der Drache sich, dass Schuppen, die Bücher sind, stieben und als bunter Schnee hernieder schweben. Nicht enden will der bunte Taumel, wie Frühjahrsschmelze in enger Schlucht steigt es Zaverrisstra am Leibe empor, kaum dass er sich auf seinen Thron retten kann.
„Halt ein, Maßloser!“ ruft er, von Entsetzen geschüttelt. „Willst du mich im Papier ersäufen wie eine Ratte im Eimer?“
Tatsächlich hält das Untier inne. Verwundert schaut es auf Zaverrisstras Angst herab, die sich jetzt zum Zorne wandelt.
„Siehe, was Du angerichtet!
Begraben ist mein Schatz, den ich so mühevoll geborgen aus Haufen tauben Schundes!
Fortgespült das feine Gold, das ich in Lebensjahren aus gelbem Sand gewaschen!
Zerrieben meine Perlen, für die ich manche Muschel brach!
Was treibt dich um, dass du mit deinem Hagel meine Ernte so zerschlägst?“
Also zürnt Zaverrisstra furchtlos dem Drachen, nicht achtend Größe und Kraft des Zerstörers. Was gilt ihm noch sein Leben, da ihm sein Werk genommen!

Doch Drache zeigt nur arglos Staunen. „Was? Zaverrisstra hängt an altem Plunder? Bringt die Tage damit zu, seine Perlen zu zählen und das Silber zu putzen? Ist er gar ein Buchhalter geworden, der die Moden nicht kennt?“

Darob erzürnt Zaverrisstra noch mehr. „Was redet er von Moden! Kein Gewand kann ein geschwollen Gedicht schöner kleiden, mag der Schneider noch so zieren!
Nie hat ein Beinkleid humpelndem Fortschritt zum Galopp verholfen!
Als wenn dürre Worte ein üppig Ballkleid füllen könnten! Was interessieren mich die Rüschen, will ich doch vom Busen kosten!“

Mit bebender Hand greift Zaverrisstra in die Büchermasse, bald hier nimmt er eines, bald dort, sieht es an und wirft es fort.

„Meist gelesen! Best verkauft! Unvergesslich! Höchste Spannung! Das Beste was er je geschrieben! Exzellente Unterhaltung! Brillantes Werk!
Wie sie täuschen und trügen, den hohlen Geschichten Perücken überstülpen und dem leeren Gesicht mit Rouge einen Ausdruck geben!“

Das Untier scheint betrübt, dass sein Geschenk so wenig willkommen: „Gewiss ist auch manch Wohlgestalt dabei, geistvoll, mit Wangen von warmem Blut gerötet.“

Als Zaverrisstra die gut meinende Unschuld des Frevlers erkennt, schwindet sein Zorn.

„Gut war sicher dein Willen, doch maßlos hat ihn dein Eifer gewuchert, ein Geschwür, das ich bei Menschen stets floh. Wie ist dein Name, Totengräber meiner Hoffnungen?“

Der Drache antwortet: „Frankfurt nennen mich jene, die mich jedes Jahr willkommen heißen, um in meinem Überfluss zu baden.“

Da erwachte Zaverrisstra von seinem Alb, den zitternden Leib von Schweiß bedeckt.

Kapitel 5


Mit bebender Hand fuhr der Angstgebadete sich über Gesicht und Augen, das Traumgespinst zerreißend:
„Welch Mahr hat mich mit unerbittlichem Zügel in solchen Höllenpfuhl gelenkt? Grausam schlug der Reiter mir die Sporen in die Flanken, ließ mich den scharfen Biss der Peitsche spüren, nur vorwärts, ins Inferno!“
Als Zaverrisstra sich erhob, die letzten Weben zu verscheuchen, sah er im dunklen Grau der Tag gebärenden Nacht gelben Fackelschein über die Bücherkante kriechen.

„Wie! Kaum bin ich dem Schuppentier entronnen, schleicht neues Unheil sich den Berg herauf?“ Denn er dachte sich, auf leisen Sohlen zur Diebesstunde konnte dies kaum redliche Visite sein und trat entschlossen an den Rand, dem Fährnis zu wehren. Noch verbarg sich die Quelle des Schimmers unter einer Klippe aus Arztromanen, gerade so tief, als ein Mann greifen kann. Kaum erschien der brennende Span, hob Zaverrisstra den Fuß, bereit zum tödlichen Stoß – und hielt inne.
Eines Menschen Hand führte den Span, daran ein Arm, der in Schultern mündete, darauf ein Kopf, voll Schrecken alles aufgerissen. „Zaverrisstra, halt ein!“ Schrie es aus Mund des Kletterers.

Jener aber tat also und senkte den Streitfuß zu Boden. Blasen stiegen ihm vom Zwerchfell auf, brachen sich als herzliches Gelächter Bahn, als er dem unbekannten Steiger den Arm zur Hilfe bot.

„Verzeih mir altem Toren! Böse Träume gaukelten Bedrohung, dass ich bald den taumelnden Sturz gelehrt, statt des unerbittlichen Lesens, das zu lernen du gewisslich dies Wagnis unternommen!“

Dem Unbekannten fuhr, kaum dass er die Ebene erstiegen, das überstandene Grausen in die Glieder. Schwach und bleich sank er auf einen Stapel Perry Rhodan, der von Zaverrisstra einst liebevoll geschnürt, später verurteilt, dann begnadigt, Asyl am Rande des Bücherberges erhielt. Er fiel ein, doch nicht Verstehen trug seine unbändige Heiterkeit: die Todesangst floh ihn brüllend.

Also lachten Retter und Geretteter, der ein jeder war, wie Knaben über einen Kinderscherz, bis die Höhe des Bücherberges ihnen den Atem nahm.

Kapitel 6


Es ging eine gute Weile, ehe sich beide ausgelacht und Zaverrisstra mit Tränen auf den Wangen und glucksender Stimme den Namen des nächtlichen Besuchers erfrug.

Da richtete sich der Fremde auf, strich sich den Scheitel gerade, warf sich in die Brust und antwortete mit stolzem Blick:
„Beckmesser nennt man mich dort unten, ein Name den ich redlich mir verdient!“

Im Stillen seufzte Zaverrisstra, als er es vernahm. War dies sein Schüler? Ein Erbsenzähler, Haarespalter, Satzsezierer? Tausend genügten mir nicht zur Wahl, jetzt muss ich diesen oder keinen nehmen!

Laut aber sprach er: „Du bist mir ein willkommenes Gefäß, Beckmesser! Von Herzen gern will ich deinen staubigen Trog aus meiner Weisheit Quelle füllen, verschwendete sich ihr Überfluss doch allzu lange in leblosem Wüstensand!“

Seltsam schaute der so Geladene bei diesen Worten, sprang auf und warf seinen Ranzen ab. Sanft fasste er Zaverrisstras Arm und beugte sich zum Greis herab.
Er erwiderte behutsam, als wie er zu einem Kinde oder Verwirrten spräche:
„Das Anerbieten weiß ich wohl zu schätzen, doch habe ich genug studiert. In Semestern ohne Zahl wurde ich aller Stile und Epochen kundig, lernte Analyse und Synthese, Worte zählen, Sätze wiegen, bis ich, nach langen Jahren für mein eigen Werk den Doktorhut erhielt.“

Alsdann griff er in den Ranzen und zog, mit Fanfarenstimme den Titel kündend, ein Buch hervor:

„ Über den Einfluss des Siegfried-Mythos auf die moderne Comic-Literatur, beispielhaft untersucht an der ‚Supermann’-Reihe.“

Wie Blei wog es in Zaverrisstras Händen, als er es ihm reichte.

„Nicht zu lernen bin ich gekommen,“ fuhr der Studierte fort, „dies trefflich Werkzeug Euch zu bringen, erklomm ich, unter mancherlei Strapazen, den Berg, trotz Schwindels, der mich regelmäßig in der Höhe plagt. Ohne solches, des bin ich gewiss, kann Kritik nicht gut gedeihen, auch auf dem Bücherberge nicht!“

Ob diesem Geistesriesen womöglich vor der eigenen Größe schwindelt? Zaverrisstra dauerte der Geistgeleerte, der unter dem Talar ein Zwerg auf Stelzen war.

Listig sprach er: „Recht gesprochen, was wären meine tumben Hände ohne solche Zangen? Kaum des Blätterns fähig! Und schwierig die Materie! Manch Gerät zerbrach daran.“
Und mit bittender Gebärde: „Ob Beckmesser mir wohl neues, besseres schaffen kann?“

Ein Strahlen zog über des Gelobten Antlitz, eifrig sprang er an den Rand und rief, im Abstieg schon: „ich eile, Meister, die Esse heizen, das Gerät zu schmieden!“
An der Klippe hängend hielt er nochmals inne: „Aber Jahre brauch ich doch, kann Zaverrisstra sich gedulden?“

„Geh nur,“ winkte Zaverrisstra ihn davon, „Ich kann derweil ja dieses nutzen.“

Auch ein Weiser muss sich mal den Hintern putzen, fügte er im Geist hinzu.

Kapitel 7


Darob, vielleicht vom schallenden Gelächter, war der Tag erwacht und brachte Zaverrisstra neue Zuversicht.
„Nun,“ sprach er zu sich, „mag dieser Abstrahierte als Werkzeugmacher auch wenig tauglich, als Wegbereiter hilft er mir. Trugen die Stufen, welche er in den Schund geschlagen, solch analytisch Schwergewicht ohne klagen, wird mein leichter Tritt sie kaum zerbrechen. Wie sorgsam jeder Stolperband geräumt! Ob dieser Zangenzeuger als Pflasterer und Metz im Steilen seine wirkliche Berufung fand?“

Dem Bücherklopfer einen tüchtigen Vorsprung zu geben, setzte sich Zaverrisstra unter einen Ereignisbaum, der – Triebkraft des Lebens! – aus staubtrockenen Schulbüchern wuchs, zog er es doch vor, allein zu reisen. Nachdem er ausgiebig den Gönnergaben zugesprochen, sank er gegen den knorrigen Stamm, der, von Kargheit gestählt, seinem matten Rücken feste Stütze bot.
Schläfrig zogen die Gedanken durch Zaverrisstras Firmament, bauschten sich und ballten, türmten Phantasiegestalten und zerflogen, flüchtig als wie Nebelschwaden.
Jahr um Jahr hatte der Weise auf dem Berg verbracht, allein mit den Gefährten, ungestört. Kein Stein, der seinen Spiegel krauste, kein Haken, der aus seinem Feuer Funken schlug. Geier brachte Scheite, Wurm half Asche fegen, dieweil er selbst die Flammen nährte, die ihm gelbe Wärme gaben.
Dann klopften Tausend an, begehrten einen Platz am Herd. Mit ihnen kam der Wind herein, scheuchte die trägen Lichter, dass hell lodernd die Beschaulichkeit verbrannte. Da ward die Lunte der Vergänglichkeit gezündet und nun trieb ihn die eilende Glut, einem Fackelträger die heilige Flamme reichen, ehe sie von seinem Leichentuch erstickt.

Gleichwohl nicht weiter als einen Dudenwurf gekommen, dünkte ihn, dass Tag und Traum ihn ein gutes Stück des Weges gebracht:
Hatte er doch den Umfang seines Wirkens abgemessen, was ihm die Beschränktheit Zaverrisstras offenbart.
Und zugleich die Grenzen zeigte, die es zu überschreiten galt.

Ein schreckliches Gesicht der Welt, die er nun suchte, war ihm das Schuppentier, das vom Mahren Zaverrisstra nächtens zugeführt.
Doch des Drachen Stentorstimme weckte auch den Kampfgeist, der wohlig träge hinterm Ofen lag.

Gering war Zaverrisstra das Geschenk des Verbildeten erschienen.
Und ward es nicht geadelt durch des Schenkers breite Bahn?

Da erkannte Zaverrisstra, dass ein Jegliches im Leben, oft scheu versteckt, seinen eigenen Nutzen hat und sprach zu sich: „Fortan will ich eifrig spähen, mir dies heimliche Wild zu fangen, dass es mir Zehrung für die Wanderung sei und sein warmer Pelz mich kleide!
So eine Reise gleicht wahrlich einem Lehrvertrag bei Meister Leben!“

Also sann Zaverrisstra, dieweil Kopf und Bauch einträchtig verdauten.

Kapitel 8


Die Sonne war hoch gestiegen, dass sein Schatten sich unter ihm verbarg, als Zaverrisstra endlich aufsprang.

„Zeit ist es, Zaverrisstra!“ rief er sich reckend, streckend, Glieder dehnend, selber zu. „Genug gewogen und sortiert! Leib und Seele sind getrimmt, nun gilt die Reise.“
Gleich wie er einen Anker hieve, hob er den Beutel und stieg, den Mantel zum Segel gebläht, mit kühnem Entdeckerblick von seiner Reede. Mit fliegenden Schritten – es ging bergab – tanzte er auf Bücherstufen, die ihm Wellen waren und freute sich der weißen Kronen, die der günstige Wind eifrig blätterte.
Unbekümmert trieb Zaverrisstra sein fröhliches Spiel in kindlicher Freude, denn die Last der Würde ward ihm lange schon von der Weisheit genommen, als er, gerade um eine Biegung segelnd, voraus eine Gestalt erkannte, die auf seinem Kurs vor Anker lag.

„Schiff ahoi!“ grüßte sie der Weltenfahrer, ganz in seiner Phantasie gefangen, wunderten ihn die Netze nicht, die den fremden Schiffer zieren.

„Schiff ahoi,“ klang es zaghaft wieder, hörbar wunderlich über diesen irren Alten.

„Welche Gestirne führten Dich ins Meer der Bücher, netzbehangen diesen Wellenberg erklimmen?“ Sich nähernd reffte Zaverrisstra Segel, „willst Du statt Fischen Dir Lektüre fangen?“

Da gab ihm der Fremdling einen tränenfeuchten Blick: „Verspotte nur den tumben Fischer, Spott bin ich gewohnt! Meine Kameraden begossen mich auf unseren Fahrten mit manchem Lästerkübel, weil ich statt Tauen Handlungsstränge spliss, statt in Marlins Eingeweiden zwischen Zeilen las.
Meine Kost war karg: die zwei Dutzend Bücher aus des Pfarrers Schrank las ich wohl hundert Mal und wöchentlich drei Blatt Inselbote und immer blieb ich hungrig. Endlich fuhr ich, das Land zu suchen, wo Lyrik und Prosa fließen, von unserem Eiland weit über Ozeane, dann, den Lachsen gleich, Strom und Fluss hinauf. Und wie sich meine Netze füllten!“

Ein Leuchtfeuer der Erinnerung huschte über Fischers Gesicht, ehe er in dunkler Trauer weiter sprach:

„Romane und Novellen, Fabeln und Sagen, Tagebücher und Biographien, Epen und Gedichte, in solcher Vielfalt und Zahl, dass sie schier zu reißen drohten, ich unter der Last beinahe versank. Wie eine Sturzflut brach es über mich, unterspülte mir strudelnd die Vernunft, die fast in den Wahnsinn stürzte.“ Heiße Tränen stockten seine Rede.

Dann stieß er, vom Seelenkrampf geschüttelt, hervor: „ Da warf ich alle Bücher fort.“

Kapitel 9

Einer Sturmböe gleich wollten diese Worte Zaverrisstras Ärger blähen, doch im Angesicht der Verzweiflung raffte sein Gemüt zusammen. Also setzte er sich auf die roten Buchclubleinenstufen und sprach, den Kummervollen tröstend mit dem Arm umfangend: „Ruchlos war Dein Tun, Bücherschänder. Doch ehrt Dich Dein Gewissen, das Dich mit Spießen und Steckenhieben zum Bußgang auf den Bücherberg gejagt. Wenn mich auch Dein Schmerz nicht dauert.

Schlag fester, rufe ich dem Gewissen zu! Ziere seinen Rücken mit einem gekreuzten klaffend roten Muster und gib tüchtig Salz hinein!
So ist meine Barmherzigkeit.

Bohre in sein Innerstes, Gewissen! Bis in die Frevelwurzel senke Deinen Stachel und kralle Dich mit Widerhaken!
So ist meine Gnade.

Brenne ihn! Spritze ätzende Säure aus Deiner Blase tief in seine Seele, dass sie rauchend dies Geschwür auffrisst!
So ist mein Verzeihen.“

Unter des Weisen Unerbittlichkeit gekrümmt, erwiderte des Fischers schwache Büßerstimme: „Grausam ist Zaverrisstras Richterspruch, doch beuge ich mich der verdienten Sühne.“

Laut lachte Zaverrisstra auf: „Richterspruch? Verdiente Sühne? Was redest Du mir vom Richten und vom Sühnen! Ist es neuerdings unter den Menschen Sitte, die Siechen auf ein Rad zu flechten?
Was Dir ein Urteil scheint, ist Rezeptur, den Krebs zu tilgen, soll den Todgeweihten retten.

Ein vertrauter Feind ist mir diese Wucherung, Ausgeburt des Überflusses, die sich so klein und zart im Gemüt einnistet, heimlich schwellend das Gedärm umschlingt, Sattheit gaukelt auch nach kleinstem Happen, dieweil der Geist vor Hunger schreit. Leicht Verdaulichem gewährt er zunächst Passage, bald jedoch verschließt er Dich mit erdrückender Masse:

Der Überdruss!“

Aufgesprungen, stand Zaverrisstra reckengleich am Abgrund, rief mit grimmgefurchter Stirn des alten Widersachers Namen in den Wind.

„Auch mich hat er einst mit seiner trügerischen Fülle zum Sterben ausgehungert. Schon lag ich, mit schwellender Leere angefüllt, auf meinem Lektürehügel, zu schwach, mich selbst zu nähren.

Als mich Geiers Schatten küsste.

Mich bäumend unter der Kadavergier des Vogelblickes krallte ich in die Überfülle, jedoch vergeblich schlingend: eitergelber Ekel würgte aus dem Überdruss den Schlund empor und schwemmte Halbzerkautes aus dem sauren Mund.

Tiefer zog Geier seine Kreise, fast streiften mich seine Schwingen.
Ich tobte, fluchte diesem Todesengel!
Der geduldig meiner Schwäche harrte.
Oh, wie der Hunger in mir brannte!
Sinnlos wurde mir mit einem Male meine matte Wehr, die doch nur meine Pein bewahrte, so lud ich endlich Geier zur Atzung an mir ein, dass beide nicht länger Hunger litten: Er erhörte mich.“

Zaverrisstras Blick brachte aus vergangener Ferne ein Lächeln mit, das er dem gebannten Lauscher schenkte.

„Gellend schrie ich meine Qual hinaus, als sein scharfer Schnabel reißend in mich fuhr, doch der Chirurg grub ungerührt mit tiefen Hieben nach der Wucherung und fraß den Krebs mit Wohlbehagen. Er tilgte gründlich, putzte die Wunde blank, bis ich roh und makellos pulsierend vor ihm lag.

Also heilte Geier Zaverrisstra.“

Das Strahlen Zaverrisstras lockte Hoffnung in die gedrückte Dunkelheit des Überdrossenen, erhellte zaghaft sein Gesicht.

„Wenn ich solchen Wundarzt fände,“ stieß er hervor.

„Was jammerst Du noch länger? Auf den Büchergipfel! Dort findest Du den Tumorphagen und gewählte Kost, die dem wunden Geist hernach die Kraft zu Heilung gibt.“

Nachdem er dem Siechen so den Steig gewiesen, eilte Zaverrisstra weiter talwärts, wo die Welt sehnend seiner harrte – ohne es zu ahnen.
 



 
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